Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 24.02.2017, Az.: 10 B 1200/17

Wiederaufnahmegesuch; Zuständigkeitsübergang

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
24.02.2017
Aktenzeichen
10 B 1200/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54085
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Ein Zuständigkeitsübergang nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III VO tritt erst ein, wenn die in Abs. 2 der Vorschrift genannten Ausschlussfristen überschritten werden. Ein bloß verzögert (nicht so bald wie möglich) gestelltes Wiederaufnahmegesuch löst den Zuständigkeitsübergang nicht aus.
2. Weiterhin (02/2017) systemische Mängel im Aufnahmesystem Italiens, die eine Abschiebung nach § 34 a Abs. 1 AsylG unmöglich machen.

Tenor:

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 3. Februar 2017 gegen die in dem Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Januar 2017 ausgesprochene Abschiebungsanordnung wird angeordnet.

Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die Anordnung seiner Abschiebung nach Italien im Rahmen eines sog. Dublin-III-Verfahrens.

Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben malischer Staatsangehöriger. Er reiste ebenfalls eigenen Angaben zufolge am 26. September 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und meldete sich ausweislich der von ihm vorgelegten Bescheinigung am 29. Februar 2016 als Asylsuchender. Am 1. September 2016 wurde sein formeller Asylantrag aufgenommen; dabei wurde der Antragsteller erkennungsdienstlich behandelt. In der Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge der Antragsgegnerin gab der Antragsteller an, Mali im Jahr 2014 verlassen zu haben und u. a. über die Niger, Libyen und Italien in die Bundesrepublik gereist zu sein.

Die Überprüfung der Fingerabdrücke des Antragstellers im EURODAC-System ergab, dass er am 4. August 2014 in Italien einen Asylantrag gestellt hatte und dort erkennungsdienstlich behandelt worden war. Unter dem 28. Oktober 2016 richtete die Antragsgegnerin daher ein Übernahmeersuchen an Italien, auf das die zuständige italienische Behörde in der Folgezeit nicht reagierte.

Mit Bescheid vom 24. Januar 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab, befristete das gesetzliche Wiedereinreiseverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf sechs Monate und ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an.

Der Antragsteller hat am 3. Februar 2017 Klage erhoben – 10 A 1198/17 – und gleichzeitig um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Zur Begründung seiner Klage und des Antrags auf vorläufigen Rechtsschutz macht er im Wesentlichen geltend, dass die Antragsgegnerin für die Prüfung seines Schutzgesuchs originär zuständig sei, da sie das Übernahmeersuchen an Italien nicht im Sinne von Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO so bald wie möglich gestellt habe.

Ihm drohe außerdem bei einer Zurückschiebung nach Italien aufgrund systemischer Mängel des dortigen Asylverfahrens eine Verletzung seiner Rechte aus Art. 4 der Europäischen Grundrechtecharta bzw. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention drohe.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seiner zum Aktenzeichen 10 A 1198/17 erhobenen Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 24. Januar 2017 ausgesprochene Abschiebungsanordnung anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Der Inhalt sämtlicher Akten war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Die Entscheidung ergeht aufgrund von § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG durch den Berichterstatter als Einzelrichter.

I. Der zulässige Antrag ist begründet. Das Verwaltungsgericht kann die aufschiebende Wirkung der Klage nach § 80 Abs. 5 VwGO anordnen, wenn das Interesse des betroffenen Ausländers, von einem Vollzug der Abschiebungsanordnung vorläufig verschont zu bleiben, gegenüber dem öffentlichen Interesse an dem gesetzlich angeordneten Vollzug der Abschiebungsandrohung überwiegt. Hier überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Denn nach der im vorliegenden Verfahren lediglich gebotenen summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit der angeordneten Abschiebung des Antragstellers nach Italien.

Die Antragsgegnerin stützt ihre Entscheidungen auf § 29 Abs. 1 Nr. 1, § 34 a Abs. 1 AsylG. Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von EU-Recht oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG ordnet das Bundesamt, wenn der Ausländer in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat abgeschoben werden soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann.

