Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 03.05.2001, Az.: 11 K 62/98 Ki
Gerichtliche Verpflichtung zur Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens; Behinderungsbedingte Erwerbsunfähigkeit des Kindes
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 03.05.2001
- Aktenzeichen
- 11 K 62/98 Ki
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 14561
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2001:0503.11K62.98KI.0A
Fundstellen
- EFG 2001, 1060-1061 (Volltext mit red. LS)
- NWB DokSt 2001, 1193
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin Kindergeld für ihren 1972 geborenen Sohn A beanspruchen kann.
Die Klägerin beantragte Ende 1997 Kindergeld für A. Dieser leistete zu jenem Zeitpunkt und auch seither kein freiwilliges soziales Jahr, stand nicht in einem Ausbildungsverhältnis oder zwischen zwei Ausbildungsabschnitten und wurde bei der Berufsberatung auch nicht als Bewerber um einen Arbeitsplatz geführt. Das Versorgungsamt Hannover hatte jedoch bei A einen Grad der Behinderung von 80 % festgestellt. Mit arbeitsamtsärztlichen Gutachten von 1993 und 1996 waren bei dem Kind Leistungsfähigkeit für leichte bis mittelschwere Arbeiten (mit Einschränkungen) festgestellt worden.
Der aufgrund des Kindergeldantrags ergangenen Aufforderung des Beklagten, durch den arbeitsamtsärztlichen Dienst erneut begutachten zu lassen, ob das Kind aufgrund seiner Behinderung immer noch in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt durch eigene Erwerbstätigkeit sicherzustellen, folgte die Klägerin nicht.
Der Beklagte lehnte daraufhin den Kindergeldantrag ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch der Klägerin blieb ohne Erfolg.
Hiergegen richtet sich die Klage, mit der die Klägerin vorträgt, der Gesundheitszustand ihres Sohnes habe sich verschlechtert, so dass nunmehr die Voraussetzungen für die Gewähr von Kindergeld gegeben seien.
Die in der mündlichen Verhandlung nicht erschienene und auch nicht vertretene Klägerin beantragt sinngemäß,
den Beklagten unter Aufhebung des Kindergeldbescheids vom und des Einspruchsbescheids vom zu verpflichten, ihr das gesetzliche Kindergeld für A seit Dezember 1997 zu zahlen
Der ebenfalls in der mündlichen Verhandlung nicht vertretene Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Klage abzuweisen.
Im Klageverfahren hat die Klägerin eine augenärztliche Bescheinigung aus dem Jahr 1998 über die Sehfähigkeit des A vorgelegt. Der Aufforderung zur Vorlage eines ärztlichen Gutachtens zur Erwerbsfähigkeit ihres Sohnes unter Fristsetzung nach § 79 b Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) kam sie nicht nach. Sie hat statt dessen die Anordnung eines Sachverständigengutachtens hierzu durch das Gericht beantragt.
Im Prozesskostenhilfeverfahren 11 S 26/98 S hat der Senat die Klägerin aufgefordert, ihren Sohn zur Klärung der Kindergeldberechtigung bei dem vom Beklagten unterhaltenen amtsärztlichen Dienst vorzustellen. Nachdem sie dies verweigert hatte, hat der Senat die Gewähr von Prozesskostenhilfe abgelehnt, weil er die Klage wegen des Verhaltens der Klägerin als mutwillig angesehen hat.
Die Beteiligten sind mit Verfügung vom 3. April 2001 zu der mündlichen Verhandlung geladen worden. Ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 10. April 2001 erfolgte die Bekanntgabe der Ladung an die Klägerin durch Niederlegung. Die Sendung mit der Ladung ging jedoch am 24. April 2001 ungeöffnet wieder bei Gericht ein. Auf dem Umschlag war handschriftlich notiert: "Zurück an Absender Finanzgericht. Mein Sohn braucht kein Gericht."
Gründe
Die Klage hat keinen Erfolg.
Die Sache ist spruchreif. Die Klägerin ist ordnungsgemäß zu der mündlichen Verhandlung am 3. Mai 2001 geladen worden. Die Ladung ist der Klägerin gemäß § 53 Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) durch die Post mit Postzustellungsurkunde zugestellt worden. Ist eine Übergabe des Schriftstücks in der Wohnung oder im Haus (§ 3 Abs. 3 VwZG i.V.m. §§ 180, 181 der Zivilprozeßordnung -ZPO-) nicht möglich, kann der Postbedienstete gemäß § 3 Abs. 3 VwZG i.V.m. § 182 ZPO die Zustellung bewirken, indem er das Schriftstück bei der Postanstalt des Zustellungsorts niederlegt und eine schriftliche Mitteilung über die Niederlegung unter der Anschrift des Empfängers in der bei gewöhnlichen Briefen üblichen Weise abgibt. Üblich ist der Einwurf in den Hausbriefkasten (BFH-Urteil vom 17.12.1996 - IX R 5/96 - BStBl 1997 II 638). Ausweislich der Postzustellungsurkunde vom 10. April 2001 ist der Postbedienstete nach diesen Grundsätzen verfahren.
Die Klage ist unbegründet. Die Klägerin hat die Voraussetzungen für die Gewähr von Kindergeld nicht zur Überzeugung des Gerichts dargetan.
Die Kindergeldberechtigung der Klägerin für A kommt auch nach dem Vortrag der Klägerin nach § 63 Abs. 1 Satz 2 Einkommensteuergesetz (EStG) in Verbindung mit § 32 Abs. 4 EStG allein unter dem Gesichtspunkt der wegen einer Behinderung möglicherweise fehlenden Fähigkeit des A, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten, in Betracht, § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG. Das Gericht hat jedoch aus dem gesamten Verfahren sowie aus der (von der Klägerin nicht wahrgenommenen) mündlichen Verhandlung nicht die Überzeugung gewinnen können, dass dem Sohn der Klägerin diese Fähigkeit fehlt.
