Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 20.02.2017, Az.: 19 B 998/17

Abänderungsantrag; Aufenthaltserlaubnis; Ausweisung; Ausweisungsinteresse; Bleibeinteresse; Prognose; Prognoseentscheidung; vorläufiger Rechtsschutz; Wiederholungsgefahr

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
20.02.2017
Aktenzeichen
19 B 998/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 54237
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Bei der Prognose der Wiederholungsgefahr in ausländerrechtlichen Verfahren sind weder die Ausländerbehörde noch das Verwaltungsgericht an die Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer gebunden.
Die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom19. Oktober 2016 - 2 BvR 1943/16 -, NVwZ 2017, 229, juris Rdnr. 21) bestehende erhebliche indizielle Bedeutung der Strafaussetzung zur Bewährung kann für die Prognose der Wiederholungsgefahr im ausländerrechtlichen Verfahren (Ausweisungsverfahren) zurücktreten, wenn sich die Strafvollstreckungskammer mit wesentlichen Umständen, die für die ausländerrechtliche Prognoseentscheidung erheblich sind, nicht oder nicht hinreichend auseinandergesetzt hat (Nds. Oberverwaltungsgericht Beschluss vom 23. März 2017, - 11 ME 72/17 -).

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5000,00 Euro festgesetzt.

Gründe

I.

Der am F. in Samsun/Türkei geborene Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage gegen die Ablehnung der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis und die Androhung seiner Abschiebung.

Der Antragsteller ist türkischer Staatsangehöriger. In der Türkei absolvierte er eine Ausbildung als Friseur und war in diesem Beruf dort auch erwerbstätig. Nachdem er im Jahre 2009 als Tourist in die Bundesrepublik Deutschland eingereist war, heiratete er am G. 2009 eine türkischstämmige deutsche Staatsangehörige. Ein im Dezember 2012 geborenes gemeinsames Kind besitzt sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsangehörigkeit. Die Ehefrau des Antragstellers ist schwanger; voraussichtlicher Entbindungstermin ist der 24. April 2017. Der Antragsteller hatte im Bundesgebiet als Ungelernter vier befristete Beschäftigungsverhältnisse.

Im August 2013 eskalierte ein Konflikt zwischen der Ehefrau des Antragstellers und deren Halbbruder um das Erbe des gemeinsamen Vaters. Der Antragsteller stellte - begleitet von seiner Ehefrau und einem Cousin - seinen Schwager zur Rede und stach ihn nieder; dieser überlebte nach einer Notoperation. Das Landgericht Hannover verurteilte am 28. Februar 2014 den Antragsteller wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 5 Jahren (Az.: 39 Ks 4171 Js 68947/13); seine Ehefrau wurde als Mittäterin zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Der Antragsteller befand sich (wohl) bis zum 20. Dezember 2016 in Strafhaft; seine Familie, mit der er wieder zusammenlebt, hielt während der Strafhaft Kontakt zu ihm. Nach dem Vollzugsplan vom 04. November 2015 wurden dem Antragsteller keine Vollzugslockerungen zugebilligt und auch am 04. Mai 2016 wurde ihm die Eignung für den offenen Vollzug abgesprochen. Auf entsprechenden Beschluss der Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hildesheim vom 28. Juni 2016 erstellte der Dipl.-Psych. H., I., unter dem 27. September 2016 ein psychologisches Sachverständigengutachten über den Antragsteller zu der Frage, ob bei diesem keine Gefahr mehr bestehe, dass dessen durch die Tat zu Tage getretene Gefährlichkeit fortbestehe. Der Gutachter verneinte auf der Grundlage einer am 22. September 2016 durchgeführten psychodiagnostischen Untersuchung des Antragstellers die Frage. Das Landgericht Hildesheim setzte daraufhin mit Beschluss vom 03. November 2016 (Az.: 23 StVK 746/16) die Vollstreckung des Restes der nach Verbüßung von zwei Dritteln noch nicht vollstreckten Freiheitsstrafe aus der oben genannten Verurteilung des Landgerichts Hannover zur Bewährung aus.

