Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 26.10.2004, Az.: 1 B 67/04

Auswahlentscheidung; Befähigung; Beförderung; Beförderungsauswahl; Beurteilung; Beurteilung; Bewerber; Bewerberauswahl; Bewerbung; Binnendifferenzierung; dienstliche Beurteilung; Eignung; fachliche Leistung; Hilfskriterium; Justizamtsinspektor; Konkurrentenstreit; Leistungsgrundsatz

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
26.10.2004
Aktenzeichen
1 B 67/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50757
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Auswahlentscheidung für Beförderungen sind vor nachrangigen Hilfskriterien wie Dienstalter und Dienstalter im Amt zumindest sämtliche dienstliche Beurteilungen der Bewerber im zuletzt innegehabten Statusamt heranzuziehen.

Gründe

1

I. Der Antragsteller und die Beigeladene bewarben sich neben 15 anderen Bewerbern um die in der Niedersächsischen Rechtspflege 2004, Seite 120, ausgeschriebene Stelle für eine Justizamtsinspektorin oder einen Justizamtsinspektor mit Amtszulage bei Gerichten im Landgerichtsbezirk Lüneburg.

2

Der im Dezember 1945 geborene Antragsteller, der seit dem 27. Mai 1993 Justizamtsinspektor ist, ist bei dem Amtsgericht E. tätig. Seine letzte dienstliche Beurteilung vom 28. Juni 2004 für den Zeitraum Juni 2003 bis 28. Juni 2004 und die vorangegangenen Beurteilungen vom 30. Juni 2003 für den Zeitraum Juli 2000 bis 30. Juni 2003, vom 26. Juli 2002 für den Zeitraum Juli 2000 bis 26. Juli 2002 sowie vom 19. Juli 2000 für den Zeitraum 30. April 1999 bis 19. Juli 2000 endeten jeweils mit dem Gesamturteil „sehr gut (oberer Bereich)“. Die ihm zuvor erteilten Beurteilungen vom 29. April 1999 für den Zeitraum 30. Juni 1998 bis 29. April 1999 und vom 25. Juni 1998 für den Zeitraum 11. März 1993 bis 25. Juni 1998 lauteten auf „sehr gut (mittlerer Bereich)“.

3

Die im Juni 1950 geborene Beigeladene, die seit dem 27. Oktober 1989 Justizamtsinspektorin ist, ist ebenfalls bei dem Amtsgericht E. tätig. Ihre letzte dienstliche Beurteilung vom 28. Juni 2004 für den Zeitraum Juli 2003 bis 28. Juni 2004 und die vorangegangenen Beurteilungen vom 14. Juli 2003 für den Zeitraum August 2002 bis 14. Juli 2003, vom 30. Juli 2002 für den Zeitraum Juni 2001 bis 30. Juli 2002 sowie vom 5. Juni 2001 für den Zeitraum 15. Mai 1999 bis 5. Juni 2001 endeten jeweils mit dem Gesamturteil „sehr gut (oberer Bereich)“. Die ihr zuvor als Justizamtsinspektorin erteilten Beurteilungen vom 21. Juli 2000 für den Zeitraum 15. Mai 1999 bis 21. Juli 2000 und vom 12. Mai 1999 für den Zeitraum 30. Juni 1998 bis 12. Mai 1999 lauteten auf „sehr gut (mittlerer Bereich)“. Die ihr davor erteilte Beurteilung vom 25. Juni 1998 für den Zeitraum 26. Februar 1994 bis 25. Juni 1998 lautete auf „sehr gut (unterer Bereich)“. Für den Zeitraum Juni 1989 bis 25. Februar 1994 war sie als Justizamtsinspektorin mit „gut (oberer Bereich)“ beurteilt worden.

4

Auf Vorschlag des Präsidenten des Landgerichts Lüneburg vom 20. Juli 2004 entschied die Antragsgegnerin, der Beigeladenen die ausgeschriebene Stelle zu übertragen. Sie teilte diese Entscheidung, der der Bezirkspersonalrat und der Vertreter der Schwerbehinderten zugestimmt hatten, dem Antragsteller mit Schreiben vom 19. August 2004 mit.

5

Der Antragsteller legte dagegen Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid der Antragsgegnerin vom 2. September 2004 zurückgewiesen wurde. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt: Sowohl der Antragsteller als auch die Beigeladene hätten über mehrere Jahre die gleiche Beurteilung erhalten, so dass für die Auswahlentscheidung auf weitere, den Leistungsgrundsatz wahrende Hilfskriterien hätte zurückgegriffen werden müssen. Sie habe sich für das Dienstalter und das Dienstalter im Amt entschieden, bei denen die Beigeladene einen erheblichen Vorsprung aufzuweisen habe, so dass diese auszuwählen gewesen sei.

