Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 13.10.2004, Az.: 1 A 271/04
Ausländerquote; Fremdheit der neuen Kultur; Gesprächstherapie; humanitäre Gründe; länderübergreifende Umverteilung; Muttersprache; psychische Erkrankung; Umverteilung; Zuweisung
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 13.10.2004
- Aktenzeichen
- 1 A 271/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 50761
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 51 AsylVfG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Die psychische Erkrankung eines Asylbewerbers stellt für sich genommen grundsätzlich keinen humanitären Grund von vergleichbarem Gewicht i. S. d. § 51 Abs. 1 AsylVfG dar, wenn die Erkrankung hauptsächlich auf die - typischerweise vorliegende - Fremdheit der neuen Kultur und Umgebung zurückzuführen ist.
2. Wenn sich aber die psychische Erkrankung von dieser typischen Situation unterscheidet umd beim Verbleib in der gegenwärtigen Situation eine Verfestigung oder gar Verschlechterung der Erkrankung zu erwarten ist, und durch die Aufnahme bei einem Familienangehörigen als ständige Bezugsperson die seelischen und therapeutischen Belastungen des Asylbewerbers vermindert werden und das sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken kann, muss dem bei der Entscheidung über die Umverteilung Rechnung getragen werden.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt ihre länderübergreifende Umverteilung von A. in Niedersachsen nach Hamburg zu ihren dort lebenden Verwandten.
Die am ... in Kabul/Afghanistan geborene Klägerin ist afghanische Staatsangehörige tadschikischer Volkszugehörigkeit, sie ist moslemisch-sunnitischen Glaubens und ledig. Sie reiste am 9. Mai 2001 in das Bundesgebiet ein und stellte am 26. November 2002 einen Asylantrag, über den bisher noch nicht entschieden worden ist. Sie wurde am 22. November 2002 in der Zentralen Anlaufstelle B. aufgenommen.
Am 23. Januar 2003 wurde sie nach A. umverteilt. Unter dem 6. Januar 2003 stellte sie - noch aus B. - einen ersten Antrag auf länderübergreifende Umverteilung von Niedersachsen nach Hamburg zu ihrer dort lebenden Mutter. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit bestandskräftigem Bescheid vom 10. März 2003 ab, da die Klägerin nicht zu dem in § 51 Abs. 1 AsylVfG begünstigten Personenkreis gehöre.
Mit Schreiben vom 20. Februar 2004 stellte die Klägerin - diesmal aus A. - erneut einen Antrag auf Umverteilung nach Hamburg zu ihrer dort lebenden Familie. Sie brauche dringend Hilfe, weil sie nicht allein, ohne ihre Familie leben und ihren Alltag bewältigen könne. Sie und auch ihre Familienangehörigen befänden sich immer noch im Asylverfahren. Hierzu legte die Klägerin ein ärztliches Attest des Facharztes für Psychiatrie, Herrn Dr. med. C., aus Hamburg vom 7. November 2003 vor. Hiernach befindet sich die Klägerin seit Juli 2003 in ambulanter psychiatrischer Behandlung. Die Klägerin leide unter einer schweren Somatisierungsstörung mit konversionsneurotischen Zügen vor dem Hintergrund einer langjährigen depressiven Entwicklung. Bereits seit ihrer Flucht aus Afghanistan über mehrere Länder hinweg habe sie sich mehrmals in ambulanter nervenärztlicher Behandlung befunden. Eine dauerhafte Stabilisierung habe aufgrund der migrationsbedingten Belastungen nie erzielt werden können. Deshalb sei inzwischen eine Chronifizierung der Erkrankung eingetreten. Dieser Umstand verringere die Belastbarkeit der Klägerin auf Dauer und berge die Gefahr des Hinzutretens weiterer Störungen in sich. Eine kontinuierliche psychiatrische Behandlung sei daher unumgänglich. Zudem erscheine die Ermöglichung eines engeren Kontaktes zu ihren in Hamburg lebenden Angehörigen (Mutter und Brüder) notwendig, da die ganz auf sich gestellte Klägerin krankheitsbedingt im Alltag überfordert sei und Entlastung sowie emotionale Unterstützung benötige. Hinzu kämen andere sie sozial stigmatisierende Umstände, die aus Rücksicht auf ihre Persönlichkeitsrechte nicht genannt werden könnten. Des weiteren legte die Klägerin ein ärztliches Attest des bereits genannten Facharztes für Psychiatrie vom 14. Mai 2004 vor. In diesem Attest führte dieser im Wesentlichen an, dass sich die Klägerin weiterhin in seiner ambulanten psychiatrischen Behandlung befinde und die im Attest vom 7. November 2003 dargelegte Beurteilung weiterhin zutreffe und auch weiterhin zutreffen werde. Die Behandlung werde unverändert fortgesetzt.