Der Antragsteller hatte am 06. März 2014 die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis beantragt.

Nach vorheriger Anhörung lehnte die Antragsgegnerin mit angegriffenem Bescheid vom 24. Juni2016 die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis ab, wies den Antragsteller aus, befristete die Wirkungen dieser Ausweisung sowie einer Abschiebung auf sechs Jahre und drei Monate und drohte ihm die Abschiebung an.

Der Antragsteller hat am 18. Juli 2016 Klage erhoben (zunächst: 13 A 4030/16, nunmehr 19 A 93/17), über die bislang nicht entschieden ist; gleichzeitig hat er um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht (13 B 4031/16). Durch Beschluss des Einzelrichters vom 02. September 2016 wurde der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt; die hiergegen erhobene Beschwerde wies das niedersächsische Oberverwaltungsgericht mit Beschluss 19. Oktober 2016 zurück (11 ME 203/16).

Der Antragsteller sucht mit einem Abänderungsantrag vom 30. Januar 2017 um die Gewährung (weiteren) vorläufigen Rechtsschutzes nach. Zur Begründung lässt er im Wesentlichen ausführen, die spezifischen Voraussetzungen für den Abänderungsantrag seien gegeben, denn weder die erkennende Kammer in dem vorausgegangenen erstinstanzlichen Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes noch das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht hätten das Gutachten des Diplom-Psychologen H. zur Grundlage ihrer Entscheidung machen können. Erst mit Schriftsatz vom 27. Oktober 2016 sei das Gutachten dem Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht zugeleitet worden. In der Sache werde auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes in dem Verfahren 2 BvR 1943/16 vom 19. Oktober 2016 verwiesen.

Der Antragsteller beantragt,

unter Aufhebung des Beschlusses des Verwaltungsgerichts Hannover vom 02.09.2016 (13 B 4031/16) und des Beschlusses des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 19.07.2016 (11 ME203/16) die aufschiebende Wirkung seiner Klage vom 18.07.2016 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie hält entgegen, das psychologische Gutachten, auf welches sich die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer wesentlich stütze, setze sich mit der Anlasstat inhaltlich kaum auseinander. Es bleibe in der Bewertung des Tatgeschehens als wesentlichen Umstand des Einzelfalles hinter dem angefochtenen Bescheid zurück und gehe nicht darauf ein, dass der Antragsteller das Tatopfer nach dem ersten Angriff weiterverfolgt und er versucht habe, das Verbrechen so darzustellen, als habe das Tatopfer ihn - den Antragsteller - angegriffen. Das Gutachten beschäftige sich ferner nicht eingehend mit der Tatsache, dass Auslöser für die Handlung ein lang anhaltender Familienstreit sei. Das Gutachten gebe zwar wieder, dass der Antragsteller „sehr viel Wut“ auf das Tatopfer aufgestaut habe; es löse aber nicht auf, inwiefern der Antragsteller nunmehr dem Konflikt ausweichen werde, zumal die Ursache des Familienstreits offenbar nicht beseitigt worden sei. Das Gutachten setze sich auch nicht substantiiert mit den in der Strafhaft geübten „Trainingsmaßnahmen“ zum Thema Konfliktlösung auseinander, sondern gebe lediglich die Angaben des Antragstellers wieder. Schließlich werde völlig ausgeklammert, dass der Antragsteller das Tatopfer nicht etwa nur körperlich angegriffen, sondern es beinahe getötet habe. Die geschilderten Umstände sprächen für eine Wiederholungsgefahr im Hinblick auf das betroffene Rechtsgut der körperlichen Unversehrtheit.

Die Kammer hat das Verfahren des vorläufigen Rechtschutzes mit Beschluss vom 30. August 2016 dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der bei-gezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

Der zulässige Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist nicht begründet.

Der Änderungsantrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist zulässig. Demnach können die Beteiligten die Aufhebung oder Änderung von Beschlüssen nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Vorliegend sind das psychologischen Gutachten und der Beschluss der Strafvollstreckungskammer, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, ohne Verschulden im ursprünglichen Verfahren nicht geltend gemacht worden.