6

Am 15. September 2004 hat der Antragsteller bei Gericht Klage erhoben (1 A 340/04) und gleichzeitig um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

7

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt dieser Gerichtsakte, der Gerichtsakte 1 A 340/04 und den der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen.

8

II. Der zulässige Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz hat Erfolg.

9

Das Gericht kann gemäß § 123 Abs. 1 VwGO eine einstweilige Anordnung treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (§ 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO - Sicherungsanordnung). Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes zulässig, wenn die Regelung - insbesondere bei dauernden Rechtsverhältnissen - zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (§ 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO - Regelungsanordnung). Beide Formen der einstweiligen Anordnung setzen voraus, dass sowohl ein Anordnungsgrund als auch ein Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht werden (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 123 Rn. 6). Diese Voraussetzungen sind hier nicht insgesamt erfüllt.

10

1. Ein den Erlass einer einstweiligen Anordnung rechtfertigender Anordnungsgrund, die Dringlichkeit einer Entscheidung, ist gegeben. Denn durch die Übertragung der Planstelle an die Beigeladene und die beabsichtigte Ernennung der Beigeladenen würde der von der Antragstellerin geltend gemachte Anspruch auf fehlerfreie Auswahlentscheidung vereitelt werden. Mit Vollzug der beabsichtigten Übertragung der Planstelle wird zugleich die gerichtliche Überprüfung der schon getroffenen Auswahlentscheidung praktisch hinfällig.

11

2. Dem Antragsteller steht auch ein Anordnungsanspruch zur Seite. Die von der Antragsgegnerin getroffene Auswahlentscheidung ist rechtlich zu beanstanden.

12

Die Auswahlentscheidung des Dienstherrn unterliegt als Akt wertender Erkenntnis lediglich einer eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle. Die verwaltungsgerichtliche Nachprüfung beschränkt sich darauf, ob die Verwaltung den anzuwendenden Begriff oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei bewegen kann, verkannt hat oder ob sie von einem unrichtigen bzw. unvollständigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet, sachwidrige Erwägungen angestellt oder gegen Verfahrensvorschriften oder mit höherrangigem Recht vereinbare Richtlinien (Verwaltungsvorschrift) verstoßen hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.8.2001 - 2 A 3.00 -, DVBl 2002, 132; OVG Lüneburg, Beschl. v. 11. 8. 1995 - 5 M 7720/95 -, Nds.Rpfl. 1995, 280 und Beschl. vom 21.6.2002 - 5 ME 88/02 -).

13

Die Entscheidung des Dienstherrn über die Übertragung eines öffentlichen Amtes und bei der Beförderungsauswahl hat sich an dem Leistungsgrundsatz (Art. 33 Abs. 2 GG, § 7 BRRG und § 8 Abs. 1 NBG) zu orientieren, der besagt, dass die Auswahl unter den Bewerbern nach Eignung, Befähigung und fachlicher Leistung vorzunehmen ist. Bei der Beurteilung der Frage, welcher der Bewerber am besten geeignet und befähigt sowie am leistungsstärksten ist, hat der Dienstherr in erster Linie auf unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Dies sind regelmäßig die aktuellsten Beurteilungen. Haben die Bewerber dabei als Gesamturteil auf der jeweiligen Notenskala unterschiedliche Notenstufen erreicht, ist grundsätzlich der Bewerber mit der besseren Gesamtnote auszuwählen. Sind die Bewerber mit der gleichen Gesamtnote beurteilt, ist für die Auswahlentscheidung zunächst auf weitere unmittelbar leistungsbezogene Kriterien zurückzugreifen. Diese können sich aus sogenannten Binnendifferenzierungen innerhalb der Notenstufe und/oder aus der Bewertung der einzelnen Beurteilungsmerkmale oder aus älteren dienstlichen Beurteilungen ergeben, deren zusätzliche Berücksichtigung geboten ist, wenn eine Stichentscheidung unter zwei oder mehr aktuell im Wesentlichen gleich beurteilten Bewerbern zu treffen ist. Erst wenn alle diese unmittelbar leistungsbezogenen Erkenntnisquellen ausgeschöpft sind und die Bewerber immer noch im Wesentlichen gleich einzustufen sind, sind sogenannte Hilfskriterien heranzuziehen, bei denen der Dienstherr nicht an eine bestimmte Reihenfolge gebunden ist (vgl. hierzu im Einzelnen BVerwG, Urt. v. 21.8.2003 - 2 C 14.02 -, ZBR 2004, 101; Urt. v. 27.2.2003 - 2 C 16.02 -, NVwZ 2003, 1397; OVG Lüneburg, Beschl. v. 23.7.2004 - 5 ME 39/04 -; Beschl. v. 26.8.2003 - 5 ME 162/03 -, NVwZ-RR 2004, 197 [VG Oldenburg 03.11.2003 - 7 B 3797/03], jeweils m. w. N.).

