Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 16.12.2016, Az.: 1 AR (Ausl) 89/16

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der beiderseitigen Strafbarkeit nach § 3 Abs. 1 IRG

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
16.12.2016
Aktenzeichen
1 AR (Ausl) 89/16
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2016, 33192
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2016:1216.1AR.AUSL89.16.0A

Amtlicher Leitsatz

Bei der gerichtlichen Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung ist für die Beurteilung der Strafbarkeit nach deutschem Recht gemäß § 3 Abs. 1 IRG (i.V.m. § 78 Abs. 1 IRG) auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung abzustellen. Auf die Rechtslage zur Tatzeit oder zum Verhaftungszeitpunkt kommt es nicht an.

Tenor:

Die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der in dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Łomźa vom 28. April 2016 (Aktenzeichen: xxx) bezeichneten und dem nationalen polnischen Haftbefehl des Amtsgerichts in Łomźa vom 10. Februar 2012 (Aktenzeichen: xxx) zu Grunde liegenden Tat vom 2. August 2011 wäre zulässig.

Gründe

I.

Der Verfolgte wurde am 30. November 2016 zum Zweck der Vollstreckung einer noch vollständig zu verbüßenden Freiheitsstrafe wegen Betruges, zu der der Verfolgte durch Urteil des Amtsgerichts in Łomźa vom 5. März 2008 (Aktenzeichen: xxx) rechtskräftig verurteilt worden war, an die Justizbehörden Polens ausgeliefert. Zuvor hatte der Senat mit Beschluss vom 15. November 2016 (Az.: 1 AR (Ausl) 89/16) die Auslieferung des Verfolgten, der auf eine Einhaltung des Grundsatzes des Spezialität nicht verzichtet hatte, insofern für zulässig erklärt. Dem Beschluss des Senats vom 15. November 2016 lag ein Europäischer Haftbefehl des Bezirksgerichts in Łomźa vom 28. April 2016 (Aktenzeichen: xxx) zu Grunde.

Mit dem vorgenannten Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Łomźa vom 28. April 2016 (Aktenzeichen: xxx) haben die polnischen Justizbehörden nicht nur die - mittlerweile durchgeführte - Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Vollstreckung der vorgenannten Freiheitsstrafe wegen Betruges erstrebt, sondern erstreben sie zudem die Auslieferung des Verfolgten zum Zweck der Strafverfolgung wegen einer weiteren Tat. Soweit das Ersuchen die Strafverfolgung des Verfolgten betrifft, wird in dem Europäischen Haftbefehl mitgeteilt, dass ein Haftbefehl des Amtsgerichts in Łomźa vom 10. Februar 2012 (Aktenzeichen: xxx) gegen den Verfolgten besteht. Danach wird ihm vorgeworfen, am 2. August 2011 gegen 17:30 Uhr auf dem Weg zwischen B. und Ś. die Tatopfer M. B. und A. L. zur Duldung einer sexuellen Handlung gezwungen zu haben, indem er gegen ihren Willen ihre Brüste und andere intime Körperteile berührte.

Eine Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung des Verfolgten auch zum Zwecke der Strafverfolgung wegen der dem Haftbefehl des Amtsgerichts in Łomźa vom 10. Februar 2012 (Aktenzeichen: xxx) zu Grunde liegenden Tat vom 2. August 2011 hatte die Generalstaatsanwaltschaft zunächst nicht beantragt und war deshalb auch vom Senat in seinem Beschluss vom 15. November 2016 nicht getroffen worden. Denn dem Europäischen Haftbefehl war eine genaue Beschreibung der Umstände, unter denen diese Straftat begangen wurde, nicht zu entnehmen. Daher konnte nicht beurteilt werden, inwieweit der Verfolgte bei der Tat Gewalt angewendet hatte. Eine solche Beurteilung war aber nach der zum Zeitpunkt der Verhaftung des Verfolgten aufgrund des Europäischen Haftbefehls (11. Oktober 2016) geltenden Rechtslage zur Prüfung einer Strafbarkeit des dem Verfolgten zur Last gelegten Sexualdelikts nach deutschem Recht (§ 177 Abs. 1 StGB) und damit zur Prüfung der beidseitigen Strafbarkeit im Sinne von § 81 i. V. m. § 3 IRG erforderlich. Insofern hatte die Generalstaatsanwaltschaft Celle, nachdem der Verfolgte am 11. Oktober 2016 verhaftet und der Senat am 13. Oktober die Auslieferungshaft gegen ihn angeordnet hatte, unter dem 14. Oktober 2016 die polnischen Justizbehörden um ergänzende Informationen zu dem dem Verfolgten zur Last gelegten Tatgeschehen ersucht.