Der Abänderungsantrag erweist sich jedoch als unbegründet, weil nach der im Eilverfahren notwendigerweise nur summarischen Prüfung weiterhin von der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides auszugehen ist.

Der Einzelrichter der vormals zuständigen 13. Kammer des erkennenden Gerichts hat in seinem Beschluss vom 02. September 2016 u. a. ausgeführt:

„Die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurde zu Recht abgelehnt, weil der Antragsteller ausgewiesen wurde. Nach § 11 Abs. 1 AufenthG darf einem Ausländer, der ausgewiesen worden ist, selbst im Falle eines Anspruchs nach diesem Gesetz, kein Aufenthaltstitel erteilt werden. Seine bisherige Aufenthaltserlaubnis ist abgelaufen. Dass Klage gegen die Ausweisung erhoben wurde, steht dem nicht entgegen, § 84 Abs. 3 AufenthG, wonach die Wirksamkeit der Ausweisung unberührt bleibt. Der Antragsteller ist nach alledem gemäß § 50 Abs. 1 und 2 AufenthG zur Ausreise verpflichtet, weil er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht bzw. nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Er hat das Bundesgebiet unverzüglich oder, wenn ihm eine Ausreisefrist gesetzt ist, bis zum Ablauf der Frist zu verlassen. Die angekündigte Abschiebung findet ihre Rechtsgrundlage in § 58 AufenthG.

Auch die Ausweisung selbst wird sich aller Voraussicht nach als rechtmäßig erweisen. Nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Bei der Abwägung nach Absatz 1 sind nach den Umständen des Einzelfalles insbesondere die Dauer seines Aufenthalts, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat oder in einem anderen zur Aufnahme bereiten Staat, die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und Lebenspartner sowie die Tatsache, ob sich der Ausländer rechtstreu verhalten hat, zu berücksichtigen. Das Ausweisungsinteresse der Allgemeinheit im Sinne von § 53 Absatz 1 wiegt nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren verurteilt worden ist

Der Antragsteller ist wegen einer Gewalttat zu fünf Jahren Freiheitstrafe verurteilt worden. Damit ist bereits von Gesetzes wegen von einem besonders gewichtigen Ausweisungsinteresse auszugehen. Die Erwägungen der Antragsgegnerin hierzu sind nicht zu beanstanden. Zwar war der Antragsteller zuvor in der Bundesrepublik noch nicht strafrechtlich in Erscheinung getreten. Art und Umstände der Tat offenbaren jedoch ein hohes kriminelles Potential in der Persönlichkeit des Antragstellers. Die Befürchtung, dass sich unter ähnlichen  Umständen der Antragsteller wieder erneut zu Gewalttaten hinreißen lässt, ist mehr als nur eine theoretische Möglichkeit und lässt sich angesichts der Ereignisse im Jahr 2013 nicht von der Hand weisen. Dass er demgegenüber während seiner Haft bislang Wohlverhalten gezeigt hat, kann diese Einschätzung nicht ernsthaft wiederlegen. Dass Straftäter in der Haft Wohlverhalten zeigen, etwa um Vollzugslockerungen oder eine vorzeitige Haftentlassung auf Bewährung zu erreichen oder in Hinblick auf drohende ausländerrechtliche Konsequenzen, ist nicht ungewöhnlich und lässt keine Rückschlüsse auf eine entfallene Gefährlichkeit zu. Nach alledem müssen die privaten Belange des Antragstellers - einschließlich seines Interesses an einem Zusammenleben mit seiner Familie (das wegen der zu verbüßenden Strafhaft sich zur Zeit bereits schon nur auf besuchsweise Kontakte beschränkt) - hinter den stärker zu gewichtigen Interessen der Allgemeinheit zurücktreten.“

Die gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde hat des Nds. Oberverwaltungsgerichts mit dem genannten Beschluss zurückgewiesen. Darin ist u. a. ausgeführt:

