Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 05.05.2008, Az.: 1 B 7/08

Aufenthaltserlaubnis; Aussetzungsinteresse; Ausweisung; Ausweisung; Ausweisungsgrund; Bedarfsgemeinschaft; Einkommensgemeinschaft; Ermessen; Familiennachzug; Heirat; Interessenabwägung; Schutz von Ehe und Familie; Sicherung des Lebensunterhalts; Sozialhilfe; Verhältnismäßigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
05.05.2008
Aktenzeichen
1 B 7/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 54973
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

I.

1

Die Antragstellerin reiste im Mai 2002 in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag, der (bestandskräftig) abgelehnt wurde. Anschließend wurde ihr Aufenthalt fortlaufend geduldet. Im September 2007 stellte sie einen Asylfolgeantrag, der mit Bescheid des zuständigen Bundesamtes vom 24. Oktober 2007, bestandskräftig seit dem 13. November 2007, abgelehnt wurde. Am 5. November 2007 schloss sie die Ehe mit dem vietnamesischen Staatsangehörigen B. in Hamburg, der seit 1999 im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis bzw. Niederlassungserlaubnis nach dem AufenthG ist. Am 19. November 2007 beantragte sie unter Vorlage der Heiratsurkunde und Nachreichung eines Mietvertrages nebst Verdienstbescheinigung ihres Ehemannes die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Ihr wurde vom Antragsgegner empfohlen, auch einen Umzugsantrag nach Hamburg zu stellen. Dem kam sie mit ihrem Antrag vom 4. Dezember 2007 nach.

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Ein Klageverfahren (1 A 213/07) und ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren (1 B 43/07) wegen Versagung des Asylrechts wurden durch Beschlüsse der Kammer vom 6. Dezember 2007 eingestellt.

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Nachdem die Hamburger Ausländerbehörde mitgeteilt hatte, dem Umzugsantrag werde nicht zugestimmt, da das Einkommen des Ehemannes der Antragstellerin zur Sicherung des Lebensunterhaltes nicht ausreiche, kündigte der Antragsgegner die Ablehnung des Antrages auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis und zugleich die Rückführung der Antragstellerin nach Vietnam für den 25. Februar 2008 an (Androhung der Abschiebung).

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Der ablehnende, auf ein zu geringes Einkommen des Ehemannes der Antragstellerin gestützte Bescheid des Antragsgegners vom 15. Februar 2008 wurde dem Prozessbevollmächtigten der Antragstellerin am 19. Februar 2008 zugefaxt, der seinerseits am 21. Februar 2008 bei der erkennenden Kammer per Fax Klage (1 A 32/08) und den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes einreichte.

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Der Vorsitzende der Kammer ordnete hierauf durch Beschluss vom 22. Februar 2008 vorläufig die aufschiebende Wirkung der Klage bis zu einer Entscheidung der Kammer an und führte zur Begründung aus, die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 15. Februar 2008 sei ernstlich zweifelhaft, so dass das Aussetzungsinteresse das Vollziehungsinteresse zunächst einmal überwiege.

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Die Antragstellerin begehrt mit ihrer Klage 1 A 32/08 die Erteilung der begehrten Aufenthaltserlaubnis und sucht zugleich erneut um gerichtlichen Eilrechtsschutz nach. Sie beantragt in diesem Verfahren,

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die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen,

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hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, im Hinblick auf einen Anspruch auf Erteilung des Aufenthaltstitels die Abschiebung bis zur Entscheidung des erkennenden Gerichts auszusetzen.

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Die Antragsgegnerin beantragt,

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den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen

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und nimmt zur Begründung auf ihre Ausführungen im angefochtenen Bescheid Bezug.

II.

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Der nach § 80 Abs. 5 VwGO zu beurteilende Antrag hat Erfolg.

