Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 24.11.1989, Az.: 1 M 88/89
Zulässigkeit einer Asylbewerberunterkunft kann nicht abstrakt und ohne Rücksicht auf die jeweiligen konkreten Verhältnisse überprüft werden; Überprüfung der Zulässigkeit einer Asylbewerberunterkunft unter dem Aspekt des Nachbarschutzes; Überprüfung der Vereinbarkeit der Nutzung eines Hauses als Asylbewerberheim mit den Nachbarschutz dienenden öffentlich-rechtlichen Bauvorschriften
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 24.11.1989
- Aktenzeichen
- 1 M 88/89
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 1989, 20841
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1989:1124.1M88.89.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- VG Stade - 12.09.1989 - AZ: 2 B 74/89
Rechtsgrundlagen
- § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO
- § 3 Abs. 2 BauNVO
- § 31 Abs. 2 BauGB
Verfahrensgegenstand
Unterlassung der Nutzung einer baulichen Anlage.
Der 1. Senat des Oberverwaltungsgerichts
für die Länder Niedersachsen und Schleswig-Holstein hat
am 24. November 1989
beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsteller hin wird der Beschluß des Verwaltungsgerichts Stade - 2. Kammer Lüneburg - vom 12. September 1989 geändert.
Der Antragsgegnerin wird im Wege der einstweiligen Anordnung untersagt, in dem als Asylbewerberheim genutzten Gebäude xxxweg xxx in Asylbewerber unterzubringen.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 6.000,-- DM (2 x 3.000,-- DM) festgesetzt.
Gründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet
Das Verwaltungsgericht hat den Antrag der Antragsteller, der Antragsgegnerin durch Erlaß einer einstweiligen Anordnung zu untersagen, das Gebäude xxxweg xxx in xxx zur Unterbringung von Asylbewerbern zu nutzen, zu Unrecht teilweise abgelehnt.
Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen notwendig erscheint.
Nach summarischer Prüfung besteht ein Anordnungsanspruch, da sich die Nutzung des Hauses als Asylbewerberheim durch die Antragsgegnerin (hoheitliche Maßnahme) als eine Verletzung öffentlich-rechtlicher Bauvorschriften, die dem Nachbarschutz dienen, darstellt. Hiergegen haben die Antragsteller einen öffentlich-rechtlichen Abwehranspruch, da sie nach positiver Vorausprüfung der Hauptsache in ihren Rechten verletzt werden.
Es dürfte sich entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts bei dem Asylbewerberheim um eine soziale Anlage handeln, die im reinen Wohngebiet unzulässig ist. Die Festsetzung der Art der Nutzung im Bebauungsplan hat, soweit der Schutzzweck der Norm reicht, nachbarschützenden Charakter (Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Dyong, BauGB, § 31 RdNr. 135 mit Rechtsprechungsnachweisen). Gerade bei reinen Wohngebieten ist die Wohnruhe geschützt. Hierin erschöpft sich der Schutz allerdings nicht. Die Schutzfunktion bezieht sich vielmehr auf alles, was den besonderen Wert des Gebietes ausmacht.
