Sozialgericht Hannover
Beschl. v. 24.08.2015, Az.: S 70 AS 1893/15 ER

Bibliographie

Gericht
SG Hannover
Datum
24.08.2015
Aktenzeichen
S 70 AS 1893/15 ER
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 26179
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:SGHANNO:2015:0824.S70AS1893.15ER.0A

Tenor:

Den Antragstellern zu 1. bis 5. werden vorläufig Leistungen nach dem SGB II vom 28. Mai bis zum 23. Juli 2015 gewährt. Sämtlichen Antragstellern werden vom 24. Juli bis zum 30. September 2015 vorläufig Leistungen nach dem SGB II gewährt. Dabei sind die Kosten der Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe, das Kindergeldeinkommen der Antragsteller zu 2. und 3. in Höhe von jeweils 184,00 EUR monatlich, der Antragstellerin zu 4. in Höhe von 190,00 EUR monatlich und der Antragstellerin zu 5. in Höhe von 215,00 EUR monatlich und ab dem 10. Juli 2015 das Erwerbseinkommen des Antragstellers zu 6. in Höhe von 953,30 EUR (brutto) monatlich (abzüglich der Freibeträge) zu berücksichtigen. Dem Antragsgegner wird nachgelassen, die Kosten der Unterkunft und Heizung direkt an die Landeshauptstadt Hannover zu leisten. Dem Antragsgegner wird ferner nachgelassen, den sich aus diesem Beschluss ergebenden Nachzahlungsbetrag zunächst an die Landeshauptstadt Hannover zur Befriedigung der offenen Wohnungsgebühren zu leisten, soweit gemäß § 43 SGB II die Aufrechnung zulässig wäre. Diese Anordnung ist aufschiebend bedingt auf die bestands- oder rechtskräftige Entscheidung in der Hauptsache. Die Kosten des Rechtsstreits sind vom Antragsgegner zu erstatten.

Gründe

I.

Mit dem Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes begehren die Antragsteller zu 1. bis 5. die vorläufige Gewährung von Leistungen nach dem SGB II seit dem 01. April 2015. Der Antragsteller zu 6. ist der Rechtsstreitigkeit am 24. Juli 2015 beigetreten.

Die am 03. März 1986 geborene Antragstellerin zu 1., der am 24. September 1989 geborene Antragsteller zu 6. sind verheiratet. Sie und deren Kinder, die am 29. November 2008 geborene Antragstellerin zu 2., der am 03. Dezember 2009 geborene Antragsteller zu 3., die am 30. September 2011 geborene Antragstellerin zu 4. und die am 28. Mai 2014 geborene Antragstellerin zu 5., sind rumänische Staatsangehörige. Die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 6. haben in Rumänien in Gärtnereibetrieben gearbeitet und der Antragsteller zu 6. ferner als Landwirtschaftshelfer. Ihr Einkommen in Rumänien in Höhe von 100,00 EUR monatlich hätte zur Unterhaltssicherung nicht gereicht.

Ausweislich der Anmeldebestätigung der Landeshauptstadt Hannover vom 24. Oktober 2013 leben die Antragsteller sei dem 21. Oktober 2013 in der Bundesrepublik Deutschland unter der Wohnanschrift F. in G ... Nach dem Vermerk über einen persönlichen Kundenkontakt vom 31. März 2014 ist auch der Antragsteller zu 6. bereits am 21. Oktober 2013 in die Bundesrepublik Deutschland eingereist.

Die Antragsteller sind ursprünglich zum Zwecke der Arbeitsuche nach Deutschland gekommen. Trotz Suche nach Arbeit hätten die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 6. keine Arbeit gefunden. Die Antragstellerin zu 1. habe drei kleine Kinder zu versorgen. Da die Kinder nicht betreut seien, sei es für sie aussichtslos eine Arbeit zu finden. Der Antragsteller zu 6. habe in seinem rumänischen Bekanntenkreis immer wieder nach Arbeitsmöglichkeiten gefragt. Eine Kontaktaufnahme zu deutschen Ämtern sei aus sprachlichen Gründen unmöglich gewesen.