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Die vorzunehmende Interessenabwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der raschen Aufenthaltsbeendigung und den von der Antragstellerin vorgebrachten privaten Belangen am einstweiligen Verbleib in Deutschland führt hier dazu, dass das Aussetzungsinteresse das Vollziehungsinteresse überwiegt. Denn eine summarische Prüfung der Erfolgsaussichten der Klage ergibt, dass ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides vom 15. Februar 2008 bestehen, mit denen die beantragte Aufenthaltserlaubnis versagt wurde.

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Da die Klage allein auf die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gerichtet ist, der Streitgegenstand insoweit eingeschränkt ist, kommt es hier auf die Ablehnung eines Umzuges bzw. Zuzuges von Niedersachsen nach Hamburg nicht an.

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1. Im Verfahren des § 80 Abs. 5 VwGO ist dann, wenn dem Rechtsschutzantrag keine Vollzugsanordnung gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO vorausgeht, weil nach der Einschätzung des Gesetzgebers auf dem Sachgebiet generell schon ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht (§ 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), aufgrund einer Interessenabwägung analog § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (Finkelnburg/Jank, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage 1998, Rdn. 849 ff./851; Schoch/ Schmidt-Aßmann-Pietzner, VwVG-Kommentar, Bd I / Std: Jan. 2000, § 80 Rdn. 262 m.w.N.).

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Somit hat eine Aussetzung bei ernstlichen Zweifeln schon im Regelfall zu erfolgen (Kopp, VwGO-Komm. 12. Aufl. § 80 Rdnr. 115) - ein Rechtsgedanke, der u.a. auch in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO gilt (Schoch, aaO. Rdn. 204 u. 262; Sodan/ Ziekow, Nomos-Komm. zur VwGO, Losebl., Rz 109; Bader/Funke-Kaiser/Kuntze/von Albedyll, VwGO-Kommentar, Heidelberg 1999, § 80 Rdn. 83; VGH München, BayVBl. 1993, 690; a.A. Kopp, aaO, Rdn. 116). Solche Zweifel sind dann anzunehmen, wenn „Unklarheiten, Unsicherheiten und vor allem Unentschiedenheit bei der Einschätzung der Sach- und Rechtslage“ bestehen (Schoch u.a., aaO., Rdn. 194) bzw. ein Erfolg im Hauptsacheverfahren gleichermaßen unwahrscheinlich wie wahrscheinlich ist (Bader u.a., aaO, Rdn. 56; Kopp, aaO, Rdn. 116; OVG Lüneburg, NVwZ 1987, 997 [OVG Niedersachsen 19.06.1987 - 7 OVG B 20/87]). Das ist hier der Fall.

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2. Hierfür wird zunächst auf den Beschluss der Kammer vom 15. Januar 2008 - 1 B 36/07 - verwiesen sowie weiterhin auf den Beschluss des VG Hamburg vom 3. Dezember 2007 - 10 E 3674/07 - . Vgl. auch den Beschluss des BayVGH vom 28. November 2007 - 19 CS 07.2270 - , in dem es u.a. heißt:

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"Nach derzeitiger Aktenlage ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens in der Frage, ob dem Antragsteller im Hinblick auf § 27 Abs. 1 AufenthG, Art. 6 GG, § 27 Abs. 3 Satz 2, § 5 Abs. 1 Nr. 2, § 55 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 AufenthG eine Aufenthaltserlaubnis versagt werden kann, offen. Auf die Beantwortung dieser Frage kommt es an, denn nur im Falle einer beanstandungsfreien Versagung der Aufenthaltserlaubnis kann ein öffentliches Interesse daran bestehen, die gemäß § 50 Abs. 1, § 58 Abs. 2 Satz 2, § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbare Ausreisepflicht mit Vollstreckungsmaßnahmen, hier der vollziehbaren Abschiebungsandrohung gemäß § 59 Abs. 1 und 2 AufenthG, Art. 21 a Satz 1 VwZVG durchzusetzen. Im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist daher eine Interessenabwägung geboten, die im vorliegenden Fall zu Gunsten des Antragstellers ausfällt, weil dem Grundrecht auf familiäre Gemeinschaft nach Art. 6 Abs. 1 GG besonderes Gewicht zukommt. Es ist eher hinzunehmen, dass der Antragsteller noch den Kontakt zu seinem Kind pflegen kann, auch wenn im Ergebnis die Versagung der Aufenthaltserlaubnis bestandskräftig wird, als seine Entfernung aus Deutschland und damit von seinem Kind, wenn ihm im Ergebnis das Aufenthaltsrecht zustehen sollte. Denn im letzteren Falle würde der möglicherweise grundrechtlich geschützte Bezug zu seiner Tochter mit hoher Wahrscheinlichkeit nachhaltig gestört."

