Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 14.04.2023, Az.: 12 A 4071/18

Alleinstehende Frau; Flüchtlingseigenschaft; geschiedene Frau; Gruppenverfolgung; Irak; männliche Familienangehörige; Gruppenverfolgung für alleinstehende Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
14.04.2023
Aktenzeichen
12 A 4071/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 16629
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:0414.12A4071.18.00

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 1 und 3 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 08.06.2018 dazu verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Sie ist nach eigenen Angaben am G. 1988 in H. in der Provinz Ninive (Irak) geboren. Sie ist irakische Staatsangehörige kurdischer Volks- und yezidischer Glaubenszugehörigkeit. Im Februar 2018 reiste sie über den Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte am 13.03.2018 einen Asylantrag. Bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 14.03.2018 führte sie aus: Als der IS die Yeziden im Shingal angegriffen habe, hätten sie das über das Telefon und Internet mitbekommen und in Zhao vier Nächte auf der Straße geschlafen, weil sie sich nicht sicher gefühlt hätten. Die Yeziden würden als unrein betrachtet und ihr Essen würde nicht gegessen. Sie selbst oder engere Familienmitglieder hätten zwar noch keine Benachteiligung aufgrund ihres yezidischen Glaubens erlebt, jedoch seien zwei Dörfer zerstört worden, die nur 10 Minuten von ihrem Dorf I. entfernt lägen. Deshalb hätten sie sich nicht mehr sicher gefühlt und zur Ausreise entschlossen. Bei einer Rückkehr in den Irak fürchte sie, dass eines Tages versucht würde, sie davon zu überzeugen, ihre Religion zu ändern, oder sie umzubringen. Im Irak gebe es kein Leben mehr für sie, sie könnten weder raus, noch zur Schule oder in die Stadt gehen noch gebe es Arbeit für sie. Am Wichtigsten sei für sie, dass sie dort niemanden mehr habe. Ihre gesamte Familie - Eltern und 10 Geschwister sowie die Großfamilie - würden in Deutschland leben. Sie sei vor ihrer Familie ausgereist, nach kurzem Aufenthalt in Spanien und 6-monatiger Inhaftierung in Bulgarien aber zunächst in den Irak zurückgekehrt. Dort habe sie für 9 Monate bei einem Onkel in I. gelebt und sei dann nach Deutschland ausgereist.

Mit Bescheid vom 08.06.2018 lehnte das Bundesamt es ab, die Klägerin als asylberechtigt anzuerkennen und ihr die Flüchtlingseigenschaft oder subsidiären Schutz zuzuerkennen (Nrn. 1 bis 3). Es stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Nach Ablauf einer Ausreisefrist 30 Tagen drohte es der Klägerin die Abschiebung in den Irak oder in einen anderen aufnahmebereiten Staat an und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 6 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nrn. 5 und 6). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, eine persönliche Verfolgung der Klägerin habe nach ihren Angaben nicht stattgefunden. Von einer Gruppenverfolgung der Yeziden sei in der Heimatregion der Klägerin nicht mehr auszugehen, nachdem alle ehemals vom IS besetzten Gebiete zurückerobert worden seien. Der Klägerin drohe auch kein ernsthafter Schaden im Sinne von § 4 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Asylgesetz (AsylG). In der Provinz Ninive erreiche die willkürliche Gewalt im Rahmen eines innerstaatlichen Konflikts nicht das für eine Schutzgewährung für Zivilpersonen erforderliche hohe Niveau und die Klägerin habe auch keine gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vorgetragen. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bestehe aufgrund der derzeitigen humanitären Bedingungen im Irak auch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Klägerin nicht. Sie könne mit der Hilfe ihres Onkels in I. rechnen, bei dem sie vor ihrer Ausreise gelebt habe. Zudem verfüge sie in I. noch über ein kleines Haus, könne von ihrer in Deutschland lebenden Familie unterstützt werden und Rückkehrhilfen in Anspruch nehmen.