Bei der durch die Antragsgegnerin aufgenommene und weiter geplante Nutzung handelt es sich nicht mehr um eine Wohnnutzung. Zutreffend geht das Verwaltungsgericht (wie auch der VGH Mannheim im Beschluß vom 19.5.1989 - 8 S 555/89 - NJW 1989, 2282; OVG Münster, Urt. v. 3.11.1988 - 11 A 56/86 - BauR 89, 581; OVG Berlin, Beschl. v. 2.6.1987 - 2 S 38.87 - BRS 47 Nr. 41; OVG Lüneburg (für ein Studentenwohnheim), Urt. v. 20.8.1987 - 6 OVG A 166/85 - BRS 47 Nr. 40) davon aus, daß die Zulässigkeit einer Asylbewerberunterkunft nicht abstrakt und ohne Rücksicht auf die jeweiligen konkreten Verhältnisse zu prüfen ist. Unter Wohnen im Sinne des § 3 Abs. 2 BauNVO ist eine auf Dauer gerichtete Haushaltsführung mit einem Mindestmaß an Eigengestaltung zu verstehen. Der Senat teilt auch die Auffassung, daß der soziale Zweck, der z.B. auch bei einer Altenheimunterbringung verfolgt wird, unerheblich ist, jedenfalls solange er sich dem Wohnen unterordnet (s. Uechteritz, zur Zulässigkeit von "Heimen" in Wohngebieten, BauR 1989, 519 ff). Es ist wohl auch von einer unbestimmten Dauer des Aufenthalts auszugehen. Dem steht nicht entgegen, daß das Asylverfahren zeitlich begrenzt ist. Derzeit jedenfalls weisen die Asylverfahren noch eine Dauer auf, die in Jahren zu messen ist. Dies entspricht aber keiner vorübergehenden Unterbringung. Es trifft auch zu, daß die Fremdbestimmtheit der Asylbewerber, der Umstand, daß sie in die Unterkünfte eingewiesen werden, für sich genommen einem "Wohnen" noch nicht entgegensteht. Sie ist aber geeignet, bei enger Belegung, soziale Spannungen zu erhöhen. Zwar gibt es, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, keinen Milieuschutz. Der Schutz erstreckt sich vielmehr nur darauf, daß nicht wohnfremde Nutzung das Wohnen beeinträchtigt.
Im Gegensatz zum Verwaltungsgericht ist der Senat jedoch der Auffassung, daß der Wohncharakter bei einer derart hohen Belegung (derzeit 25 Personen, ursprünglich geplant bis zu ca. 35 Personen) nicht mehr gegeben ist, sondern daß es sich um eine bloße Unterbringung handelt.
Die Zimmer im Erdgeschoß haben folgende Größen (Bl. 2 der Beiakte F):
Zimmer 1 = | 15,16 m2 |
---|---|
Zimmer 2 = | 12,08 m2 |
Zimmer 3 = | 18,60 m2 |
Zimmer 4 = | ca. 12,20 m2 |
Zimmer 5 = | ca. 13,00 m2 |
Zimmer 6 = | 16,86 m2 |
Zimmer 7 = | 25,30 m2 |
Zimmer 8 = | 21,94 m2 |
Zimmer 9 = | 17,58 m2 |
Zusammen | 152,72 m2 |
Gemeinschaftsraum= | 38,94 m2 |
Küche = | 15,48 m2 |
Die Zimmer im Dachgeschoß sind in folgenden Größen geplant (Bl. 1 der Beiakte F ):
Zimmer 12 = | ca. 15,00 m2 |
---|---|
Zimmer 13 = | ca. 15,80 m2 |
Zimmer 14 = | ca. 28,00 m2 |
Zimmer 15 = | ca. 19,00 m2 |
Zimmer 16 = | ca. 20,00 m2 |
Zimmer 17 = | ca. 23,00 m2 |
zusammen | 120,80 m2 |
Küche = | 29,00 m2 |
Die 15 Zimmer (nach Ausbau des Dachgeschosses) weisen eine Wohnfläche von insgesamt ca. 275 m2 auf. Das bedeutet, daß im Schnitt ohne die Gemeinschaftsräume pro Person (bei 35 Personen) eine Wohnfläche von ca. 8 m2 zur Verfügung steht. Eine derart geringe eigene Wohnfläche ist nicht geeignet, eine gewisse Häuslichkeit entstehen zu lassen, selbst dann nicht, wenn jedem Zimmer eine Naßzelle zugeordnet ist. Die Enge muß vielmehr zu sozialen Konflikten führen. Dies um so mehr, als es sich bei den Asylbewerbern um einen Personenkreis handelt, der aus der Bahn des "normalen" Lebens geworfen worden ist, der seine Existenz im Heimatland aufgegeben hat oder hat aufgeben müssen und dessen neue Existenz unsicher ist. Wenn in dieser psychisch schwierigen Situation Menschen, die zwar in einer ähnlichen Situation sind, die sich