Im Hinblick auf den am 10. November 2016 in Kraft getretenen § 184i StGB (Sexuelle Belästigung) hat die Generalstaatsanwaltschaft Celle mit Zuschrift an den Senat vom 18. November 2016 nunmehr beantragt, ohne Rücksicht auf die noch ausstehende Antwort der polnischen Justizbehörden die Auslieferung auch zur Strafverfolgung wegen der Tat vom 2. August 2011 für zulässig zu erklären. Nach dem Inkrafttreten des § 184i StGB komme es für die Beurteilung einer Strafbarkeit nach deutschem Recht und damit der beiderseitigen Strafbarkeit im Sinne von § 81 i. V. m. § 3 IRG auf eine wie auch immer geartete Gewaltanwendung nicht mehr an, weil es genüge, wenn sich die Strafbarkeit nach deutschem Recht aus § 184i StGB ergebe.

Die Generalstaatsanwaltschaft Celle hat als zuständige Bewilligungsbehörde bereits mit Entschließung nach § 79 Abs. 2 Satz 1 IRG vom 18. Oktober 2016 erklärt, dass sie nicht beabsichtige, Bewilligungshindernisse geltend zu machen. Diese Entschließung ist dem Verfolgten in polnischer Übersetzung am 20. Oktober 2016 mit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen einer Woche zugestellt worden. Der Verfolgte hat hierauf nicht reagiert.

Dem Verfolgten ist mit Schreiben des Senats vom 23. November 2016, welches ihm am 30. November 2016 zugestellt worden ist, Gelegenheit gegeben worden, sich zu dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft vom 18. November 2016 binnen einer Frist von einer Woche zu erklären. Er hat sich hierzu nicht geäußert.

II.

Nachdem der Verfolgte am 30. November 2016 an die polnischen Behörden überstellt worden ist, ist der Antrag der Generalstaatsanwaltschaft vom 18. November 2016 nunmehr als Antrag auf Entscheidung gemäß § 35 Abs. 1 Nr. 1 IRG zu werten, dass die Auslieferung des Verfolgten wegen der weiteren Straftat vom 2. August 2011 zulässig wäre.

Diesem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft war zu entsprechen. Die Auslieferung des Verfolgten an die polnischen Justizbehörden zur Verfolgung wegen der Straftat vom 2. August 2011 wäre zulässig.

1. Die diesbezüglichen Angaben in dem Europäischen Haftbefehl des Bezirksgerichts in Łomźa vom 28. April 2016 (Aktenzeichen: xxx) genügen den Anforderungen aus § 78 Abs. 1 i.V.m. § 35 Abs. 1 IRG.

2. Die Auslieferungsfähigkeit der Straftat ist gegeben.

Das Tatgeschehen, das dem Verfolgten zur Last gelegt wird, ist sowohl nach polnischem Recht (Art. 197 § 2 polnisches Strafgesetzbuch) als auch nach deutschem Recht strafbar.