„Das Verwaltungsgericht hat den vorläufigen Rechtsschutzantrag des Antragstellers zu Recht insgesamt als Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gewertet und die Voraussetzungen dieser Vorschrift mit zutreffenden Erwägungen verneint. Zwar ist eine Ausweisung grundsätzlich nur dann sofort vollziehbar, wenn eine Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO erlassen wurde, da § 84 Abs. 1 AufenthG für die Ausweisung - anders als gemäß Nr. 1 für die Ablehnung eines Antra-ges auf Verlängerung des Aufenthaltstitels und gemäß Nr. 7 dieser Vorschrift für die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots - nicht gilt. Werden jedoch wie vorliegend die Ausweisung und die Ablehnung des Antrages auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels in einem Bescheid gemeinsam verfügt, ist die Anordnung der sofortigen Vollziehung entbehrlich. Wegen der Ablehnung des Aufenthaltstitels besteht für den Ausländer eine sofort vollziehbare Ausreisepflicht nach §§ 58 Abs. 2 Satz 2, 84 Abs. 1 AufenthG (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 9.7.2014 - 11 ME 149/14 -; Bayer. VGH, Beschl. v. 19.4.2016 - 10 CS 16.746 u.a. -, juris, Rdnr. 8 m. w. N.).

Eine (vorläufige) Beseitigung der Ausreisepflicht durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage des Antragstellers gegen die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis scheidet aus den von dem Verwaltungsgericht genannten Gründen aus. Eine Aufenthaltserlaubnis kann dem Antragsteller wegen der Sperrwirkung des § 11 Abs. 1 AufenthG nicht erteilt werden. Die Ausweisung des Antragstellers wird sich im Hauptsacheverfahren nach den zutreffenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts aller Voraussicht nach als rechtmäßig erweisen.

Ermächtigungsgrundlage für die Ausweisung ist § 53 Abs. 1 AufenthG. Hiernach wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Dieser Grundtatbestand des neuen Ausweisungsrechts umreißt die Ausweisungszwecke auf tatbestandlicher Ebene, die in § 54 Abs. 1 AufenthG in vertypter und zugleich gewichteter Form als Ausweisungsinteressen ausdifferenziert werden. Ein Ermessen ist der Ausländerbehörde aufgrund des gesetzlichen Systemwechsels hin zu einer gebundenen Entscheidung nicht mehr eingeräumt. Bei dem Antragsteller liegt ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor, weil er wegen einer vorsätzlichen Straftat - nämlich einer gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung - rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens zwei Jahren - hier: fünf Jahren - verurteilt worden ist. Mit dieser Verurteilung erfüllt der Antragsteller zugleich den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG, denn er ist wegen einer vorsätzlichen Straftat gegen das Le-ben und die körperliche Unversehrtheit zu einer Freiheitsstrafe von mindestens einem Jahr verurteilt worden und hat die Straftat mit Gewalt begangen. Diesem besonders schwer wiegenden Ausweisungsinteresse steht nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG ein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse gegenüber, weil der Antragsteller mit seiner Ehefrau und seinem Sohn, die beide die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, in familiärer Lebensgemeinschaft lebt.

Das Verwaltungsgericht hat im Rahmen der nach § 53 Abs. 1 AufenthG vorzunehmenden Interessenabwägung das öffentliche Interesse an der Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet zu Recht höher bewertet als die Interessen des Antragstellers und seiner Familienangehörigen an seinem weiteren Verbleib im Bundesgebiet. Das Beschwerdevorbringen des Antragstellers rechtfertigt keine andere Entscheidung.