14

Die hier angefochtene Auswahlentscheidung der Antragsgegnerin genügt den vorstehend dargelegten Anforderungen nicht.

15

Der Antragsteller und die Beigeladene haben in ihren aktuellen Beurteilungen vom 28. Juni 2004, hinsichtlich derer rechtlich erhebliche Fehler nicht vorgetragen oder ersichtlich sind, die gleiche Gesamtnote, nämlich „sehr gut“ erhalten. Auch die Binnendifferenzierung innerhalb der Gesamtnote, nämlich der Zusatz „oberer Bereich“, ist identisch. Diese Notendifferenzierung ist zwar nicht in der sogenannten Beurteilungs-AV des Ministeriums der Justiz vom 24. Oktober 1979 (Nds. Rpfl. S. 258) vorgesehen. Sie ist aber seit 1993 in der Justizverwaltung Niedersachsens üblich und bezeichnet neben den Zusätzen „unterer Bereich“ und „mittlerer Bereich“ Zwischenstufen innerhalb der Gesamtnote, die einen eindeutigen Aussagegehalt haben und deshalb zulässig sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.2.2003, a.a.O.). Schließlich sind der Antragsteller und die Beigeladene auch bei den einzelnen Beurteilungsmerkmalen der aktuellen Beurteilung identisch eingestuft worden.

16

Wenn angesichts dieser Übereinstimmungen bei der aktuellen Beurteilung die Antragsgegnerin bei der Auswahlentscheidung dann zunächst auf das Ergebnis von älteren Beurteilungen abstellt, steht dies zwar im Einklang mit den vom Bundesverwaltungsgericht in seinen Entscheidungen vom Februar und August 2003 präzisierten Auswahlgrundsätzen. Fehlerhaft ist es aber, dass die Antragsgegnerin lediglich die für einen drei bis vier Jahre zurückliegenden Zeitraum erteilten früheren Beurteilungen in den Blick genommen und sodann - bei festgestelltem „Gleichstand“ dieser Beurteilungen und unter Ausblendung noch älterer Beurteilungen - auf die leistungs- und eignungsbezogenen Hilfskriterien des Dienstalters und des Dienstalters im Amt abgestellt hat. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung vom 21. August 2003 ausdrücklich klargestellt, dass leistungs- und eignungsbezogene Hilfskriterien, nach denen die Auswahl erfolgen soll, erst bestimmt werden dürfen, wenn sich nach den vorrangigen Kriterien der aktuellen Beurteilung und sodann der früheren Beurteilungen kein Vorsprung für einen der Bewerber ergibt. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinen Entscheidungen zwar nicht ausdrücklich angesprochen, für welchen Zeitraum rückwirkend die Leistungsentwicklung anhand der früheren Beurteilungen betrachtet werden muss. Aus dem Gesamtzusammenhang der Entscheidungsgründe im Urteil vom 21. August 2003 ergibt sich aber, dass zumindest sämtliche Beurteilungen der Bewerber im zuletzt innegehabten Statusamt zu berücksichtigen sind. Betrachtet man diese, ist festzustellen, dass der Antragsteller als Justizamtsinspektor bereits für den Zeitraum März 1993 bis Juni 1998 mit der Note „sehr gut (mittlerer Bereich)“ beurteilt worden ist, während die Beigeladene als Justizamtsinspektorin im Zeitraum März 1993 bis Februar 1994 noch die Note „gut (oberer Bereich)“ und für den Zeitraum Februar 1994 bis Juni 1998 noch die Note „sehr gut (unterer Bereich)“ erhalten hat. Des Weiteren hat der Antragsteller bereits für den Zeitraum April 1999 bis Juli 2000 die Note „sehr gut (oberer Bereich)“ erhalten, während die Beigeladene für diesen Zeitraum nur die Note „sehr gut (mittlerer Bereich)“ erteilt bekommen hat. Diese eindeutig bessere Leistungsentwicklung des Antragstellers im letzten Statusamt eines Justizamtsinspektors ist - auch wenn sie über vier Jahre zurückliegt - bei der Auswahlentscheidung zu berücksichtigen, bevor auf sog. Hilfskriterien abgestellt wird. Dies gilt im vorliegenden Fall insbesondere deshalb, weil die von der Antragsgegnerin herangezogenen Hilfskriterien des Dienstalters und des Dienstalters im Amt auf über zehn Jahre zurückliegenden Ereignissen beruhen, also nur noch eine äußerst geringe Aussagekraft hinsichtlich einer Eignung und Befähigung der konkurrierenden Bewerber haben können.

17

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 2 GKG (Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 9 zuzüglich der Amtszulage gemäß Vorbemerkung Nr. 27 Abs. 1 a, bb der Anlage 1 zum BBesG x 6,5 ./. 2).