Die Strafbarkeit nach deutschem Recht folgt (zumindest) aus dem am 10. November 2016 in Kraft getretenen § 184i StGB. Danach ist strafbar, wer eine andere Person in sexuell bestimmter Weise körperlich berührt und dadurch belästigt, wenn nicht die Tat in anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht ist. Auf eine wie auch immer geartete Gewaltausübung, Drohung oder Ausnutzung einer schutzlosen Lage kommt es dabei nicht an.

Unerheblich ist, dass eine Strafbarkeit des dem Verfolgten zur Last gelegten Tathandelns nach § 184i StGB weder zum Tatzeitpunkt noch zum Zeitpunkt der Verhaftung des Verfolgten in Deutschland gegeben war, sondern erst mit dem Inkrafttreten dieser Strafnorm am 10. November 2016 begründet wurde. Für die auslieferungsrechtliche Beurteilung der Strafbarkeit nach deutschem Recht gemäß § 3 Abs. 1 IRG (i.V.m. § 78 Abs. 1 IRG) kommt es auf die Rechtslage zur Tatzeit oder zum Verhaftungszeitpunkt nicht an (vgl. Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 3 IRG Rn. 41).

Bei der gerichtlichen Entscheidung über die Zulässigkeit einer Auslieferung nach § 29 Abs. 1 IRG ist vielmehr auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Gerichtsentscheidung abzustellen (so auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 13. März 1985 - 1 AK 4/85, NJW 1985, 2096; Kubiciel, in: Ambos [Hrsg.], Rechtshilferecht in Strafsachen, 2015, § 3 IRG Rn. 29; vgl. auch Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 3 IRG Rn. 41), es sei denn, zu diesem Zeitpunkt sind bis zum Übergabezeitpunkt in Kraft tretende Gesetzesänderungen bereits bekannt, denn letztlich beurteilt sich die Zulässigkeit einer Auslieferung nach der Rechtslage zum Zeitpunkt der tatsächlichen Übergabe des Verfolgten an den ersuchenden Staat (OLG Celle, Beschluss vom 27. Februar 2008 - 1 ARs 23/07 (Ausl), NStZ-RR 2008, 245; Lagodny, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 3 IRG Rn. 21, § 32 IRG Rn. 16).

Sofern - wie hier - die Auslieferung bereits erfolgt ist und gemäß § 35 IRG über eine Erweiterung der Auslieferungsbewilligung zu befinden ist, kommt es für die Entscheidung des Oberlandesgerichts nach § 35 Abs. 1 Nr. 1 IRG auf den Zeitpunkt der gerichtlichen Beschlussfassung an (vgl. auch OLG Karlsruhe, Beschluss vom 13. März 1985 - 1 AK 4/85, NJW 1985, 2096).

Denn das Erfordernis der beiderseitigen Strafbarkeit dient nicht dem Vertrauensschutz des Verfolgten, nicht ausgeliefert zu werden (Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 3 IRG Rn. 16 ff.). Auch das Rückwirkungsverbot (Art. 103 Abs. 2 GG) steht deshalb einem Abstellen auf eine (sinngemäße) Strafbarkeit (auch) nach deutschem Recht zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht entgegen (Vogel/Burchard, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 3 IRG Rn. 10, 41).

Weil § 184i StGB seit dem 30. November 2016 in Kraft ist, kann mithin seither auch wegen der dem Verfolgten zur Last gelegten Straftat vom 2. August 2011 beiderseitige Strafbarkeit im Sinne des § 3 Abs. 1 IRG (i.V.m. § 78 Abs. 1 IRG) bejaht werden.

Die Tat ist nach dem Recht des ersuchenden Staates mit Freiheitsstrafe im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten, nämlich acht Jahren Freiheitsstrafe, bedroht (§ 81 Nr. 1 IRG). Anhaltspunkte für das Vorliegen von Verfolgungsverjährung nach dem Recht des ersuchenden Staates sind nicht gegeben.

Die Grundsätze der Gegenseitigkeit und der Spezialität werden durch die von EU-Staaten zu vollziehende innerstaatliche Transformation des insoweit bindenden RB-EuHB (vgl. Art. 27 RB-EuHB) gewährleistet. Einer besonderen Zusicherung des ersuchenden Staates bedarf es daher nicht (vgl. Böse, in: Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, § 82 IRG Rn. 2, 18; Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 82 IRG Rn. 2, 5).

3. Gründe, die der Auslieferung nach den Bestimmungen des IRG entgegenstehen könnten, sind nicht ersichtlich. Insbesondere besitzt der Verfolgte nicht die deutsche Staatsangehörigkeit.

4. Die Entschließung der Generalstaatsanwaltschaft, keine Bewilligungshindernisse nach § 83 b IRG geltend zu machen, hält der vom Senat nach § 79 Abs. 2 Satz 3 IRG vorzunehmenden Nachprüfung stand. Die Entscheidung ist aufgrund einer vollständig und zutreffend ermittelten Tatsachengrundlage getroffen worden und lässt Ermessenfehler nicht erkennen.

Das Oberlandesgericht überprüft die Bewilligungsentscheidung lediglich darauf, ob sie ermessensfehlerhaft getroffen wurde. Nach dem Willen des Gesetzgebers steht der Bewilligungsbehörde hierbei ein sehr weites Ermessen zu, das gerichtlich nur sehr eingeschränkt überprüft werden kann. Unter Berücksichtigung dieses weiten Ermessens ist erforderlich, dass die nach § 79 Abs. 2 Satz 2 IRG zu begründende Vorabentscheidung dem Oberlandesgericht die gebotene Überprüfung ermöglicht, ob die Bewilligungsbehörde die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 83b IRG zutreffend beurteilt hat und sich bei Vorliegen von Bewilligungshindernissen des ihr eingeräumten Ermessens unter Berücksichtigung aller in Betracht kommenden Umstände des Einzelfalls bewusst war. In die Ermessensabwägung dürfen keine die Entscheidung maßgeblich beeinflussenden unzulässigen Erwägungen eingestellt werden, die wesentlichen Gesichtspunkte müssen ausdrücklich bedacht und die in dem Bescheid aufgeführten und erkannten Gesichtspunkte müssen abwägend gegenüber gestellt werden (vgl. nur OLG Celle, Beschluss vom 18. März 2015 - 1 Ausl 6/15, StV 2016, 238; Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 5. Aufl. 2012, § 79 IRG Rn. 10 m.w.N.; BT-Drucks. 16/1024 S. 11, 13). Diesen Anforderungen wird die getroffene Entschließung gerecht.

Die Voraussetzungen für eine Ablehnung der Bewilligung der Auslieferung nach § 83b Abs. 1 IRG liegen nicht vor. Hinsichtlich der Möglichkeit, eine Auslieferung nach § 83b Abs. 2 IRG nicht zu bewilligen, hat die Generalstaatsanwaltschaft erkannt und berücksichtigt, dass der Verurteilte - jedenfalls seinen eigenen Angaben zufolge - seit fünf Jahren seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat und hier bis zu seiner Verhaftung aufgrund des Europäischen Haftbefehls einer Tätigkeit als Trockenbauer nachging. Die Generalstaatsanwaltschaft hat ferner berücksichtigt, dass ausweislich der Angaben des Verfolgten auch sein Vater in Deutschland lebt. Es ist von Rechts wegen nicht zu beanstanden, dass die Generalstaatsanwaltschaft als Ergebnis einer Gesamtabwägung gleichwohl eine positive Bewilligungsentscheidung beabsichtigt. Insofern hat die Generalstaatsanwaltschaft zu Recht berücksichtigt, dass der Verfolgte in Deutschland über keinen festen Wohnsitz verfügt, sondern zuletzt beim einem Landwirt in I. aufhältig war, ohne dort amtlich gemeldet zu sein. Die Generalstaatsanwaltschaft durfte zudem maßgeblich darauf abstellen, dass der Verfolgte die Straftat, die ihm zur Last gelegt wird, in Polen verübt haben soll.