Mit Zuweisungs- und Gebührenbescheid vom 03. März 2014 stellte die Landeshauptstadt Hannover den Antragstellern ab dem 21. Februar 2014 die Unterkunft F. in G. zur Verfügung. Für die Nutzung der Unterkunft sei eine Gebühr in Höhe von 442,26 EUR pro Monat zu entrichten.

Mit Beschluss vom 19. Mai 2014, Aktenzeichen S 45 AS 2075/14 ER, hat das Sozialgericht Hannover den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zu 1. bis 4. und zu 6. vorläufig unter Vorbehalt der Rückforderung Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes für den Zeitraum vom 29. April bis zum 30. September 2014 zu gewähren. Diese Entscheidung setzte der Antragsgegner mit vorläufigem Bewilligungsbescheid vom 03. Juni 2014 um. Mit Bewilligungsbescheid vom 25. November 2014 gewährte der Antragsgegner den Antragstellern diese Leistungen endgültig.

Ausweislich der Geburtsurkunde des Standesamts Hannover vom 11. Juni 2014 wurde die Antragstellerin zu 5. am 28. Mai 2014 in Hannover geboren.

Ausweislich des Bescheides der Familienkasse Niedersachsen-Bremen vom 27. Juni 2014 erhält die Antragstellerin zu 1. für die Antragsteller zu 2. und 3. jeweils 184,00 EUR Kindergeld monatlich, für die Antragstellerin zu 4. 190,00 EUR Kindergeld monatlich und für die Antragstellerin zu 5. Kindergeld in Höhe von 215,00 EUR monatlich.

Ausweislich des Elterngeldbescheides der Landeshauptstadt Hannover vom 25. Juni 2014 erhält die Antragstellerin zu 1. für die Antragstellerin zu 5. Elterngeld in Höhe von 375,00 EUR monatlich vom 28. Mai 2014 bis zum 27. Mai 2015.

Mit vorläufigem Bewilligungsbescheid vom 16. September 2014 bewilligte der Antragsgegner den Antragstellern Leistungen nach dem SGB II für die Zeit vom 01. Oktober 2014 bis zum 31. März 2015 vorläufig in Höhe zwischen 916,26 EUR und 948,26 EUR monatlich. Bis zur Vorlage des Nachweises über die Heizkosten seien die Leistungen vorläufig zu bewilligen.

Ausweislich des Vermerks über einen persönlichen Kundenkontakt vom 26. Januar 2015 befand der Antragsteller zu 6. sich zu diesem Zeitpunkt nicht auf Arbeitssuche.

Mit Weiterbewilligungsantrag vom 23. Februar 2015 beantragten die Antragsteller die Fortgewährung von Leistungen nach dem SGB II beim Antragsgegner.

Ausweislich des Vermerks über "keinen" Kundenkontakt vom 16. März 2015 sei die Antragstellerin zu 1. mit drei der vier Antragsteller zu 2. bis 5. zum Termin erschienen. Dabei habe die Antragstellerin zu 1. berichtet, dass sich der Antragsteller zu 6. in Spanien in Haft befinde und vermutlich weitere vier Monate dort verbleiben müsse.

Mit Ablehnungsbescheid vom 01. April 2015 lehnte der Antragsgegner den vorbenannten Antrag hinsichtlich des streitgegenständlichen Zeitraumes ab dem 01. April 2015 ab.

Gegen diesen Bescheid legte die Antragstellerin zu 1. mit Schreiben vom 09. April 2015 Widerspruch ein. Ferner beantragte sie mit Schreiben vom 01. April 2015, beim Antragsgegner eingegangen am 07. April 2015, erneut die Fortgewährung von Leistungen nach dem SGB II.