aber untereinander und ihre Eigenarten nicht kennen und keinen entscheidenden Einfluß auf die Belegung haben, zusammengelegt werden, ist das Entstehen einer Häuslichkeit durch Eigengestaltung nicht zu erwarten. Mag eine etwas dichtere Belegung ohne Fremdbestimmung noch einer Wohnnutzung zugerechnet werden können, so gilt dies hier nicht mehr. Wenn die Antragsgegnerin erklärt, sie wolle vorzugsweise (also nicht gesichert) Familien einquartieren, so würde dies zu keiner entscheidenden Milderung der Situation führen. Geplant ist, daß sich die Bewohner selbst versorgen. Auch wenn die Gemeinschaftsküche mit der ausreichenden Zahl von Kochplatten und Spülen ausgestattet sein sollte, so daß zumindest im Schichtbetrieb eine Versorgung sichergestellt werden kann, so ist die Zahl der Küchenbenutzer zu groß, als daß von einer Eigengestaltung des Wohnens gesprochen werden könnte. Mag es sich bei der Unterbringung der Asylbewerber zwar um eine gehobene Unterbringung handeln; als ein Wohnen im Sinne einer auf Dauer gerichteten Haushaltsführung mit einem Mindestmaß an Eigengestaltung kann die Unterbringung jedoch noch nicht bezeichnet werden. Sie ähnelt vielmehr auch aufgrund der Doppelbelegung von Zimmern einer Kasernierung. Die bloße, wenn auch gehobene Unterbringung führt dazu, daß das Haus xxxweg xxx als eine Anlage für soziale Zwecke anzusehen ist, die im reinen Wohngebiet nicht zulässig ist. Darauf, daß keine Betreuung gestellt wird, kommt es für die Einordnung des Vorhabens nicht an, da dieser Umstand aufgrund der räumlichen Enge nicht zur freien Entfaltung des Wohnens führt.
Abgesehen davon, daß für die Nutzung eine Befreiung von den Planfestsetzungen nach § 31 Abs. 2 BauGB nicht erteilt worden ist, ist auch nicht ersichtlich, daß eine derartige Befreiung erteilt werden müßte. So ist nicht ersichtlich, daß das Wohl der Allgemeinheit es erfordert, die Asylbewerber gerade am xxxweg in xxx unterzubringen und alle anderen möglichen Standorte weniger naheliegend sind (BVerwG, Urt. v. 9.6.1978 - 4 C 54.75 - BRS 33 Nr. 150). Es fehlt auch an einer besonderen Einzelfallsituation, so daß eine Befreiung wegen des Vorliegens besonderer Härte oder weil sie städtebaulich vertretbar ist und die Grundzüge der Planung nicht berührt, nicht in Frage kommt.
In der sozialen Anlage Schlehenweg 3 wäre selbst die Unterbringung eines einzelnen Asylbewerbers unzulässig, solange nicht die Antragsgegnerin ihr Nutzungskonzept aufgibt. Der Charakter der Anlage hängt nämlich nicht von der zufälligen Zahl der Asylbewerber ab, sowie auch ein 100-Betten-Hotel nicht zu einem kleinen Hotelbetrieb wird, weil regelmäßig nur 20 Betten belegt sind. Es bliebe vielmehr auch hier die Zimmerzahl und Ausstattung unverändert. Die Nutzung ist mithin vom Nutzungskonzept nicht trennbar. Liegt es aber so, so kann auch nicht die Unterbringung einer beschränkten Zahl von Asylbewerbern zugelassen werden, ohne Nachbarrechte zu verletzen.
Da nach summarischer Prüfung die Antragsteller in der möglichen Hauptsache Erfolg haben werden, überwiegt ihr Interesse, von der gebietsfremden Nutzung des Hauses xxxweg xxx verschont zu bleiben gegen über dem Interesse der Antragsgegnerin, weiterhin Asylbewerber im xxxweg xxx unterzubringen, zumal die Antragsgegnerin ohnehin erst das Baugenehmigungsverfahren für die Nutzungsänderung hätte durchlaufen müssen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes auf § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.
Dieser Beschluß ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 25 Abs. 2 Satz 2 GKG).
Fries
Wilcke