Dies gilt zum einen, soweit der Antragsteller wie bereits in erster Instanz darauf verweist, dass nicht nur er, sondern auch seine Ehefrau und sein 2012 geborener Sohn, die beide die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, sowie ein demnächst geborenes weiteres Kind betroffen seien. Der Antragsteller kann sich - wie ausgeführt - wegen dieser familiären Bindungen zwar gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG auf ein besonders schwer wiegendes Bleibeinteresse berufen. Das Verwaltungsgericht hat aber zu Recht darauf hingewiesen, dass angesichts der in der abgeurteilten Tat zum Ausdruck kommenden Gefährlichkeit des Antragstellers gleichwohl das öffentliche Interesse an seiner Ausreise überwiegt, weil die begründete Befürchtung besteht, dass sich der Antragsteller unter ähnlichen Umständen erneut zu Gewalttaten hinreißen lässt. Hierzu verhält sich der Antragsteller in seiner Beschwerdebegründung nicht in einer Weise, die eine Abänderung der erstinstanzlichen Entscheidung rechtfertigt. Eine andere Einschätzung folgt nicht daraus, soweit der Antragsteller zum anderen erneut auf sein beanstandungsfreies Verhalten während seiner Strafhaft verweist. Das Verwaltungsgericht hat in diesem Zusammenhang zutreffend darauf hingewiesen, dass der Antragsteller die Wiederholungsgefahr nicht unter Hinweis auf sein bisheriges Wohlverhalten während der Strafhaft widerlegen kann. Der Senat schließt sich der Einschätzung des Verwaltungsgerichts an, dass ein derartiges Verhalten keine verlässlichen Rückschlüsse auf eine entfallene Gefährlichkeit zulässt, da es dem Druck des laufenden ausländerrechtlichen Verfahrens und der Erwartung von Vollzugslockerun-gen während der Strafhaft geschuldet ist.“

Diese Entscheidungen sind im Hinblick auf den Inhalt des psychologischen Gutachtens und des Beschluss der Strafvollstreckungskammer, den Strafrest zur Bewährung auszusetzen, nicht abzuändern. In der Person des Antragstellers ist nach wie vor eine hinreichende Wiederholungsgefahr im ausweisungsrechtlichen Sinne anzunehmen.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem stattgebenden Kammerbeschluss vom 19. Oktober 2016 (- 2 BvR 1943/16 -, juris) entschieden, es treffe zwar im Ausgangspunkt zu, dass Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte für die Frage der Wiederholungsgefahr nicht an die Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammern gebunden seien; solchen Entscheidungen komme jedoch eine erhebliche indizielle Bedeutung zu. Jedenfalls soweit die Prognose der Wiederholungsgefahr Bedeutung im Rahmen einer grundrechtlich erforderlichen Abwägung habe, bedürfe es einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden solle (Rdnr. 21). Wiege das Bleibeinteresse des Ausländers besonders schwer, so werde sich nach einer Strafaussetzungsentscheidung der Strafvollstreckungskammer eine relevante Wiederholungsgefahr nur dann bejahen lassen, wenn die ausländerrechtliche Entscheidung auf einer breiteren Tatsachengrundlage als derjenigen der Strafvollstreckungskammer getroffen werde, etwa wenn Ausländerbehörde oder Gericht ein Sachverständigengutachten in Auftrag gegeben hätten, welches eine Abweichung zulasse, oder wenn die vom Ausländer in der Vergangenheit begangenen Straftaten fortbestehende konkrete Gefahren für höchste Rechtsgüter erkennen ließen (Rdnr. 24).

Vorliegend führt die indizielle Wirkung des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer jedoch nicht dazu, eine relevante Wiederholungsgefahr zu verneinen, denn die Gründe dieses Beschlusses zeigen, dass sich die Strafvollstreckungskammer mit wesentlichen Umständen, die für die ausweisungsrechtliche Beurteilung der Wiederholungsgefahr erheblich sind, nicht bzw. nicht eingehend auseinandergesetzt hat. In der Begründung ihrer Entscheidung hebt die Strafvollstreckungskammer wesentlich auf den Umstand ab, dass der Antragsteller erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt habe und von dem bisherigen Vollzug durchaus beeindruckt sei; es sei unter anderem bedeutsam, dass der Sachverständige dem Antragsteller bescheinigt habe, nachhaltig von der Haft beeindruckt zu sein. Auch verfüge der Antragsteller über einen sozialen Empfangsraum mit seiner Ehefrau und dem gemeinsamen 3-jährigen Kind. Beruflich habe er die Chance, eine Arbeitsstelle zu finden. Positiv zu sehen sei zudem maßgeblich, dass der Antragsteller bis auf die Anlasstat nicht weiter strafrechtlich in Erscheinung getreten sei. Schließlich habe er mit der Teilnahme am Projekt „Alternativen zur Gewalt“ und an dem darauf folgenden Aufbaukurs gezeigt, dass er sich den Ursachen seiner Gewalttätigkeit zu stellen vermöge.