Mit dem am 28. Mai 2015 eingegangenen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes verfolgen die Antragsteller zu 1. bis 5. ihr Begehren einstweilen gerichtlich fort. Am 24. Juli 2015 trat der Antragsteller zu 6. nach seiner Haftentlassung und Rückkehr aus Spanien der Rechtsstreitigkeit bei.

Nach dem Arbeitsvertrag mit der Firma H. vom 10. Juli 2015 ist der Antragsteller zu 6. dort seit dem 10. Juli 2015 als Hilfskraft mit einer regelmäßigen monatlichen Arbeitszeit von 108,33 Stunden und einem Bruttoentgelt in Höhe von 8,80 pro Stunde beschäftigt.

Die Antragsteller sind der Ansicht, dass ihnen ein Anspruch auf Gewährung von Leistungen nach dem SGB II zustünde. Dem stünde nicht entgegen, dass der Antragsteller zu 6. am 27. Februar 2015 nach Spanien gefahren und dort festgenommen worden sei. Ferner habe die Miete seit Juli 2014 nicht mehr bezahlt werden können. Der Anspruch bestehe, weil den Antragstellern ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland zum Zwecke der Arbeitssuche zukomme.

Die Antragsteller beantragen daher,

den Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes zu verpflichten, Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach dem SGB II ab sofort zu gewähren.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Der Antragsgegner ist der Ansicht, dass die Antragstellerin zu 1. sich nach ihrem eigenen Vortrag zum Zwecke der Arbeitsuche in Deutschland aufhalte und daher kein Leistungsanspruch der Antragstellerin nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II bestehe.

Auf gerichtliche Verfügung hat die Landeshauptstadt Hannover, Fachbereich öffentliche Ordnung, Ausländerangelegenheiten und Staatsangehörigkeit, mit Schriftsatz vom 29. Juni 2015 mitgeteilt, dass sich aus den dortigen Akten keine Erkenntnisse ergäben über das Ausüben einer Erwerbstätigkeit oder den Besitz ausreichender Existenzmittel. Somit seien keine Anhaltspunkte dafür bekannt, dass die Antragsteller über ein Freizügigkeitsrecht und damit über ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik verfügten. Ein Feststellungsverfahren gemäß § 7 FreizügG/EU sei nicht anhängig. Nach der Konzeption des Freizügigkeitsgesetzes/EU bedürfe es keiner ausdrücklichen Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts. Die Feststellungen gemäß § 6 oder 7 Freizügigkeitsgesetzes/EU hätten lediglich den Zweck, die Ausreisepflicht zu begründen, um so die Voraussetzung für eine Aufenthaltsbeendigung zu schaffen.

Auf gerichtliche Verfügung hat die Landeshauptstadt Hannover, Fachbereich Finanzen, Bereich Vollstreckung mit Schriftsatz vom 30. Juni 2015 mitgeteilt, dass hinsichtlich der den Antragstellern zur Verfügung gestellten Wohnung Forderungen in Höhe von 4.336,08 EUR offen seien. Aus der beigefügten Forderungsaufstellung ergibt sich, dass die Antragsteller im Zeitraum von Juli 2014 bis zum März 2015 keine Kosten der Unterkunft entrichtet haben.

Am 09. Juli 2015 hat das Sozialgericht Hannover der Antragstellerin zu 1. durch seine Rechtsantragstelle die Abnahme einer Versicherung an Eides statt verweigert. Auf mehrere gerichtliche Verfügungen hin hat die Antragstellerin zu 1. schließlich am 03. August 2015 ihre vollständigen Kontoauszüge eingereicht. Die mit gerichtlicher Verfügung vom 05. August 2015 erfolgten Rückfragen haben die Antragsteller beantwortet.

