Sozialgericht Hannover
Beschl. v. 14.04.2015, Az.: S 70 AS 1178/15 ER

Anspruch eines bulgarischen Staatsangehörigen auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
14.04.2015
Aktenzeichen
S 70 AS 1178/15 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 15644
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:2015:0414.S70AS1178.15ER.0A

Redaktioneller Leitsatz

Der Rechtsbegriff "Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" im Sinne des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II ist verfassungskonform unter Berücksichtigung dessen auszulegen, dass das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zusichert, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu.

Tenor:

Dem Antragsteller werden vorläufig Leistungen nach dem SGB II vom 02. April bis zum 30 September 2015 in Höhe von 759,00 Euro monatlich gewährt. Diese Anordnung gilt bis zur Entscheidung in der Hauptsache. Die vorbenannten Zahlungen unterliegen gegebenenfalls der Rückforderung vom Antragsteller. Die Kosten des Rechtsstreits, insbesondere die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Antragstellers sind vom Antragsgegner zu erstatten.

Gründe

I. Der Antragsteller begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Gewährung von Leistungen nach dem SGB II seit dem 02. April 2015. Der Antragsteller ist bulgarischer Staatsangehöriger. Er ist verheiratet. Seine Ehefrau lebt weiterhin in Bulgarien. Er hält sich jedenfalls seit dem 21. August 2013 im Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland aus. Das Arbeitsverhältnis aus dem Arbeitsvertrag vom 21. August 2013 endete aufgrund der Kündigung der E. vom 04. März 2014 mit Wirkung zum 18. März 2014. Vom 09. April bis zum 16. Mai 2014 war der Antragsteller vollschichtig bei der F. abhängig beschäftigt. Aufgrund seines Antrags vom 13. März 2014 bezog der Antragsteller zunächst Leistungen nach dem SGB II vom Beklagten. Zeitweise befand der Antragsteller sich in Obdachlosigkeit. Mit Beschluss vom 20. Oktober 2014, Az. S 74 AS 4568/14 ER verpflichtete das Sozialgericht Hannover den Antragsgegner, dem Antragsteller vorläufig, unter Vorbehalt der Rückforderung, ab Oktober 2014 bis zur Entscheidung der Hauptsache, längstens jedoch für 6 Monate, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren. Daher gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller aufgrund seines Antrags vom 21. Oktober 2014 Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01. Oktober 2014 bis zum 31. März 2015 vorläufig in Höhe von 391,00 Euro monatlich. Mit Änderungsbescheid vom 22. November 2014 gewährte der Antragsgegner dem Antragsteller Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01. Januar bis zum 31. März 2015 in Höhe von 399,00 Euro monatlich. Nachdem der Antragsgegner mit Bescheid vom 09. Januar 2015 dem Antragsteller den Umzug in die Wohnung G. zugsichert und die Mietsicherheit darlehensweise übernommen hatte, unterschrieb der Antragsteller am 09. Januar 2015 den Mietvertrag mit H ... Danach beträgt die Miete monatlich 324,00 Euro zzgl. einer Heizkostenpauschale in Höhe von 36,00 Euro. Die Miete sowie die Mietsicherheit müsse direkt vom Amt auf das Konto der Vermieterin überwiesen werden. Die Mietsicherheit belaufe sich auf 360,00 Euro. Das Vertragsangebot lag dem Antragsgegner bei der Zusicherung vor. Mit Bescheid vom 24. Februar 2015 lehnte der Antragsgegner die Übernahme der Mietsicherheit hingegen ab. Mit Schreiben vom 10. März 2015 erklärte die Vermieterin die fristlose Kündigung. Mit Beschluss vom 24. März 2015, Az. S 70 AS 1178/15 ER, gab das Sozialgericht Hannover den Antragsgegner auf, den Regelleistungsbetrag für März 2015 in Höhe von 399,00 Euro vorläufig an den Antragsteller zu zahlen, an die Vermieterin des Antragstellers den Betrag für die Mietsicherheit in Höhe von 360,00 Euro schuldbefreiend für den Antragsteller zu zahlen und gewährte dem Antragsteller vorläufig Kosten der Unterkunft in Höhe von 360,00 Euro monatlich vom 01. Januar bis zum 31. März 2015. Mit Weiterbewilligungsantrag vom 19. Februar 2015 beantragte der Antragsteller beim Antragsgegner die Fortgewährung von Leistungen nach dem SGB II. Mit Ablehnungsbescheid vom 24. Februar 2015 lehnte der Antragsgegner den vorbenannten Antrag ab. Die Entscheidung beruhe auf § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II. Mit dem am 02. April 2015 eingegangen Antrag verfolgt der Antragsteller sein Begehren einstweilen gerichtlich fort.