Am 13.06.2018 hat die Klägerin Klage erhoben. Sie macht geltend, ihre Familie habe seit Generationen in I., einem ausschließlich von Yeziden bewohnten Dorf gelebt. Während zur Zeit des Saddam-Regimes Yeziden aus den umliegenden Dörfern nach I. umgesiedelt worden seien, habe sich seit 2014 die Einwohnerzahl aufgrund der Flucht vor dem IS von ca. 10.000 Personen auf ca. 1.000 Personen reduziert. Es seien in der Regel nur ältere Eltern mit jeweils einem Kind dort geblieben, so dass das Dorf in absehbarer Zeit aussterben werde. Das Dorf sei umgeben von schiitischer und IS-naher sunnitischer Bevölkerung. Die ursprünglich mehrheitlich yezidische Bevölkerung des Irak sei seit der Zeit Mohammeds von der muslimischen Bevölkerung mit 74 Progromen gezielt zu einer Minderheit dezimiert worden. Yeziden seien im Irak "vogelfrei" und bekämen weder eine normale medizinische Behandlung noch würden Strafanzeigen von Yeziden verfolgt. Eine Nachbarin der Klägerin aus I. sei gestorben, weil das Krankenhaus in J. sich geweigert habe, sie per Kaiserschnitt zu entbinden. Ein Operationstermin der Großmutter der Klägerin sei vom Krankenhaus in J. viermal verschoben worden. Ein Onkel der Klägerin sei im Jahr 2005 in Bagdad "verschwunden". Yeziden würden täglich gedemütigt, benachteiligt, belästigt und bedroht. Der politische Islam stelle eine faschistische Religions- und Gesellschaftslehre dar und die Situation der Christen und Yeziden im heutigen Irak erinnere stark an die historische Situation der deutschen Juden nach 1933. Deshalb sei es falsch, wenn die Rechtsprechung eine Gruppenverfolgung der Yeziden im Irak verneine. Seit Beginn der Proteste gegen die Regierung im Herbst 2019 und der Tötung des einflussreichen Vertreters der iranischen Revolutionswächter, Kassem Soleimani, habe sich die Sicherheitslage noch weiter verschlechtert. Hinzu kämen gewaltsame Auseinandersetzungen der Sicherheitskräfte mit dem IS und mit PKK-Milizen, die auch von der Türkei angegriffen würden. Entsprechend habe das Auswärtige Amt seine Reisewarnungen verschärft. Bei einer Rückkehr in das islamische Land Irak wäre die Klägerin völlig auf sich allein gestellt und hätte dort minimale Überlebenschancen. Auch von yezidischen Gemeinschaften würde sie als alleinstehende Frau geschnitten werden. Für Frauen gebe es keine Arbeitsplätze und sie dürften nach den gesellschaftlichen Konventionen nicht Auto fahren, so dass die Klägerin nicht zum Einkaufen, zum Arzt oder zum Krankenhaus fahren könnte. Vulnerable Personen wie die Klägerin dürften nicht einmal nach Griechenland abgeschoben werden, geschweige denn in den Irak.

Die Klägerin beantragt sinngemäß,

die Beklagte unter Teilaufhebung des Bescheides vom 08.06.2018 zu verpflichten, ihr die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

hilfsweise, ihr subsidiären Schutz zu gewähren,

weiter hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Irak vorliegen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung verweist sie auf den angefochtenen Bescheid.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge sowie auf die Sitzungsniederschrift vom 14.04.2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Trotz des Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung kann ein Urteil ergehen, da sie gemäß § 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) mit der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann.

Die Klage ist zulässig und begründet. Die Beklagte ist zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu verpflichten, vgl. § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO. In Bezug auf die Ziffern 1 und 3 bis 6 ist der Bescheid vom 19.12.2017 daher aufzuheben, vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Klägerin hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Absatz 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG oder das Bundesamt hat nach § 60 Abs. 8 Satz 3 AufenthG von der Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG abgesehen. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.

Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die (1.) aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 EMRK keine Abweichung zulässig ist, oder (2.) in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist. Als derartige Verfolgung kann nach § 3a Abs. 2 Nr. 1 unter anderem die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt gelten.

Eine Gruppe gilt nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten, und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird; eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft.

Die Verfolgung kann gemäß § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebietes beherrschen, einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, wirksamen und dauerhaften Schutz vor Verfolgung zu bieten.

Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer - bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr - die genannten Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Hierfür ist erforderlich, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine individuelle Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegensprechenden Tatsachen überwiegen (vgl. ausführlich u. m.w.N. zum Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, Urt. v. 04.07.2019 - 1 C 31/18 - juris Rn. 16 ff.).

Gemäß § 3e AsylG wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft allerdings nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.

Nach diesen Maßgaben ist der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Die Einzelrichterin ist der Überzeugung, dass der Klägerin bei einer hypothetischen Rückkehr in den Irak mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörige im Irak droht. Für Angehörige dieser Gruppe ist eine landesweite Gruppenverfolgung durch nichtstaatliche Akteure anzunehmen, ohne dass der irakische Staat oder andere Gruppen sie schützen könnten (vgl. u.a. VG Hannover, Urt. v. 24.03.2022 - 6 A 3392/17 -, juris, S. 7 ff.; VG D-Stadt, Urt. v. 18.11.2022 - Au 9 K 22.30990 -, juris Rn. 36 ff.; VG Saarland, Urt. v. 15.11.2022 - 6 K 323/21 -, juris Rn. 27 ff.; VG Bayreuth, Urt. v. 07.06.2022 - B 3 K 21.30696 -, juris S. 7f.; VG Greifswald, Urt. v. 16.02.2022 - 6 A 894/20 HGW -, juris S. 6 ff.; VG Regensburg, Urt. v. 25.10.2021- RO 13 K 19.30604 -, juris S. 8 ff.; VG München, Urt. v. 17.03.2020 - M 19 K 16.32656 - juris Rn. 28 ff.; VG Wiesbaden, Urt. v. 31.05.2019, 1 K 152/17.WI.A, juris Rn. 46 ff.; VG Münster, Urt. v. 05.02.2019, - 6a K 3033/18.A -, juris Rn. 37 ff.; für möglich gehalten: Hess. VGH, Beschl. v. 18.02.2021 - 5 A 3220/20.Z.A -, juris Rn. 8; offen gelassen von Nds. OVG, Beschl. v. 10.01.2020 - 9 LA 85/19 -, V.n.b., S. 3; VG Hannover, Urt. v. 25.03.2021 - 12 A 1627/18 -, juris Rn. 47; a.A.: VG Weimar, Urt. v. 21.06.2022 - 3 K 95/20 We -, juris Rn. 42 ff; VG Göttingen, Urt. v. 24.09.2020 - 2 A 1001/17 -, juris Rn. 31 ff.). Zur Begründung nimmt die Einzelrichterin die folgenden Ausführungen des Verwaltungsgerichts des Saarlandes in Bezug (Urt. v. 15.11.2022 - 6 K 323/21 -, juris Rn. 29 ff.):

"Der Auskunftslage zufolge ist die irakische Gesellschaft von Diskriminierung der Frauen geprägt. Die Frauen werden in ihrer körperlichen und geistigen Integrität verletzt, sie werden gegenüber den Männern diskriminiert, sie werden in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit beschnitten und ihnen wird es sehr erschwert, alleine zu überleben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen, am öffentlichen Gesellschaftsleben teilzunehmen, sich zu bilden und entsprechend zu arbeiten. Ihnen drohen Ehrenmorde und Zwangsverheiratung sowie Misshandlung, wenn sie sich nicht den strengen Bekleidungs-, Moral- und Verhaltensvorschriften in der Öffentlichkeit unterordnen.