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Es kann im vorliegenden Verfahren dahinstehen, ob ein Anspruch auf Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug bereits nach § 30 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 29 Abs. 1 Nr. 1 und 2 AufenthG besteht oder ob das Erfordernis der Sicherung des Lebensunterhaltes nach § 5 Abs. 1 Nr. 1 iVm § 2 Abs. 3 AufenthG insoweit als Regelerteilungsvoraussetzung entgegensteht und auch unter Berücksichtigung des besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG kein atypischer Fall vorliegt.

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Ob nämlich der Lebensunterhalt der Antragstellerin als gesichert angesehen werden kann, hängt davon ab, ob zu Lasten der Antragstellerin eine Einzelbetrachtung ihres Unterhalts vorgenommen werden kann oder ob eine Einkommens- und Bedarfsgemeinschaft mit dem unterhaltspflichtigen Ehemann gebildet werden muß (für eine Einzelbetrachtung: Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., 2005, § 2 AufenthG Rn 17; für eine Gesamtbetrachtung dagegen: VGH Kassel ZAR 2006; ebenso schon Beschluss vom 22.09.2004 - 2 N 41.04 -, zit. n. juris; VG München, Beschluss vom 04.09.2007 - M 10 S 07.2852, zit. n. juris, Rn 14; VG Dresden, Beschluss vom 01.08.2007 - 3 K 1359/07 -, zit. n. juris, Rn 16; Funke-Kaiser, Gemeinschaftskommentar Aufenthaltsgesetz, Mai 2006, § 2 Rn 43.5; Hailbronner, Ausländerrecht, Januar 2005, § 2 AufenthG Rn 24).

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Dabei könnte im vorliegenden Fall einer Berücksichtigung des Gesamtbedarfs zu Gunsten der Antragstellerin ausschlagen, dass der gesicherte Aufenthaltsstatus ihres Ehemannes weder streitbefangen ist noch von einer Sicherung des Lebensunterhalts abhängt. Allenfalls könnte durch einen (nicht erkennbaren) Bezug von Sozialhilfe ein Ausweisungsgrund nach § 55 Abs. 2 Nr. 6 AufenthG in Betracht kommen, jedoch sein Aufenthaltstitel auch nicht einmal auf dieser Grundlage durch Ausweisung gem. § 51 Abs. 1 Nr. 5 AufenthG zum Erlöschen gebracht werden. Denn der Ehemann der Antragstellerin genießt aufgrund seiner Niederlassungserlaubnis nach § 56 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AufenthG einen besonderen Ausweisungsschutz. Eine Ausweisung könnte gemäß § 56 Abs. 1 Satz 2 AufenthG nur aus schwerwiegenden Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung vorgenommen werden, wozu bloße fiskalische Interessen jedoch nicht zählen und nicht genügen.