Das Gericht hat ferner am 12. August 2015 Beweis erhoben durch telefonische Einvernahme der Personalsachbearbeiterin Frau I. von der J., die das Fortbestehen des Arbeitsverhältnisses mit dem Antragsteller zu 6. bestätigte.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Prozessakte und die Verwaltungsakte Bezug genommen.

II.

Der gemäß § 86 b Abs. 2 SGG zulässige Antrag ist auch begründet. Den Antragstellern stehen Leistungen nach dem SGB II in tenoriertem Umfang zu. Die Antragsteller haben insoweit sowohl Anordnungsgrund als auch Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.

1. Die allgemeinen Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II liegen vor.

a. Die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 6. haben das 15. Lebensjahr vollendet und die Altersgrenze nach § 7 a SGB II noch nicht erreicht. Die Antragsteller zu 2. bis 5. gehören gemäß § 7 Abs. 3 Nr. 4 SGB II zur Bedarfsgemeinschaft und sind daher gemäß § 7 Abs. 2 Satz 1 SGB II leistungsberechtigt.

b. Die Antragstellerin zu 1. und der Antragsteller zu 6. sind erwerbsfähig.

Rumänische Staatsangehörige, sich seit längerer Zeit im Inland aufhalten, sind unabhängig von der Erteilung einer Arbeitsgenehmigung (§ 284 SGB 3) erwerbsfähig im Sinne des § 8 SGB 2 (vgl BSG vom 30.1.2013 - B 4 AS 54/12 R = SozR 4-4200 § 7 Nr 34). (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Oktober 2013 - L 19 AS 129/13 -, Orientierungssatz 1 und Rn. 35, www..de)

c. Die Antragstellerin zu 1. hat ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 21. Oktober 2013. Der Antragsteller zu 6. hat im Bewilligungszeitraum seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland seit dem 10. Juli 2015.

Bis zu einer Entscheidung der Ausländerbehörde über einen Verlust des Rechts auf Einreise und Aufenthalt ist ein zukunftsoffener Aufenthalt im Sinne des § 30 Abs. 3 SGB 1 unabhängig vom Vorliegen eines Aufenthaltsgrundes bzw. -rechts gegeben, sodass auch ein gewöhnlicher Aufenthalt im Inland im Sinne des § 7 Abs. 1 S 1 Nr. 2 SGB 2 vorliegt. (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Oktober 2013 - L 19 AS 129/13 -, Orientierungssatz 1 und Rn. 35, www..de)

d. Ferner erweisen sich die Antragsteller als hilfebedürftig im Sinne des § 7 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB II.

aa. Hilfebedürftig ist, wer seinen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus dem zu berücksichtigen Einkommen oder Vermögen sichern kann und die erforderliche Hilfe nicht von anderen, insbesondere von Angehörigen oder von Trägern anderer Sozialleistungen, erhält, § 9 Abs. 1 SGB II.

Die Antragsteller verfügen nicht ersichtlich über zu berücksichtigendes Vermögen im Sinne des § 12 SGB II. Das zu berücksichtigendes Einkommen im Sinne des § 11 SGB II ist tenoriert.

bb. Zwar kann nach § 294 ZPO, wer eine tatsächliche Behauptung glaubhaft zu machen hat, sich aller Beweismittel bedienen kann, auch zur Versicherung Eides statt zugelassen werden. Bereits aus dem Wortlaut der Norm ergibt jedoch, dass das Gericht nicht an die Abnahme einer eidesstattlichen Versicherung gebunden ist. Vielmehr entscheidet nach § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung.

Die Antragsteller haben ihre Hilfebedürftigkeit in diesem Sinne insbesondere durch Vorlage von Kontoauszügen und durch Abgabe sachdienlicher Erklärungen auf die gerichtlichen Verfügungen glaubhaft gemacht und damit verbleibende Zweifel an der Hilfebedürftigkeit zur Überzeugung des Kammervorsitzenden aufgelöst.

cc. Weiteren abstrakten Ermittlungsmöglichkeiten musste der Kammervorsitzende nicht "ins Blaue hinein" nachgehen.