Zwar liegt die erste dieser Voraussetzungen vor. Da der Antragsteller seinen Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes nach dem 1. Januar 2014 gestellt hat, sind nach Art. 49 Abs. 2 Satz 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 (vom 29.6.2013, Abl. L 180) – Dublin III-VO – die Vorschriften dieser Verordnung anzuwenden. Danach ist Italien gem. Art. 13 Abs. 1, Art. 22 Abs. 7 bzw. 25 Abs. 2 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig.

Die Antragsgegnerin ist auch nicht aufgrund von Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden. Insofern geht das Gericht davon aus, dass Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO zwar die Verpflichtung der Antragsgegnerin begründet, ein Wiederaufnahmeersuchen unverzüglich zu stellen, der Zuständigkeitsübergang nach Art. 23 Abs. 3 Dublin III-VO jedoch nur dann eintritt, wenn die (Maximal-)Fristen des Art. 23 Abs. 2 Dublin III-VO überschritten werden, während es folgenlos bleibt, wenn das Wiederaufnahmeersuchen zwar verzögert, aber innerhalb der dort formulierten Fristen gestellt wird. Die Frist des Art. 23 Abs. 2 Dublin-III-VO (zwei Monate ab EURODAC-Treffer) hat die Antragsgegnerin hier eingehalten.

Es steht jedoch nicht fest, dass die Abschiebung im Sinne von § 34 a Abs. 1 AsylG durchgeführt werden kann. Denn nach Auffassung des Gerichts ist eine Überstellung nach Italien gegenwärtig unzulässig, weil es im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller dort systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich brächten, und die Antragsgegnerin die angefochtene Abschiebungsanordnung getroffen hat, ohne vorher eine – substantiierte – Erklärung der italienischen Behörden einzuholen, eine solche Behandlung des Antragstellers wirksam auszuschließen.

Ein systemischer Mangel im Sinne des Art. 3 Abs. 2 der Dublin III-VO und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil der Großen Kammer vom 14.11.2013 – Rs. C-4/11, Puid –, NVwZ 2014, 129 Rn. 30) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Urteil vom 4.11.2014 – Nr. 29217/12, Tarakhel –) ist eine Systemstruktur oder eine fehlende Struktur im staatlichen Asylverfahren, die als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung dazu führt, dass Fälle, die diese Systemstelle durchlaufen, Rechtsverletzungen verursachen (vgl. eingehend Lübbe, ZAR 3/2014, S. 107). Das ist etwa dann anzunehmen, wenn die reale, nämlich durch eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage belegte Gefahr besteht, dass dem Betroffenen in dem Mitgliedstaat, in den er überstellt werden soll, entweder schon der Zugang zu einem Asylverfahren, welches nicht mit grundlegenden Mängeln behaftet ist, verwehrt oder massiv erschwert wird, das Asylverfahren selbst an grundlegenden Mängeln leidet oder dass der Mitgliedsstaat während der Dauer des Asylverfahrens wegen einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementare Grundbedürfnisse des Menschen (wie z.B. Unterkunft, Nahrungsaufnahme und Hygienebedürfnisse) nicht in einer noch zumutbaren Weise befriedigen kann (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – 1 A 21/12.A –, juris). Sind in diesem Zusammenhang bestimmte Anforderungen in EU-Richtlinien festgelegt worden, kann sich (konkretisierend) auch daraus der im Sinne der angesprochenen Artikel für ein menschenwürdiges Dasein einzuhaltende Maßstab ergeben, soweit es sich dabei erkennbar um Mindestanforderungen handelt. Hieran muss sich dann nicht nur der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade die praktische Umsetzung messen lassen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 – a. a. O. –).

Nach diesem Maßstab und der gefestigten Rechtsprechung der Kammer (vgl. bspw. Urteile vom 4.2.2015 – 10 A 5852/15 –; vom 7.9.2015 – 10 A 13369/14 –, Beschluss vom 2.11.2016 – 10 B 6349/16 –) ist bei summarischer Prüfung von einer grundlegend defizitären Ausstattung mit den notwendigen Mitteln elementarer Grundbedürfnisse des Menschen und damit vom Vorliegen systemischer Mängel des italienischen Asylsystems auszugehen. Es gibt – nach wie vor – belastbare Anhaltspunkte für das Bestehen von erheblichen Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung rückgeführter Ausländer in Italien. Es ist nicht auszuschließen, dass eine erhebliche Zahl Asylsuchender ohne Unterkunft bleibt oder in überfüllten Einrichtungen ohne jede Privatsphäre oder sogar in einer gesundheitsgefährdenden oder gewalttätigen Umgebung untergebracht werden (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 –, juris; EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 106 ff.).

Die Feststellung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in dessen Urteil vom 4. November 2014 (– Nr. 29217/12 –, juris) dass die Ausgestaltung der Aufnahmebedingungen in Italien „für sich genommen kein Hindernis für sämtliche Abschiebungen von Asylsuchenden in dieses Land darstelle“, ist angesichts der zugleich getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht dahingehend zu verstehen, dass dort keine systemischen Mängel im Sinne defizitärer Strukturen vorlägen, sondern dass im Gegenteil dem Grunde nach systemische Mängel bestehen, die auch geeignet sind, bei unbeeinflussten Geschehensablauf zu einer Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK zu führen. Denn der EGMR erachtet eine Überstellung (nur dann) als möglich, wenn eine Rechtsverletzung aufgrund dieser systemischen Mängel durch eine individuelle Garantieerklärung der italienischen Behörden ausgeschlossen ist. Die Garantieerklärung ist gerade die Einzelfallreaktion auf das systemische Defizit, das zwar ein Indikator, aber – wie vorstehend ausgeführt – keine hinreichende Bedingung für eine drohende Rechtsverletzung ist.

Auch eine drohende Verletzung der Rechte aus Art. 3 EMRK durch die systemischen Mängel im italienischen Aufnahmesystem ist anzunehmen. Sie wird aus Sicht des Gerichts angesichts der Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in der Rechtssache Tarakhel nicht schon grundsätzlich ausgeschlossen, wenn Personen nach Italien rücküberstellt werden, die nicht zu den Gruppen besonders schutzbedürftiger Personen gehören. Die Verhältnisse, in die solche Personen überstellt werden, sind nicht besser als bei schutzbedürftigen Personen. Im Gegenteil ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Antragsteller gar keine Unterkunft in Italien findet, sogar höher als bei Familien mit Kindern. Denn Familien mit Kindern werden nach Angaben der italienischen Regierung im Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als besonders schutzbedürftige Personen behandelt und normalerweise in das SPRAR-Netzwerk übernommen, das ihnen anscheinend Unterkunft, Nahrung, Gesundheitsversorgung, Italienischkurse, die Vermittlung an soziale Dienste, Rechtsberatung, Berufsbildung, Lehrstellen und Unterstützung bei der Suche einer eigenen Unterkunft garantiert (vgl. EGMR, Urteil vom 4.11.2014 – a. a. O. –, Rn. 121). Derartige Garantien werden männlichen alleinstehenden Asylsuchenden wie dem Antragsteller nicht gegeben. Angesichts der offensichtlichen Kapazitätsengpässe sind seine Chancen auf Unterbringung deshalb sogar geringer, je mehr der ohnehin knappen Unterkünfte vorrangig an Familien mit Kindern vergeben werden.

Es ist auch nicht anzunehmen, dass die Rechte aus Art. 3 EMRK einer Person wie der des Antragstellers – anders als schutzbedürftigen Personen – nur ein derartig geringes Schutzniveau garantieren, dass es in seinem Fall keine Verletzung dieser Rechte darstellen würde, wenn er unter den beschriebenen Umständen nach Italien überstellt würde, ohne dass die italienischen Behörden eine Garantieerklärung abgeben, dass ihm eine angemessene Unterkunft bereitgestellt wird.

Soweit die 3. Kammer des EGMR mit Beschluss vom 5. Februar 2015 – Nr. 51428/10, A. M. E. – die Beschwerde eines jungen männlichen Asylsuchenden ohne abhängige Angehörige gegen seine Rückführung nach Italien als offensichtlich unbegründet verworfen hat, weil „kein hinreichend reelles und unmittelbares Risiko erkennbar [sei], das die Schwelle zu einer Eröffnung des Schutzbereichs von Artikel 3 EMRK erreicht“, vermag die Kammer dieser Auffassung nicht zu folgen. Der EGMR hat in dieser Entscheidung ohne weitere erkennbare Aufklärung des Sachverhalts „keinen Anhalt“ für die Vermutung gesehen, dass der Kläger außerstande sein würde, die „zur Verfügung stehenden Ressourcen für Asylsuchende“ in Anspruch zu nehmen oder dass die italienischen Behörden nicht in angemessener Weise auf seine Bedürfnisse eingehen würden (sämtlich zitiert nach EGMR, Beschluss vom 5.2.2015 – A. M. E. –, Rn. 36 des amtl. Abdrucks). Dies widerspricht den Feststellungen des Gerichtshofs in der Rechtssache Tarakhel, dass jedenfalls hinsichtlich der zur Verfügung stehenden Unterkünfte die Ressourcen in Italien derart knapp bemessen sind, dass es nicht genügt, Familien mit Kindern generell bevorzugt zu behandeln, sondern einer individuellen Zusicherung der geordneten Unterbringung bedarf. Dass angesichts dessen alleinstehenden (jungen männlichen) Asylsuchenden – denen nicht einmal die abstrakt zugesicherte bevorzugte Versorgung zu Teil wird – offenkundig keine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 3 EMRK drohen soll, ist für die Kammer nicht nachvollziehbar.

Das Gericht sieht auch keinen tatsächlichen Anhaltspunkt, von dieser Rechtsprechung abzurücken. Es teilt nicht die Auffassung des 11. Senates des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 25.6.2015 – 11 LB 248/14 –, Rechtsprechungsdatenbank des Nds. OVG = juris Rn. 53 ff.) dass es in Italien zwar nach wie vor zu Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung von Asylbewerbern komme, Italien auf die hohe Zahl an Bootsflüchtlingen aber adäquat reagiere, so dass auch der Anstieg der Zahl der Asylanträge im Jahr 2014 auf über 64.000 gegenüber 26.000 im Jahr 2013 (Quelle: Eurostat) nicht darauf schließen lasse, dass Italien mit der Unterbringung der Flüchtlinge überfordert sei (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 25.6.2015 – a.a.O. –, Rn. 53). Denn die von Eurostat ermittelten Flüchtlingszahlen, auf die der 11. Senat seine Bewertung im Hinblick auf das Asyl- und Aufnahmesystem in Italien im Wesentlichen stützt, erfassen nur die Personen, die ihre Verbalizzazione, d. h. eine formelle Registrierung, haben durchführen lassen. Die Zahl der tatsächlich eingereisten Migranten und Asylsuchenden liegt wesentlich höher. Im Jahr 2014 wurden in Italien insgesamt 170.000 einreisende Migranten und Asylsuchende erfasst (vgl. International Organization for Migration: Migrant Arrivals by Sea in Italy Top 170,000 in 2014 vom 16.1.2015, https://www.iom.int//migrant-arrivals-sea-italy-top-170000-2014, abgerufen am 20.10.2016). Im Jahr 2015 waren es insgesamt 153.842 einreisende Migranten und Asylsuchende (Bericht des UNHCR: Europe refugees & migrants emergency response, nationality of arrivals to Greece, Italy and Spain, January – December 2015, S.1, http://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/MonthlyTrendsofNatio​nalities-ArrivalstoGreeceItalyandSpain-31December2015.pdf). Von den von Januar bis August 2015 angekommenen 108.000 Flüchtlingen in Italien, beantragten (nur) 44.784 Personen Asyl (http://www.stol.it/Artikel/Politik-im-Ueberblick/Politik/Italien-lehnte-2015-Haelfte-der-Asylantraege-ab vom 26.8.2015, abgerufen am 20.10.2016). Insofern geht das Gericht nach wie vor davon aus, dass zwar ein erheblicher Teil, aber nicht alle der bisher nicht registrierten Flüchtlinge in andere Länder weiterziehen und neben den bereits registrierten Antragstellern weitere Antragsteller bereits eine Verbalizzazione eingereicht haben oder jederzeit einreichen könnten.

Weder der 11. Senat in seinem oben zitierten Urteil vom 25. Juni 2015 (a. a. O.) noch die darin in Bezug genommenen – überwiegend aus dem Jahr 2013 sowie dem ersten Halbjahr 2014 stammenden – Entscheidungen der Obergerichte anderer Bundesländer setzen sich mit diesen Entwicklungen und den andauernd zu erwartenden erneuten Kapazitätsengpässen bei der Unterbringung von Asylbewerbern substantiiert auseinander. Dabei sind solche Engpässe evident: Der 11. Senat geht selbst von 29.492 zu Ende Dezember 2014 zur Verfügung stehenden Unterkunftsplätzen aus (9.592 Plätze in den CPSA/CDA/CARA und 19.900 Plätze in den SPRAR), denen 2014 64.000 und schon in den ersten acht Monaten des Jahres 2015 44.784 Antragsteller gegenüberstanden. Die Erwägung des Senats, die Überbelegung der CARA um rechnerisch 15 v. H. in der Vergangenheit sei gerade Ausdruck dafür, dass den italienischen Stellen das Schicksal der Flüchtlinge nicht gleichgültig sei, sondern dass sie unter Ausschöpfung von Unterbringungsreserven ein Obdach erhalten, vermag die Kammer angesichts der schon für registrierte Antragsteller nach wie vor unzureichenden Unterkunftsplätze nicht zu teilen. Die eben genannten Zahlen haben sich nach Auskunft des Auswärtigen Amtes an das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen vom 23. Februar 2016 auch in der Zwischenzeit nicht signifikant verändert. Danach bieten die CARA/CDA-Aufnahmelager derzeit etwa 11.000 Plätze, während das SPRAR-System über mindestens 20.000 Unterbringungsplätze verfügt. Soweit ausgeführt wird, dass Asylbewerbern, die im Rahmen eines Dublin-Verfahrens nach Italien zurückgeführt werden, grundsätzlich nach ihrer Ankunft eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wird und sie in der Regel eine solche in einem entsprechenden Aufnahmezentrum erhalten, wird diese Information durch den Country Report Italy der Asylum Information Database (AIDA-Report von Dezember 2015, S. 63 f.) in Bezug auf Dublin-Rückkehrer, denen noch kein Schutzstatus zuerkannt wurde, weiter konkretisiert. Danach entstünden aufgrund des Mangels von Aufnahmekapazitäten lange Wartezeiten, bis Schutzbedürftige einen Platz in einer Aufnahmeeinrichtung fänden. Zwar könne ein Dublin-Rückkehrer, der während seiner Anwesenheit in Italien schon einmal in einem Aufnahmezentrum (CARA oder SPRAR) untergebracht war, dort wieder aufgenommen werden; dies dauere in den meisten Fällen jedoch sehr lange. Die genaue Zeitspanne könne mangels einer allgemeinen Übung nicht genau bemessen werden. Der AIDA-Report (a. a. O.) führt weiter aus, dass in den letzten Jahren zwar elf durch den European Refugee Fund (ERF) finanzierte temporäre Unterbringungskapazitäten für Dublin-Rückkehrer geschaffen worden seien, in denen 443 Dublin-Rückkehrer aufgenommen werden könnten (vgl. S. 64). Es käme jedoch vor, dass Dublin-Rückkehrer hier nicht aufgenommen würden und alternative Unterbringungsmöglichkeiten wie selbst organisierte Siedlungen finden müssten. Abgesehen davon genügen diese 443 Unterbringungsplätze schon nicht, um die allein aus Deutschland im ersten Halbjahr 2015 tatsächlich überstellten Personen (228 im 1. Quartal 2015, 205 im 2. Quartal 2015; vgl. BT-Drs. 18/5785 S. 24 f.) unterzubringen, geschweige denn die Antragsteller, deren Überstellung Italien zugestimmt oder zuständigkeitsbegründend nicht widersprochen hat (1. Quartal 2015: 2.403; 2. Quartal 2015: 2.175 ; vgl. BT-Drs. 18/5785, S. 28 f.).

Darüber hinaus führt auch der Hinweis auf nicht näher bezifferte Unterkünfte in kirchlicher oder freier Trägerschaft zu keinem anderen Ergebnis, da eine Unterbringung in diesen Unterkünften nicht an die vorherige Registrierung geknüpft ist. Sie stehen daher nicht nur zur Deckung der Lücken in den staatlichen Unterbringungssystemen für Antragsteller zur Verfügung, sondern können potentiell von allen schutzbedürftigen Personen beansprucht werden – also nicht nur von den 149.117 Personen, die bis Oktober 2016 nach Italien eingereist sind, sondern auch von allen Personen, die in den Vorjahren eingereist sind und deren Verfahren längst abgeschlossen ist. Angesichts dessen ist auch die nicht näher aufgeschlüsselte Angabe von 85.000 untergebrachten Schutzsuchenden – bei „nur“ 44.784 registrierten Asylanträgen (vgl. http://www.stol.it/​Artikel/Politik-im-Ueberblick/Politik/Italien-lehnte-2015-Haelfte-der-Asylantraege-ab vom 26.8.2015; abgerufen am 20.10.2016) – nicht geeignet, die Zweifel an der Unterbringungssituation in Italien zu zerstreuen. Die Zahlen der über die zentrale Mittelmeerroute nach Italien einreisenden Flüchtlinge sind im Jahr 2016 gegenüber dem Vorjahreszeitraum weiter gestiegen (149.117 Personen in den ersten drei Quartalen 2016 gegenüber 140.987 im Vorjahr, vgl. http://data.unhcr.org/mediterranean/.php​?id=2122). Ihnen standen im Februar 2016 105.248 Plätze in staatlichen Unterbringungseinrichtungen gegenüber, die keineswegs nur für die im laufenden Jahr eingereisten Antragsteller ausreichen müssen, sondern auch für die bereits im Land befindlichen Antragsteller, deren Verfahren nicht abgeschlossen ist.

Auch dass die Neufassungen der Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU und der Aufnahmerichtlinie 2013/33/EU in das italienische Recht übernommen sind (vgl. SFH, Auskunft an das OVG Nordrhein-Westfalen vom 7. April 2016, S. 2), ist keine hinreichende Grundlage für die Annahme, dass das Asylverfahren in Italien inzwischen richtlinienkonform ist (so aber OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 18.7.2016 – 13 A 1859/14.A –). Denn maßgeblich ist nicht der Inhalt nationaler Rechtsvorschriften, sondern auch und gerade deren praktische Umsetzung (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 7.3.2014 - 1 A 21/12.A -, juris). Diese ist nach wie vor defizitär.

Nach dem neuesten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe „Aufnahmebedingungen in Italien“ von August 2016 (https://www.fluechtlingshilfe.ch/assets/news/ 2016/160815-sfh-bericht-italien-aufnahmebedingungen-final.pdf) bestehen bei der Unterbringung von Asylsuchenden und Schutzberechtigten in Italien nach wie vor (systemische) Defizite, die auf einer systematischen Verletzung der den Asylsuchenden nach der ARL und der QRL zustehenden Rechte beruhen. Es sei zwar die Anzahl der Unterbringungsplätze erheblich erhöht worden; da jedoch auch die Zahl der Personen, die untergebracht werden müssten, stark angestiegen sei, reiche die Kapazität weiterhin – wie vorstehend dargelegt – nicht aus. Italien verletze seine Verpflichtungen aus dem EU-Asylacquis insgesamt und insbesondere die Pflichten in Bezug auf Information der Betroffenen beim Zugang zur Gesundheitsversorgung sowie der Berücksichtigung der Bedürfnisse besonders verletzlicher Personen. Auch das Fehlen von Unterstützung von Asylsuchenden und Schutzberechtigten könne zu einer Verletzung von Art. 3 EMRK führen.