Die Klägerin erhielt bisher vom Landkreis D. als zuständiger Ausländerbehörde jeden Monat für sieben Tage eine Verlassenserlaubnis, um ihre Mutter in Hamburg zu besuchen.
Mit Bescheid vom 24. Mai 2004 - zugestellt am 27. Mai 2004 - lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf länderübergreifende Verteilung vom 20. Februar 2004 wiederum ab. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen an, die Klägerin gehöre auch unter Berücksichtigung ihres jetzigen Vortrages und der vorgelegten ärztlichen Atteste nicht zum Personenkreis des § 51 Abs. 1 AsylVfG. Sie habe immer noch nicht substantiiert vorgetragen und glaubhaft gemacht, so sehr auf ihre Mutter und ihre übrigen Familienangehörigen angewiesen zu sein, dass die Trennung für sie eine zusätzliche unzumutbare Belastung darstelle. Eine nicht zu vertretende Härte liege daher nicht vor. Die Bindung und der Kontakt zu den Familienangehörigen sowie die Durchführung der psychiatrischen Gesprächstherapie in Hamburg könne auch durch die Erteilung von Besuchserlaubnissen sichergestellt werden, die die Klägerin auch tatsächlich erhalte. Zudem gebe es keinerlei Hinweise darauf, dass es sich bei den Personen in Hamburg tatsächlich um die leiblichen Verwandten der Klägerin handele. In der dem Bescheid beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung ist das erkennende Gericht mit der Anschrift „Uelzener Straße 33, 21335 Lüneburg“ bezeichnet.
Daraufhin hat die Klägerin mit Klageschrift vom 8. Juni 2004, die am 16. Juni 2004 bei Gericht eingegangen ist, Klage erhoben. Zur Begründung verweist sie auf ihr bisheriges Vorbringen und trägt ergänzend vor, dass sie in Afghanistan als Kind geschändet worden sei und seitdem fast ununterbrochen viele Tabletten einnehmen müsse. Sie befinde sich aufgrund der Fluchtsituation und der jetzigen Lebenssituation seit Juli 2003 in regelmäßiger psychiatrischer Behandlung bei Dr. C., der als einer der wenigen Psychiater farsi und dari spreche. Sie leide an Schlafstörungen und diffusen Ängsten. Die Erlaubnis für Besuchszwecke für eine Woche pro Monat nach Hamburg fahren zu dürfen, sei nicht ausreichend. Aufgrund ihrer Krankheit sei sie nicht in der Lage, ihren eigenen Haushalt zu führen. Die Umverteilung nach Hamburg sei für ihre Genesung notwendig, um ihre psychiatrische Behandlung in angemessenem Umfang fortführen zu können. Dabei wirke insbesondere die ständige Nähe zu ihrer Mutter und ihren Geschwistern stabilisierend. Ihr Neffe sehe sie als Ersatzmutter und achte sie. Im afghanischen Kulturkreis sei es zudem üblich, dass sich die unverheiratete Tochter im Hause der Eltern aufhalte.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2004 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, sie länderübergreifend von Niedersachsen in ihren, der Beklagten, Zuständigkeitsbereich zu verteilen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und verweist auf die Gründe des angefochtenen Bescheides.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg.
1. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist die Klagefrist gewahrt. Zwar ist der Bescheid der Beklagten vom 24. Mai 2004 der Klägerin am 27. Mai 2004 zugestellt worden, so dass die zweiwöchige Klagefrist des § 74 Abs. 1 Halbsatz 1 AsylVfG an sich bereits am 9. Juni 2004 ablief, während die Klägerin erst am 16. Juni 2004 und damit an sich außerhalb dieser Frist Klage erhoben hat. Dieses Versäumnis wirkt sich im vorliegenden Fall aber nicht aus, weil die Beklagte in der Rechtsbehelfsbelehrung des angefochtenen Bescheides eine völlig veraltete und damit unrichtige Anschrift des angerufenen Verwaltungsgerichtes angegeben hat mit der Folge, dass die Jahresfrist des § 58 Abs. 2 VwGO gilt. Diese Frist hat die Klägerin eingehalten.
2. Die Klage ist auch begründet.
Die Klägerin hat gemäß § 51 Abs. 1 AsylVfG einen Anspruch auf länderübergreifende Umverteilung von Niedersachsen nach Hamburg. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 24. Mai 2004 ist mithin rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Nach § 51 Abs. 1 AsylVfG ist der Haushaltsgemeinschaft von Ehegatten sowie Eltern und ihren minderjährigen Kindern oder sonstigen humanitären Gründen von vergleichbarem Gewicht auch durch länderübergreifende Verteilung einer Ausländerin, die - wie die Klägerin - nicht mehr gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG verpflichtet ist, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen, Rechnung zu tragen. Damit steht die Zuweisungsentscheidung grundsätzlich im Ermessen der zuständigen Behörde - hier ist dies gemäß § 51 Abs. 2 Satz 2 AsylVfG die Beklagte. Bei der nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffenden Entscheidung über die länderübergreifende Verteilung hat die zuständige Behörde das öffentliche Interesse an der gleichmäßigen Verteilung der Asylbewerber (vgl. hierzu § 45
AsylVfG) gegenüber dem privaten Interesse des Asylbewerbers an der begehrten Umverteilung abzuwägen. Dabei überwiegt das private Interesse des Asylbewerbers regelmäßig mit der Folge, dass das Ermessen der Behörde auf Null reduziert ist, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AsylVfG vorliegen und nicht ausnahmsweise besonders gewichtige öffentliche Interessen an der Umverteilung entgegenstehen (OVG Bautzen, Beschl. v. 7.4.1999 - A 4 S 78/98 -, EZAR 228 Nr. 20; VG Leipzig, Urt. v. 22.11.1999 - A 6 K 30559/99 -, NVwZ-RR 2000, 323, 324 [VG Leipzig 22.11.1999 - A 9 30559/99]; GK-AsylVfG, Stand: Oktober 2003, § 51 Rdnr. 5).
Die psychische Erkrankung einer Ausländerin stellt für sich genommen grundsätzlich keinen humanitären Grund von vergleichbarem Gewicht i. S. d. § 51 Abs. 1 AsylVfG dar, wenn die Erkrankung hauptsächlich auf die Fremdheit der neuen Kultur und Umgebung zurückzuführen ist. Denn in diesem Fall befindet sie sich oftmals in der typischen Situation jedes alleinstehenden Asylbewerbers. Deshalb ist die von der Klägerin vorgetragene Tradition des afghanischen Kulturkreises, dass unverheiratete Töchter im Hause der Eltern lebten, für sich allein betrachtet, kein ausreichender Grund für eine länderübergreifende Umverteilung. Wenn sich aber die Erkrankung von dieser typischen Situation unterscheidet und beim Verbleib in der gegenwärtigen Situation eine Verfestigung oder gar Verschlechterung der Erkrankung zu erwarten ist, gilt etwas anderes. Dies ist etwa dann der Fall, wenn eine ausreichende medizinische und psychologische Versorgung zwar auch am bisherigen Aufenthaltsort gewährleistet ist, der Heilungsprozess aber in der Nähe von Familienangehörigen, die nicht zu der in § 51 Abs. 1 AsylVfG geschützten Kernfamilie gehören, erleichtert und verbessert wird. Wenn durch die Aufnahme bei einem solchen Familienangehörigen als ständige Bezugsperson die seelischen und therapeutischen Belastungen des Patienten vermindert werden und das sich positiv auf den Krankheitsverlauf auswirken kann, muss dem bei einer Umverteilungsentscheidung Rechnung getragen werden (VGH Mannheim, Beschl. v. 20.12.1988 - A 14 S 1559/88 -, EZAR 228 Nr. 10; VGH Kassel, Beschl. v. 23.10.1986 - 10 TH 2254/86 -, EZAR 228 Nr. 8); VG Magdeburg, Urt. v. 24.5.2004 - 9 A 76/04 MD -).