Die Stellung der Frau hat sich im Vergleich zur Zeit des Saddam-Regimes teilweise deutlich verschlechtert. Die prekäre Sicherheitslage in Teilen der irakischen Gesellschaft hat negative Auswirkungen auf das Alltagsleben und die politischen Freiheiten der Frauen. Vor allem im schiitisch geprägten Südirak werden auch nicht gesetzlich vorgeschriebene islamische Regeln, z.B. Kopftuchzwang an Schulen und Universitäten, stärker durchgesetzt. Frauen werden unter Druck gesetzt, ihre Freizügigkeit und Teilnahme am öffentlichen Leben einzuschränken. In der irakischen Verfassung ist zwar die Gleichstellung der Geschlechter festgeschrieben, Art. 41 bestimmt jedoch, dass Iraker Personenstandsangelegenheiten ihrer Religion entsprechend regeln dürfen. Viele Frauen kritisieren diesen Paragrafen als Grundlage für eine Re-Islamisierung des Personenstandsrechts und damit eine Verschlechterung der Stellung der Frau. Zudem findet auf einfachgesetzlicher Ebene die verfassungsrechtlich garantierte Gleichstellung häufig keine Entsprechung. Defizite bestehen insbesondere im Familien-, Erb- und Strafrecht sowie im Staatsangehörigkeitsrecht. Frauen werden noch immer in Ehen gezwungen, rund 20 % der Frauen werden vor ihrem 18. Lebensjahr (religiös) verheiratet, viele davon im Alter von 10 bis 14 Jahren. 10 % der irakischen Frauen sind Witwen, viele davon Alleinversorgerinnen ihrer Familien. Ohne männliche Angehörige erhöht sich das Risiko für diese Familien, Opfer von Kinderheirat und sexueller Ausbeutung zu werden. Das gesellschaftliche Klima gegenüber Geschiedenen ist zwar nicht offen repressiv. Üblicherweise werden geschiedene Frauen in die eigene Familie reintegriert. Aufgrund ihres geschiedenen Status sind sie aber oft weiteren Formen von Missbrauch und Stigmatisierung ausgesetzt. Aufgrund der negativen gesellschaftlichen Wahrnehmung von geschiedenen Frauen sind sie insbesondere auch durch sexuellen Missbrauch gefährdet. Viele Frauen und Mädchen sind darüber hinaus durch Flucht und Verfolgung besonders gefährdet. Es gibt Berichte über Zwangsprostitution irakischer Mädchen und Frauen im Land und in der Nahost- und Golfregion.

Vgl. zu Vorstehendem Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, vom 25.10.2021, Pol-1-516.80/ALB, sowie Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation Irak, aus dem COI-CMS, Version 6, vom 22.08.2022, und Anfragebeantwortung der Staatendokumentation Irak: Scheidung, Situation geschiedener Frauen, vom 01.10.2018; ferner UNHCR, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus dem Irak fliehen, vom Mai 2019

Allein lebende Frauen sind im gesamten Irak ein völlig unübliches Phänomen. Die permanente Kontrolle unverheirateter bzw. verwitweter oder geschiedener Frauen durch männliche Familienmitglieder ist zentraler Bestandteil irakischer Moral- und Ehrvorstellungen. Es wird erwartet, dass sich die Frauen den männlichen Familienmitgliedern unterordnen. Frauen, die sich dem widersetzen, können Opfer von Gewalt im Namen der Ehre werden. Als Frau alleinstehend zu leben, wird im Irak in der Regel nicht akzeptiert, weil es als unangemessenes Verhalten betrachtet wird. Eine Frau, die alleine oder mit einem oder mehreren Kindern aus einer früheren Beziehung lebt, fällt nicht nur auf, sie wird vielmehr von breiten gesellschaftlichen Schichten gemieden bzw. sozial ausgegrenzt, von Männern wie auch von Frauen. Ohne männlichen Schutz sind alleinstehende Frauen dem Risiko körperlicher Misshandlungen ausgesetzt. Sofern diese Frauen Kinder haben, die von ihnen abhängig sind, besteht für diese ebenfalls das Risiko von Misshandlungen. Für eine alleinstehende Frau ohne verwandtschaftliche Kontakte und Unterstützung erweisen sich zahlreiche Alltagshandlungen wie etwa das Finden einer Wohnung als extrem schwierig. Je jünger die Frau ist, umso schwieriger ist ihre Lage. Zudem besteht gerade bei jungen Frauen die Gefahr sexueller Übergriffe und Belästigungen.

Vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 15.01.2015 zu Irak: Zwangsheirat; ferner EASO, Informationsbericht über das Herkunftsland Irak: Gezielte Gewalt gegen Individuen, vom März 2019, und ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von alleinstehenden Frauen, vor allem mit westlicher Gesinnung nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland und Asylantragstellung, vom 25.02.2019

Die beschriebenen, gezielt an das weibliche Geschlecht anknüpfenden Verfolgungshandlungen gegenüber alleinstehenden Frauen ohne schutzbereite männliche Familienangehörigen sind aufgrund ihrer Art und Wiederholung so gravierend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte im Verständnis von § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG darstellen. Für den Eintritt dieser Verletzung besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit. Die erforderliche "Verfolgungsdichte" ist anzunehmen, da die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen besteht, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt, sondern die Handlungen auf alle sich im Irak aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Alleinstehenden Frauen drohen ohne männliche schutzbereite Familienangehörige jederzeit sexuelle oder andere gewalttätige Übergriffe, Obdachlosigkeit, wirtschaftliche Not, soziale Isolierung und Demütigung. Die genannten Verfolgungshandlungen drohen nicht nur selten, sondern sie sind üblich und drohen jederzeit. Da eine alleinstehende Frau ohne männliche schutzbereite Familienangehörige sich notgedrungen alleine in der Öffentlichkeit bewegen muss, um eine Wohnung zu mieten, zu arbeiten und sich zu versorgen, kann sie die bestehenden Gefahren auch nicht umgehen."

Diese Bewertung gilt weiterhin. Ausweislich der aktuellen Erkenntnismittel ist die Lage für alleinstehende Frauen, insbesondere ohne schutzbereite männliche Familienangehörige, unverändert prekär (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak v. 28.10.2022, S. 11 ff.; European Union Agency for Asylum (EUAA), Iraq - Targeting of Indiviuals, Januar 2022, S. 81 f.; EUAA, Country Guidance: Iraq, Juni 2022, S. 133 ff.,141 ff.).

Die Einzelrichterin geht davon aus, dass die Klägerin alleinstehend ist und dass sich im Irak keine Familienangehörigen von ihr mehr aufhalten. Aus den Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung sowie der informatorischen Befragung der zuständigen Sozialarbeiterin des Kommunalen Sozialdienstes der K. und des Bruders der Klägerin, Herrn L., hat sich ergeben, dass die Klägerin während ihres Aufenthalts in Deutschland nach religiösem Ritus einen yezidischen Iraker geheiratet und im Juni 2022 ein gemeinsames Kind bekommen hat und dass diese religiöse Ehe aufgrund der Gewalttätigkeit des Mannes kurz darauf geschieden worden und die Tochter der Klägerin bei ihr verblieben ist. Die Klägerin und ihr Bruder konnten auch überzeugend schildern, dass sämtliche Mitglieder der Großfamilie der Klägerin den Irak dauerhaft verlassen haben, insbesondere auch der Onkel, bei dem die Klägerin vor ihrer Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland gelebt hatte. Da die Klägerin in den Augen der irakischen Gesellschaft eine geschiedene Frau ist, sie als Analphabetin einen geringen Bildungsstand hat und sie bei einer Rückkehr in den Irak entweder in einem Flüchtlingscamp oder in der ländlichen Umgebung ihres Herkunftsdorfs unterkommen müsste, ist sie zudem in verschiedener Hinsicht besonders vulnerabel (vgl. zu diesen Risikofaktoren EUAA, Iraq - Targeting of Indiviuals, Januar 2022, S. 81 f.; EUAA, Country Guidance: Iraq, Juni 2022, S. 133 ff.,141 f.; dazu, dass alleinstehende Frauen ohne familiären Anschluss in den irakischen Flüchtlingscamps regelmäßig dem realen Risiko einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sind Nds. OVG, Urt. v. 24.09.2019 - 9 LB 136/19 -, juris Rn. 201 ff.).

Nach alledem ist die Beklagte zu verpflichten, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Neben der Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Ziffer 1 des angegriffenen Bescheides müssen folglich auch die Ablehnung der Gewährung subsidiären Schutzes und der Feststellung von Abschiebungsverboten sowie die Abschiebungsandrohung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes (mit dem damit konkludent angeordneten Einreise- und Aufenthaltsverbot, vgl. dazu Nds. OVG, Urt. v. 06.05.2020 - 13 LB 190/19 -, juris Rn. 55 m.w.N.) in den Ziffern 3 bis 6 aufgehoben werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 83b gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.