Die Entscheidung der Straferstreckungskammer setzt sich mit den Umständen der Tatbegehung (lediglich) insoweit auseinander als es in der Begründung des Beschlusses heißt, die Anlassverurteilung sei wegen einer brutalen und lebensgefährlichen Körperverletzung erfolgt. Die spezifischen Umstände der Tatausführung, die im Hinblick auf eine darin zum Ausdruck kommende Kaltblütigkeit gerade auch für eine dauernde Gefährlichkeit des Antragstellers sprechen, sind damit jedoch nicht hinreichend in den Blick genommen. So hatte der Antragsteller - so die Feststellungen des Landgerichts Hannover in dessen Strafurteil zum Tatgeschehen (S. 8 u. 9) - das Tatopfer nach dem ersten Angriff mit einem Klappmesser, das er mit sich führte, weiterverfolgt und weiter auf das Opfer eingestochen; schließlich habe er versucht, den Ablauf so darzustellen, dass das Tatopfer ihn zunächst angegriffen habe. In diesem Zusammenhang ist in dem angegriffenen Bescheid zutreffend ausgeführt, die Art und Schwere der Straftat beweise, dass der Antragsteller über eine erhebliche kriminelle Energie verfüge. In dem Strafverfahren hatten sich keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine Affekthandlung gefunden. Vielmehr folgte das Landgericht den Ausführungen des Sachverständigen J., der festgestellt hatte, dass die Entdeckung eines Kratzers an dem Kraftfahrzeug des Antragstellers - der Antragsteller hat das Tatopfer dafür verantwortlich gemacht - nicht geeignet gewesen sei, einen sich in dieser Form entladenden Affektstau zu begründen. Auch sei der Geschehensablauf nach der Entdeckung des Kratzers gesteuert und rational gewesen. Dieses gelte ebenfalls für das Nachtatverhalten des Antragstellers, welches eine affekttypische Erschütterung über die Tat in keiner Weise habe erkennen lassen. Ein Zeuge habe erklärt, der Antragsteller habe nach der Tat sehr entspannt und abgeklärt gewirkt. Das berichtete Tatsicherungsverhalten - Abwischen des Messers in der Kleidung des Opfers - spreche gegen eine Affekthandlung.

Weiterhin lässt der Beschluss der Strafvollstreckungskammer offen, ob die Ursachen für die Straftat zwischenzeitlich beseitigt sind. Weder nach dem Vortrag des Antragstellers noch sonst ist ersichtlich, dass der Streit der Ehefrau des Antragstellers mit ihrem Halbbruder wegen des Erbes des gemeinsamen Vaters beigelegt ist. Schwelen die Auseinandersetzungen aber weiter, so liegt es nicht fern, dass es erneut zu einer Konfrontation kommt. In diesem Zusammenhang erscheint der Umstand erheblich, dass der Antragsteller dem Geschädigten zwar eine Zahlung von 10.000,00 € Schmerzensgeld angeboten hatte, diesem aber ein solcher Anspruch i. H. v. 30.000,00 € zugesprochen wurde. Darin dürfte weiteres Konfliktpotential liegen, das in den Gründen des Beschlusses der Strafvollstreckungskammer nicht gewürdigt worden ist.

Der Antrag ist daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO zurückzuweisen.

Die Streitwertfestsetzung findet ihre Rechtsgrundlage in den §§ 53 Abs. 3 Nr. 2, 52 GKG.