Im vorliegenden Fall stellt sich allein die Umverteilung der Klägerin nach Hamburg als einzige ermessensgerechte Entscheidung nach § 51 Abs. 1 AsylVfG dar. Denn sie kann sich auf humanitäre Gründe berufen, die von vergleichbarem Gewicht sind wie jene, die in § 51 Abs. 1 AsylVfG explizit als Regelbeispiele genannt sind. Daran, dass die Klägerin an einer psychischen Erkrankung von einigem Gewicht leidet, besteht angesichts ihrer Ausführungen und der vorgelegten ärztlichen Atteste des sie behandelnden Facharztes für Psychiatrie kein Zweifel. Des Weiteren ist deutlich geworden, dass die Klägerin aufgrund ihrer Erkrankung auf ihre Mutter sowie ihre Geschwister als ständige Bezugspersonen angewiesen ist. Nach dem Attest des sie behandelnden Arztes ist sie im Alltag krankheitsbedingt völlig überfordert und benötigt ständige und kontinuierliche Entlastung sowie emotionale Unterstützung gerade durch ihre in Hamburg lebenden Verwandten. Daran, dass diese tatsächlich die leiblichen Verwandten der Klägerin sind, hat der Einzelrichter keinen Zweifel. Diese sind auch in der Lage und willens, der Klägerin praktischen und seelischen Beistand zu leisten. Hinzu kommt, dass sie sich seit längerem in der Behandlung des genannten Facharztes befindet, der seine Praxis in Hamburg hat und der ihre Muttersprache spricht. Dieser Umstand ist gerade bei einer Gesprächstherapie von wesentlicher Bedeutung. Deshalb kann der Klägerin auch kein Vorwurf daraus gemacht werden, dass sie die erforderliche Gesprächstherapie nicht an dem bisherigen Ort ihrer Zuweisung in Niedersachsen begonnen hat. Angesichts der Gesamtumstände ist die vom Landkreis Harburg als bisher für die Klägerin zuständige Ausländerbehörde erteilte monatliche Verlassenserlaubnis für jeweils eine Woche nicht ausreichend, um den Heilungsprozess im nötigen Umfang zu bewirken.
Besonders gewichtige Gründe, die trotz Vorliegens humanitärer Gründe einer Umverteilung entgegenstehen könnten, hat die Beklagte nicht vorgetragen und sind auch sonst nicht ersichtlich. Insbesondere stellt die Erwägung der möglichst gleichmäßigen Verteilung von Asylbewerbern auf die Länder und der Vortrag der Beklagten, in ihrem Bereich hielten sich erheblich mehr Asylbewerber auf, als die in § 45 AsylVfG festgelegte Quote eigentlich vorsehe, einen derartigen besonders gewichtigen Grund nicht dar. Denn auf die Quote nach § 45 AsylVfG wird gemäß § 52 AsylVfG die Aufnahme von Asylbewerbern nach § 51 AsylVfG angerechnet.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83 b Abs. 1 AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.