2. Hinsichtlich des Zeitraums vom 28. Mai bis zum 23. Juli 2015 besteht hinsichtlich der Antragsteller zu 1. bis 5. kein Leistungsausschluss.

a. Sie sind nicht vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II betroffen. Danach sind ausgenommen Ausländerinnen und Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, und ihre Familienangehörigen.

Demgegenüber befand sich die Antragstellerin zu 1. sich nicht auf Arbeitsuche. Bereits mit der Antragsschrift und auch auf weitere gerichtliche Nachfrage hin hat die Antragstellerin zu 1. zugestanden, dass sie sich zwar um Arbeit bemüht habe, sich jedoch zur Zeit aufgrund der Kinderbetreuung nicht mehr auf Arbeitsuche befinde. Es sei aussichtslos eine Arbeit zu finden. Auch auf gerichtliche Verfügung hin hat sie keine konkreten Bemühungen der Arbeitssuche dargetan.

aa. Damit steht der Antragstellerin zu 1. - entsprechend dem Schriftsatz der Ausländerbehörde der Landeshauptstadt Hannover - kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU zu. Danach sind freizügigkeitsberechtigt Unionsbürger, die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin arbeitsuchend sind und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden. Die Voraussetzungen dieser Norm liegen bei der Antragstellerin zu 1. zwar nicht vor.

bb. Gleichwohl waren die Antragsteller zu 1. bis 5. im Zeitraum vom 28. Mai bis zum 23. Juli 2015 nicht ausreisepflichtig. Nach § 7 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger und ihre Familienangehörigen ausreisepflichtig, wenn die Ausreisebehörde festgestellt hat, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht besteht. Dies ist eben nicht der Fall. Solange kein Feststellungsbescheid gemäß 7 Abs. 1 FreizügG/EU vorliegt, gelten die Antragsteller weiterhin als freizügigkeitsberechtigt. Erst nach der Feststellung des Verlustes des Freizügigkeitsrechts fallen Unionsbürger nach § 11 Abs. 2 FreizügG/EU in den Regelungsbereich des Aufenthaltsgesetzes.

Der Gesetzgeber führt dazu in BT-Drs 15/420, S. 106 zu § 11 FreizügG/EU aus: "Auf Unionsbürger und ihre Familienangehörigen, die nicht oder nicht mehr nach Gemeinschaftsrecht freizügigkeitsberechtigt sind und auch kein Aufenthaltsrecht nach § 2 Abs. 5 genießen, findet dieses Gesetz keine Anwendung, sondern die Betroffenen unterliegen dem allgemeinen Ausländerrecht. Entsprechend dem Grundsatz, dass Unionsbürger und ihre Angehörigen weitestgehend aus dem Geltungsbereich des allgemeinen Ausländerrechts herausgenommen werden, setzt dies einen - nicht notwendigerweise unanfechtbaren - Feststellungsakt der zuständigen Behörde voraus."

cc. Vielmehr stellt sich der Aufenthalt der Antragsteller zu 1. bis 5. in der Bundesrepublik im Zeitraum vom 28. Mai bis zum 23. Juli 2015 bloß aufgrund der allgemeinen Freizügigkeitsvermutung für alle Unionsbürger (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU) als rechtmäßig dar.

Der Gesetzgeber führt dazu in BT-Drs 18/2581 zu § 5 Abs. 4 FreizügG/EU, S. 16 aus: "Bis zu der Feststellung, dass die Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts entfallen sind oder nicht vorliegen, ist bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen grundsätzlich vom Bestehen der Voraussetzungen für die Ausübung des Freizügigkeitsrechts auszugehen."

Dementsprechend geht auch das Bundesverwaltungsgericht von der Freizügigkeitsvermutung aus: " Denn diese Regelung beruht auf der Vermutung eines Freizügigkeitsrechts zugunsten der in § 1 FreizügG/EU genannten Personen, " (Urt. v. 16.11.2010 -1 C 17/09 - zu § 2 Abs. 1 FreizügG/EU).

dd. Auf Unionsbürger ohne jegliches materielles Aufenthaltsrecht findet der Leistungsausschluss gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB 2 keine Anwendung. (Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 10. Oktober 2013 - L 19 AS 129/13 -, Orientierungssatz 2 und Rn. 37, www..de)

Solange insbesondere EU-Ausländer sich im Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland aufhalten und kein Feststellungsbescheid gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU vorliegt, hat der deutsche Staat ihre Existenz zu sichern. Dies erfolgt aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 2012, Aktenzeichen 1 BvL 10/10, Leitsatz 2: Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums steht deutschen und ausländischen Staatsangehörigen, die sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, gleichermaßen zu. Der Anspruch umfasst sowohl die physische Existenz des Menschen als auch die Sicherung der Möglichkeit zur Pflege zwischenmenschlicher Beziehungen und ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben.

Der Antragsgegner mag sich insoweit vor Augen halten, dass es durch diese Rechtslage nicht zu einer unangemessenen Inanspruchnahme von Sozialleistungen kommt. Der Antragsgegner hat die Möglichkeit, bei der zuständigen Ausländerbehörde auf den Erlass eines Feststellungsbescheids gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU und die Durchsetzung der Abschiebung gemäß §§ 57 ff. AufenthG hinzuwirken.

"Migrationspolitische Erwägungen, die Leistungen an Asylbewerber und Flüchtlinge niedrig zu halten, um Anreize für Wanderungsbewegungen durch ein im internationalen Vergleich eventuell hohes Leistungsniveau zu vermeiden, können von vornherein kein Absenken des Leistungsstandards unter das physische und soziokulturelle Existenzminimum rechtfertigen (vgl. Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie und Senioren (13. Ausschuss) vom 24. Mai 1993, BTDrucks 12/5008, S. 13 f.). Die in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde ist migrationspolitisch nicht zu relativieren." (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 2012 - 1 BvL 10/10, 1 BvL 2/11 -, BVerfGE 132, 134-179, Rn. 95)

b. Auch die Leistungsausschlüsse nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 und 3 SGB II liegen nicht vor. Die Antragstellerin zu 1. war im betreffenden Zeitraum weder Arbeitnehmerin noch Leistungsberechtigte nach § 1 des AsylbLG.

c. Auch wenn aus Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG für Deutsche und ausländische Staatsangehörige ein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Leistungsanspruch erwächst, der das gesamte Existenzminimum durch eine einheitliche grundrechtliche Garantie gewährleistet (Frerichs/Greiser, Spielräume des Gesetzgebers bei der Verhinderung sozialleistungsmotivierter Wanderbewegungen in Heine, 60 Jahre Sozialgerichtsbarkeit in Niedersachsen und Bremen, Stuttgart 2014, S. 197), kennt bereits das SGB II keinen Leistungsausschluss für Personen, die sich nicht auf Arbeitsuche befinden und/oder über kein materielles Freizügigkeitsrecht verfügen. Letztlich ist (auch) mit dem SGB II das Existenzsicherungsgrundrecht einfachgesetzlich umgesetzt.

Die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 SGB II können daher nicht über ihren Wortlaut hinaus auf Nichtarbeitssuchende oder Personen ohne materielles Freizügigkeitsrecht angewandt werden, solange kein Feststellungsbescheid gemäß § 7 Abs. 1 FreizügG/EU vorliegt und die Abschiebung sich in Durchsetzung gemäß §§ 57 ff. AufenthG befindet. Erst sobald die vollziehbare Ausreisepflicht im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG besteht, führt dies zur Leistungsberechtigung nach § 1 des AsylbLG und damit zum Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB II.

3. Im Zeitraum vom 24. Juli bis zum 30. September 2015 haben sämtliche Antragsteller Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II.

Zwar sind nach § 7 Abs. Abs. 2 Satz 2 Nr. 1 SGB II ausgenommene Ausländerinnen und Ausländer, die weder in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmer oder Selbständige noch aufgrund des § 2 Abs. 3 des Freizügigkeitsgesetzes/EU freizügigkeitsberechtigt sind, und ihre Familienangehörigen für die ersten drei Monate ihres Aufenthalts.

Jedoch ist der Antragsteller zu 6. seit dem 10. Juli 2015 Arbeitnehmer. Er verfügt über eine regelmäßige monatliche Arbeitszeit von 108,33 Stunden mit einer Vergütung von 8,80 EUR pro Stunde.

Sein Erstaufenthalt in der Bundesrepublik dauerte länger als drei Monate an.

4. Dem Antragsgegner war nachzulassen, die Kosten der Unterkunft und Heizung direkt an die Landeshauptstadt Hannover zu leisten.

Nach § 22 Abs. 7 Satz 2 SGB II soll Arbeitslosengeld II für den Bedarf für Unterkunft und Heizung an den Vermieter oder andere Empfangsberechtigte gezahlt werden, wenn die zweckentsprechende Verwendung durch die leistungsberechtigte Person nicht sichergestellt ist.

Im Zeitraum von Juli 2014 bis zum März 2015 haben die Antragsteller die ihnen mit Beschluss vom 19. Mai 2014, Aktenzeichen S 45 AS 2075/14 ER, in der Fassung des endgültigen Bewilligungsbescheid vom 25. November 2014, und mit vorläufigem Bewilligungsbescheid vom 16. September 2014 gewährten Kosten der Unterkunft nicht an die Landeshauptstadt Hannover weitergeleitet. Sie haben die Leistungen vielmehr zweckwidrig von dem Girokonto der Antragstellerin zu 1. entnommen.

5. Dem Antragsgegner war daher ferner nachzulassen, den sich aus diesem Beschluss ergebenden Nachzahlungsbetrag zunächst zur Befriedigung der offenen Wohnungsgebühren an die Landeshauptstadt Hannover zu leisten, soweit gemäß § 43 SGB II die Aufrechnung zulässig wäre.

Die den Antragstellern im Zeitraum von Juli 2014 bis zum März 2015 gewährten Kosten der Unterkunft unterliegen der Rückforderung nach § 47 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 SGB X. Danach kann ein rechtmäßiger begünstigender Verwaltungsakt, der eine Geld- oder Sachleistung zur Erfüllung eines bestimmten Zweckes zuerkennt oder hierfür Voraussetzung ist, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise auch mit Wirkung für die Vergangenheit widerrufen werden, wenn die Leistung nicht, nicht alsbald nach der Erbringung oder nicht mehr für den in dem Verwaltungsakt bestimmten Zweck verwendet wird.

Die Antragsteller haben nicht im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 2 SGB X auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut und ihr Vertrauen ist unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einem Widerruf nicht schutzwürdig. Die Antragsteller hätten die zweckwidrige Verwendung der Kosten der Unterkunft dem Antragsgegner gemäß § 60 Abs. 1 Satz 1 SGB I anzeigen müssen. Die Zweckbindung war ihnen bekannt.

Unter dem Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkt stellt es sich jedoch statt der Rückforderung als milderes Mittel dar, die offenen Wohnungsgebühren an die Landeshauptstadt Hannover zu leisten, soweit gemäß § 43 SGB II die Aufrechnung zulässig wäre.

Den Antragstellern ist gegebenenfalls zuvor ein Bescheid zu erteilen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG analog. Ermittlungen zur Hilfebedürftigkeit wären bereits im Verwaltungsverfahren vorzunehmen gewesen. Der Antragsgegner hat daher die Rechtsstreitigkeit herbeigeführt.