Zwar hat der Senat nicht schon aus dem Verhalten der Klägerin, die sich während des gesamten Verfahrens geweigert hat, ihren Sohn bei dem vom Beklagten unterhaltenen ärztlichen Dienst vorzustellen, den Schluss gezogen, A sei in der Lage, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Der Senat hat aber aufgrund dieses Verhaltens der Klägerin von einer intensiven Sachaufklärung abgesehen und zur Erwerbsfähigkeit des A keine Feststellungen getroffen, die über die in den arbeitsamtsärztlichen Gutachten von 1993 und 1996 sowie in dem augenärztlichen Attest von 1998 enthaltenen Aussagen hinausgehen.
Aus diesen Unterlagen lässt sich eine Kindergeldberechtigung des A nicht herleiten. Denn nach den arbeitsamtsärztlichen Attesten ist er "wenn auch mit Einschränkungen" in der Lage, leichte bis mittelschwere Arbeiten auszuführen. Aus dem augenärztlichen Attest von 1998 ergibt sich nichts anderes, denn dort ist nur die "erheblich eingeschränkte" Sehkraft des A attestiert. Der Verlust der Sehkraft geht aber nicht in jedem Fall mit dem Verlust der Fähigkeit einher, den eigenen Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten.
Zu einer weiteren Sachverhaltsaufklärung, insbesondere durch Einholung des von dem früheren Prozessbevollmächtigten der Klägerin beantragten Sachverständigengutachtens zur Frage der Erwerbsfähigkeit ihres Kindes, war das Gericht wegen des Verhaltens der Klägerin nicht verpflichtet.
Nach § 76 Abs. 1 Satz 1 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen. Das Gericht ist dabei an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden (§ 76 Abs. 1 Satz 5 FGO). Das gilt aber nur in dem Sinne, dass das FG von sich aus auch Beweise erheben kann, die von den Parteien nicht angeboten werden. Von den Verfahrensbeteiligten angebotene Beweise muss das FG grundsätzlich erheben, wenn es einen Verfahrensmangel vermeiden will. Auf die beantragte Beweiserhebung kann es im Regelfall nur verzichten, wenn es auf das Beweismittel für die Entscheidung nicht ankommt oder das Gericht die Richtigkeit der durch das Beweismittel zu beweisenden Tatsache zugunsten der betreffenden Partei unterstellt oder das Beweismittel nicht erreichbar ist.
Diese insbesondere für den Zeugenbeweis geltenden Grundsätze lassen sich allerdings auf den Antrag eines Beteiligten auf Einholung eines Sachverständigengutachtens nicht uneingeschränkt übertragen. Die Zuziehung eines Sachverständigen steht im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts.
Das Finanzgericht darf einen Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens z.B. nicht mit der Begründung ablehnen, die Kosten des Gutachtens stünden in keinem angemessenen Verhältnis zum geringen Streitwert. Es ist grundsätzlich gehalten, unter Ausnutzung aller verfügbaren Beweismittel den Sachverhalt so vollständig wie möglich aufzuklären. Nur das Verfahren der Beweiserhebung kann das Gericht nach billigem Ermessen bestimmen. (BFH vom 12.04.1994 - IX R 101/90 - BStBl 1994 II 660)
Es entsprach aber billigem Ermessen, das beantragte Sachverständigengutachten nicht einzuholen und der Klägerin aufzuerlegen, zuvor ihren Sohn bei dem Amtsarzt des Beklagten vorzustellen. Denn dadurch, dass die Klägerin dies verweigerte, hat sie dem Beklagten die Möglichkeit genommen, sich zu wesentlich geringeren Kosten als denen eines gerichtlich angeordneten Sachverständigengutachtens ein Bild von der Erwerbsfähigkeit des A zu machen und der Klage gegebenenfalls abzuhelfen. Die Klägerin war aber im Rahmen des Prozessverhältnisses nach dem Rechtsgedanken des § 254 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (allgemeine Schadensminderungspflicht) auch dem Beklagten gegenüber verpflichtet, unnötige Kosten zu vermeiden. Dadurch, dass sie dieser Pflicht nicht nachgekommen ist, handelte sie rechtsmissbräuchlich und verringerte dadurch die dem Gericht auferlegte Sachaufklärungspflicht (Beweismaßreduzierung, vgl. BFH-Urteil BStBl. II 1975, 489).
Der Senat stellt dabei ausdrücklich klar, dass er keinen Anlass gesehen hätte, von der Einholung eines Sachverständigengutachtens abzusehen, wenn die Klägerin ihren Sohn zunächst im Rahmen des Klageverfahrens dem arbeitsamtsärztlichen Dienst des Beklagten vorgestellt hätte und für den Fall, dass dort die Erwerbsfähigkeit des A bejaht worden wäre, eine weitere Begutachtung beantragt hätte. Diesem Antrag wäre der Senat zur Wahrung der prozessualen Waffengleichheit zwischen den Beteiligten nachgekommen.
Da die Klägerin aber im Verfahren nicht ihrer Verpflichtung zur Mitwirkung nachgekommen ist, hat der Senat aus den vorstehenden Gründen von der weiteren Sachaufklärung abgesehen. Da nach alledem aufgrund der bislang vorliegenden ärztlichen Atteste von einer Erwerbsfähigkeit des A auszugehen war und demnach eine Kindergeldberechtigung nach § 63 Abs. 1 Satz 2, § 32 Abs. 4 Satz 1 EStG für ihn nicht bestand, musste die Klage abgewiesen werden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.