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Jedenfalls aber dürfte hier der Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 Abs. 3 AufenthG verletzt sein. Die Voraussetzungen der Ermessensvorschrift sind erfüllt. Der Ehemann der Antragstellerin besitzt eine Niederlassungserlaubnis und die begehrte Aufenthaltserlaubnis dient nach ihrem Sinn und Zweck zunächst der Herstellung und sodann der Wahrung der familiären Lebensgemeinschaft im (gesamten) Bundesgebiet (§ 27 Abs. 1 AufenthG). Eine der Verlängerung fähige Aufenthaltserlaubnis ist - selbst dann, wenn der Lebensunterhalt einmal nicht mehr gesichert sein sollte und kein ausreichender Wohnraum mehr zu Verfügung stehen sollte - gegeben ( § 30 Abs. 3 AufenthG).

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Das eingeräumte Ermessen ist offenbar nicht fehlerfrei ausgeübt. Die Versagung der begehrten Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wird weder durch den Ausweisungsgrund des Bezugs von Sozialhilfe noch durch den Versagungsgrund der fehlenden Sicherung des Lebensunterhalts getragen, wie die Arbeitsbescheinigung des Ehemannes der Antragstellerin und dessen Lohnabrechnung für den Monat Januar 2008 zeigen (Bl. 262-264 der Beiakten A). Vor allem steht das von der Antragsgegnerin ausgeübte Ermessen nicht mit Art. 6 GG im Einklang: Der Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis steht Art. 6 GG keineswegs nur dann entgegen, wenn die familiäre Lebensgemeinschaft allein und nur im Bundesgebiet verwirklicht werden könnte. Vielmehr ist die Ablehnung einer Aufenthaltserlaubnis einer Verhältnismäßigkeitsprüfung am Maßstab des besonderen Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG zu unterziehen. Nicht die familiäre Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet muss erforderlich sein, sondern die Unterbindung der beabsichtigten Herstellung und Wahrung einer familiären Lebensgemeinschaft im Bundesgebiet (§ 27 Abs. 1 AufenthG) muss zu dem ausländerrechtlich verfolgten Zweck geeignet, erforderlich und auch angemessen sein (vgl. auch Art. 8 EMRK). Durch Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Abs. 2 GG als wertentscheidender Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, ist die Ausländerbehörde durch das Grundgesetz verpflichtet, bei ihren aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die familiären Bindungen des den Aufenthalt begehrenden Ausländers an solche Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, pflichtgemäß, d. h. entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen, in ihren Ermessenserwägungen gebührend und wertend zur Geltung zu bringen (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 08.12.2005 - 2 BvR 1001/04 - zit. n. juris). Der hier von der Antragsgegnerin verfolgte fiskalische Zweck eines Schutzes öffentlicher Kassen jedoch trägt zum einen nicht, da der Ehemann der Antragstellerin ein entsprechend auskömmliches Einkommen hat, und er hätte zum anderen aber auch hinter Art. 6 GG zurückzustehen. Denn nach der Wertung des Gesetzgebers (vgl. BT-Drs. 15/210 S. 82) kommt dem Gesichtspunkt der Herstellung wie Aufrechterhaltung der familiären Lebensgemeinschaft, die rechtmäßig im Bundesgebiet geführt wird, ein besonderes Gewicht zu. Der stammberechtigte Ehemann der Antragstellerin erfüllt jedoch hinsichtlich Aufenthaltsstatus und -dauer die Mindestvoraussetzungen desjenigen, zu dem ein Ehegattennachzug möglich ist. Der Ehemann hat eine nach ihrer Klassifizierung hochwertige Niederlassungserlaubnis und lebt seit vielen Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet. Ihm ist nicht zuzumuten, seinen Aufenthaltsstatus ohne zwingenden Grund aufzugeben.

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Die Versagung der begehrten Aufenthaltserlaubnis durfte auch nicht auf den Versagungsgrund des § 27 Abs. 3 AufenthG gestützt werden. Nach dieser Vorschrift kann die Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug dann nach Ermessen versagt werden, wenn der Stammberechtigte für den Unterhalt anderer Familienangehöriger auf Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch angewiesen ist. Das ist hier erkennbar nicht der Fall.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.