Der Antragsteller beantragt sinngemäß,

ihm vorläufig Leistungen nach dem SGB II seit dem 02. April 2015 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner ist der Ansicht, dass der Antragsteller gem. § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen sei. Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte Bezug genommen. II. Der gem. § 86b Abs. 2 SGG zulässige Antrag ist auch begründet. Der Antragsteller hat sowohl Anordnungsgrund als auch Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. An der Leistungsberechtigung des Antragstellers ergeben sich dem Grunde nach keine Zweifel. Die Kammer schließt sich insoweit den Beschlüssen des Sozialgerichts Hannover vom 20. Oktober 2014, Az. S 74 AS 4568/14 ER, und 24. März 2015, Az. S 70 AS 945/15 ER, an. 1. Die Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II liegen bei dem Antragsteller vor. Der Antragsteller ist nicht gem. § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II vom Leistungsbezug ausgeschlossen. Insbesondere liegen nicht die Voraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II vor. Danach besteht ein Ausschluss für Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt. Dies ist bei dem Antragsteller nicht der Fall. Der Rechtsbegriff "Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitsuche" ist verfassungskonform auszulegen. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 09. Februar 2010, Az. 1 BvL 1/09, 1 BvL 3/09, 1 BvL 4/09, www..de, Leitsatz 1 sichert das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, Az. 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11, BVerfGE 132, 134 - 179, ferner www..de, Leitsatz 2, garantiert Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (vgl. BVerfGE 125, 175); Art. 1 Abs. 1 GG begründet diesen Anspruch als Menschenrecht; er umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben. Das Grundrecht steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Da der Antragsteller sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland aufhält, ist sein Existenzminimum zu sichern. 2. Es liegt auch kein Fall der bloßen und von vorn herein beabsichtigten unangemessenen Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen vor. Ließe man zu, dass Personen, denen kein Aufenthaltsrecht nach der Richtlinie 2004/38 zusteht, unter den gleichen Voraussetzungen wie Inländer Sozialleistungen beanspruchen könnten, liefe dies dem in ihrem zehnten Erwägungsgrund genannten Ziel zuwider, eine unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats durch Unionsbürger, die Staatsangehörige anderer Mitgliedstaaten sind, zu verhindern (EuGH, Urteil vom 11. November 2014, Az. C-333/13, www..de, Rn. 74). Demgegenüber hat der Antragsteller hier bereits mehrere abhängige Beschäftigungen inne gehabt. 3. Der Antragsteller ist möglicherweise noch nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU aufenthaltsberechtigt. Danach sind unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Dies kann aber dahinstehen, da der Antragsteller mangels eines Feststellungsbescheids der Ausländerbehörde nicht ersichtlich ausreisepflichtig ist. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger oder ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig, wenn die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. 4. Der Regelsatzanspruch ergibt sich aus § 20 SGB II. 5. Der Anspruch auf Kosten der Unterkunft in Höhe von 360,00 Euro monatlich ergibt sich aus § 22 Abs. 1 S. 1 SGB II. An der Angemessenheit der Kosten der Unterkunft ergeben sich keine Zweifel, zumal der Antragsgegner dem Umzug mit Bescheid vom 09. Januar 2015 zugestimmt hat. Nach dem Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 26. März 2015, Az. S 70 AS 3823/14, www..de, Leitsätze, ist bei der Erstellung eines Schlüssigen Konzepts (zur Bestimmung der Angemessenheit i.S.d. § 22 Abs. 1 Satz 1 SGB) ist die Kappungsgrenze regelmäßig in Höhe des ortsüblichen Marktpreises (z.B. Durchschnittswert des Mietspiegels) festzusetzen. Eine Kappungsgrenze unterhalb des ortsüblichen Marktpreises bedarf einer fundierten Auseinandersetzung mit der Zusammensetzung des lokalen Mietmarkts (Fortführung von Bundessozialgericht, Urteil vom 19. Oktober 2010, Az. B 14 AS 50/10 R, www..de, Leitsatz 2 und Rn. 32; Landessozialgericht Niedersachsen Bremen, Urteil vom 03. April 2014, Az. L 7 AS 786/11, www..de, insbesondere Rn. 61 ff). Wird der Durchschnittswert des Mietspiegels angewandt, kann davon ausgegangen werden, dass es in ausreichendem Maße Wohnungen zu diesem abstrakt angemessenen Quadratmeterpreis im örtlichen Vergleichsraum gibt (Fortführung von Bundessozialgericht, Urteil vom 13. April 2011, Az. B 14 AS 106/10 R, www..de, Leitsatz). Nachdem die 70. Kammer mit Entscheidungen der vom 22. Januar 2015, Az. S 70 AS 5581/14, S 70 AS 4804/14, S 70 AS 4258/13, S 70 AS 2053/13, und vom 26. März 2015, Az. S 70 AS 3819 bis 3823/14, von der Rechtswidrigkeit der Mietwerterhebung des Antragsgegners 2013, Vergleichsraum I., ausgegangen ist, erweisen sich für den Antragsteller als Einzelperson bei einer Wohnfläche von 50 m2 Kosten der Unterkunft bis zum durchschnittlichen Marktpreis in Höhe von 385,50 Euro als angemessen. III. Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG.