Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 12.09.2012, Az.: 11 A 2101/11

Abschiebung; Ausweisung; Befristung; örtliche Zuständigkeit; Sperrwirkung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
12.09.2012
Aktenzeichen
11 A 2101/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44457
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die örtlich zuständige Ausländerbehörde für die Befristung der Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung bestimmt sich in Niedersachsen nach § 100 Abs. 1 Nds. SOG. D.h. maßgeblich ist, wo bei Wiedereinreise des Ausländers die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet werden.

Tatbestand:

Der am 1. Januar 1984 geborene Kläger ist türkischer Staatsangehöriger.

Er reiste am 16. Oktober 1987 zusammen mit seinen Eltern und seinen vier Geschwistern als Asylbewerber kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischer Glaubenszugehörigkeit in die Bundesrepublik Deutschland ein. Auf seinen Antrag hin erkannte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge ihn am 24. November 1992 als Asylberechtigten an, woraufhin er in der Folgezeit eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis erhielt, die ab dem 1. Januar 2005 als Niederlassungserlaubnis fortgalt. Die Asylanerkennung sowie die Feststellung der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 22. August 2006. Die dagegen erhobene Klage wies das Verwaltungsgericht Hannover (Az.: 13 A 260/08) mit Urteil vom 13. Oktober 2008 ab (die Entscheidung ist seit dem 21. November 2008 rechtskräftig). Mit Bescheid vom 3. März 2009 wies der Beklagte den Kläger aus der Bundesrepublik Deutschland aus und drohte seine Abschiebung in die Türkei an. Die hiergegen gerichtete Klage wies das erkennende Gericht (Az.: 11 A 1143/09) mit Urteil vom 22. Mai 2009 ab (die Entscheidung ist seit dem 29. Juni 2009 rechtskräftig). Am 15. Oktober 2009 wurde der Kläger in die Türkei abgeschoben.

Der Kläger ist Vater zweier deutscher Kinder, I. (geb. am 23. Juli 2004) und C. (geb. am 30. Juli 2007). Ihre Mutter ist die Ehefrau des Klägers, Frau O., welche ebenfalls deutsche Staatsangehörige ist.

Der Kläger ist vor seiner Ausweisung und Abschiebung in die Türkei mehrfach strafrechtlich in Erscheinung getreten. In der Zeit von Oktober 1998 bis Mai 2005 wurde er insgesamt neunmal verurteilt. Zuletzt verurteilte das Landgericht H. ihn am 10. Mai 2005 wegen eines am 24. Juli 2004 begangenen versuchten Mordes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung mit Einbeziehung von Vorstrafen zu einer Jugendstrafe von sieben Jahren und neun Monaten. Der Kläger hatte sich in einer Diskothek aufgehalten und geriet in Streit mit dem Türsteher, woraufhin er die Diskothek verlassen musste. Das spätere Opfer, welches den Kläger kannte, versuchte den aufgebrachten Kläger zu beruhigen. Es kam sodann zu einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und dem späteren Opfer. Letztgenanntem gelang es den Kläger zu Boden zu bringen und beruhigend auf ihn einzureden. Der Kläger spielte dem Opfer sodann seine Versöhnungsabsicht vor und beide gingen umarmt in Richtung Gaststätte "S.". Als der Kläger mit dem Opfer außerhalb des Sichtfeldes der vor der Diskothek befindlichen weiteren Personen gelangt war, stieß er dem ahnungs- und wehrlosen Opfer das bei sich geführte Klappmesser in die Weichteile des rechten Oberschenkels und in die Brustkorbvorderseite rechts im dritten Zwischenraum, wobei er dessen Tod zumindest billigend in Kauf nahm. Das Opfer erlitt am Oberschenkel eine Verletzung von mindestens 2 cm Tiefe und etwa 1,5 cm Länge. Durch den Messerstich in die Brust wurde die rechte Brusthöhle eröffnet, der rechte Lungenoberlappen komplett durchstochen, der Herzbeutel eröffnet und der rechte Herzvorhof angestochen. Das Opfer geriet dadurch in akute Lebensgefahr. Nur durch ein Blutgerinnsel, welches sich über den Herzstich gelegt hatte, wurde ein Verbluten noch am Tatort verhindert.

Am 18. März 2011 beantragte der Kläger bei dem Beklagten die Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung „auf den heutigen Tagˮ (ab sofort) zu befristen.

Mit Bescheid vom 25. Juli 2011, dem Kläger zugestellt am 27. Juli 2011, befristete der Beklagte die Wirkungen der Ausweisung und Abschiebung auf den 15. Oktober 2019. Zur Begründung führte er im Wesentlichen aus: Da der Kläger den Ausweisungsgrund des § 53 AufenthG erfülle, sei nach Ziffer 11.1.4.6.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften zum AufenthG vom 26. Oktober 2009 von einem zehnjährigen Einreiseverbot auszugehen. Dem stehe auch nicht Art. 11 Abs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2008/115/EG entgegen, da nach dieser Vorschrift die Frist von fünf Jahren überschritten werden könne, wenn der Betroffene eine schwerwiegende Gefahr u. a. für die öffentliche Ordnung darstelle. Dies sei bei dem Kläger der Fall. Aufgrund der Häufigkeit und Schwere der durch ihn begangenen Straftaten, insbesondere auch aufgrund der zeitlichen Abfolge und der sich steigernden Schwere der Taten, sei davon auszugehen, dass der Kläger dauerhaft nicht in der Lage oder Willens sein werde, ein straffreies Leben zu führen und sich in die Gesellschaft einzuordnen.

Am 29. August 2011, einem Montag, hat der Kläger Klage erhoben.

Er trägt im Wesentlichen vor: Die vom Beklagten festgesetzte Befristung auf den 15. Oktober 2019 sei unangemessen lang und stelle einen Verstoß gegen den Grundsatz des Schutzes von Ehe und Familie dar. Er sei Vater zweier minderjähriger Kinder, welche sehr unter der Trennung von ihrem Vater leiden würden. Sollte man ihm erst Ende 2019 wieder die Möglichkeit einräumen nach Deutschland einzureisen, so müssten seine Kinder ohne ihren Vater aufwachsen. Aus finanziellen Gründen könnten die Kinder ihn auch nur selten in der Türkei besuchen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 25. Juli 2011 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, die Sperrwirkung der Ausweisung und Abschiebung ab sofort zu befristen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er erwidert im Wesentlichen: Ein Verstoß gegen den Grundsatz des Schutzes von Ehe und Familie liege nicht vor, weil ein familiäres Zusammenleben aufgrund der Haft des Klägers in Deutschland bislang nicht gelebt worden sei. Darüber hinaus bestünden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sein in der Vergangenheit gezeigtes rücksichtsloses Verhalten nach einer Wiedereinreise ablegen würde.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird auf die Gerichtsakten des vorliegenden Verfahrens und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Aufgrund des Einverständnisses der Beteiligten (vgl. Schriftsätze vom 11. September 2012) konnte die Kammer gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden.

Die zulässige Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.

Der angefochtene Bescheid vom 25. Juli 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), weil der Beklagte für den Erlass nicht zuständig gewesen ist.

Die für das Befristungsbegehren (§ 11 Abs. 1 Satz 3 AufenthG) zuständige Behörde ist in zwei Schritten zu bestimmen. In einem ersten Schritt ist festzustellen, welches Bundesland die Verbandskompetenz zur Sachentscheidung besitzt. Diese Frage ist - wenn keine speziellen koordinierten landesrechtlichen Kompetenzregelungen vorliegen - durch entsprechende Anwendung der mit § 3 VwVfG übereinstimmenden Regelungen über die örtliche Zuständigkeit in den Verwaltungsverfahrensgesetzen der Länder zu beantworten (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 - 1 C 5.11 - juris Rn 17). In einem zweiten Schritt ist auf der Grundlage des Landesrechts des zur Sachentscheidung befugten Bundeslandes zu ermitteln, welche Behörde innerhalb des Landes örtlich zuständig ist (vgl. BVerwG, a.a.O.).

Bei Anwendung dieser Kriterien ist die Verbandskompetenz des Landes Niedersachsen zur Sachentscheidung gegeben, weil der Kläger vor seiner Ausreise seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der JVA V. und damit in Niedersachsen hatte (entsprechende Anwendung von § 3 Abs. 1 Nr. 3 a VwVfG). Die landesrechtlich für die Befristung örtlich zuständige Ausländerbehörde ergibt sich aus der gegenüber § 1 Abs. 1 Nds. VwVfG i.V.m. § 3 VwVfG spezielleren Regelung des § 100 Nds. SOG, da die Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts die Ausweisung als eine Maßnahme der Gefahrenabwehr beurteilt (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 1. März 2006 - 11 ME 46/08 - juris Rn 6; sowie Beschluss vom 23. Juli 2012 - 13 LA 121/12 - unveröffentlicht). Hieraus ist abzuleiten, dass die Vorschrift des § 100 Nds. SOG gleichfalls für die an die Ausweisung anknüpfende Entscheidung über die Befristung ihrer Wirkungen Anwendung findet, zumal der Ausländer nach neuster Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts einen Anspruch darauf hat, dass die Befristungsentscheidung zusammen mit der Entscheidung über die Ausweisung getroffen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 - Rn 30 ff.). Nach § 100 Abs. 1 Satz 2 Nds. SOG ist die Behörde, in deren Bezirk die zu schützenden Interessen verletzt oder gefährdet sind, örtlich zuständig. Dies muss bei einer Entscheidung über die Befristung der Wirkung der Ausweisung nicht stets die Behörde sein, welche die Ausweisung verfügt hat. Es handelt sich bei der Befristungsentscheidung um einen weiteren selbstständigen Verwaltungsakt, so dass zwischenzeitliche Änderungen nicht außer Betracht bleiben können. Dies bestätigt § 72 Abs. 3 AufenthG, wonach in solchen Fällen lediglich das Einvernehmen der Behörde, welche die Ausweisung erlassen hat, erforderlich ist (vgl. ebenso BVerwG, Urteil vom 22. März 2012 a.a.O., Rn. 16; OVG Münster, Beschluss vom 11. März 2008 - 18 B 210/08 - InfAuslR 2008, 250; VG Oldenburg, Beschluss vom 15. November 2005 - 11 A 1421/05 - juris). Eine Gefährdung i.S.d. § 100 Abs. 1 Satz 2 Nds. SOG findet dort statt, wo bei prognostischer Betrachtung im Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung die Gefahr weiterer Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit, also hier gegen strafrechtliche Bestimmungen, besteht. Der Kläger gab bei seinem Befristungsantrag an, dass er unmittelbar nach Wiedereinreise zu seiner Ehefrau und seinen Kindern nach H. ziehen wolle (vgl. Schreiben vom 18. März 2011 - Bl. 687 der Verwaltungsvorgänge). Folglich ist dies der Ort, an dem die Gefahr weiterer Verstöße gegen die öffentliche Sicherheit besteht. Mithin ist auch die dortige Ausländerbehörde (Ausländerbehörde der Stadt H.) örtlich zuständig.

Soweit der Kläger neben der Anfechtung des Bescheides vom 25. Juli 2011 begehrt, den Beklagten zu verpflichten die Sperrwirkung auf ab sofort zu befristen, so hat dies im Ergebnis keinen Erfolg. Denn mit diesem Verpflichtungsbegehren wendet der Kläger sich an den falschen Beklagten. Passivlegitimiert ist - aus den oben angeführten Gründen - nicht der Beklagte, sondern die Stadt H.. Die Frage, ob unter Berücksichtigung der neueren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 14. Februar 2012 - 1 C 7.11 - juris, Rn. 31 ff; Urteil vom 10. Juli 2012 a.a.O., Rn. 41 ff.) eine geringere Sperrfrist hätte festgesetzt werden müssen, kann daher offen bleiben.