Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 29.05.2008, Az.: 1 B 6/08

Ermessensdefizit bei Beschränkung der Auswahlentscheidung auf eine nachvollziehbar in Frage gestellte Notendifferenz

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
29.05.2008
Aktenzeichen
1 B 6/08
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2008, 45936
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGLUENE:2008:0529.1B6.08.0A

Fundstellen

  • SchuR 2010, 132
  • SchuR 2008, 117

Gründe

1

Nachdem die Beteiligten den Rechtsstreit in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren entsprechend § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

2

Über die Kosten des Verfahrens ist gem. § 161 Abs. 2 VwGO unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen zu entscheiden. Hier entspricht es der Billigkeit, der Antragsgegnerin die Verfahrenskosten aufzuerlegen. Denn das Auswahlverfahren war von zahlreichen Mängeln geprägt, die einen Erfolg des Antrages - wäre zu entscheiden gewesen - nahe gelegt hätten. Die zwischen dem Antragsteller und der Antragsgegnerin vergleichsweise getroffene Regelung, die zur Erledigung des Verfahrens geführt hat, fällt gegenüber diesen sachlich gravierenden Mängeln des Auswahlverfahrens nicht ins Gewicht und ist unter Billigkeitsgesichtspunkten nicht berücksichtigungsfähig.

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1. Zunächst hat die Auswahlkommission es pflichtwidrig unterlassen, sämtliche für das Amt als Leiter der Berufsbildenden Schulen in Y. bedeutsamen und dieses Amt prägenden Auswahlgesichtspunkte zu sichten und sodann in ihre Entscheidung wertend einzubeziehen. Im verfassungsrechtlich geprägten Auswahlverfahren (Art. 19 Abs. 4 GG, vgl. hierzu BVerfG, Beschl.v. 9.7.2007 - 2 BvR 206/07 -, Art. 33 Abs. 2 GG) nämlich

"...ist zu fragen, ob sich das Auswahlverfahren gerade im Hinblick auf das zu vergebende Amt als sachgerecht erweist." (Maunz in Maunz-Dürig, GG-Kommentar, Art. 33 Rdn. 20)

"Viele der mit einer Berufung in ein öffentliches Amt zusammenhängenden Vorgänge sind nur schwer kontrollierbar, und die Gefahr von Verfassungsverstößen ist hier besonders groß. Darum ist das Ausleseverfahren nach Möglichkeit so zu gestalten..." (Maunz, aaO., Rdn. 23).

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Die von der Auswahlkommission hier getroffene Entscheidung ist ausschließlich auf die Notendifferenz ("gut" / "befriedigend") gestützt worden, die sich bei den herkömmlichen Unterrichtsbesichtigungen ergeben hat. Damit hat die Kommission - wenig sachgerecht - bei einer anforderungslosen Ausschreibung (Schulverwaltungsblatt 12/2006) all jene Anforderungen ausgeblendet, die heute an jeden Leiter einer Schule zu stellen sind (§ 43 NSchG, Schreiben vom 12.10.2007). Diese Anforderungen treten bei einer - von methodisch-didaktischen Gesichtspunkten geprägten - Unterrichtsbesichtigung mit ihrem zufälligen, vom Schülerverhalten abhängigen Stundenverlauf gar nicht bzw. nur am Rande - ggf. im Teil "Stellenbezogenes Gespräch" - zutage. Denn eine solche Besichtigung hat eine andere Zielrichtung und ist auf pädagogische Unterrichtskompetenzen ausgerichtet, die mit den Funktionen eines Schulleiters moderner Prägung (Sozialkompetenz, Organisationstalent) nichts mehr zu tun haben. Unterstrichen wird das hier dadurch, dass zwar in der "zusammenfassenden Beurteilung" (VI) v. 25.6.2007 gerügt wird, der Antragsteller zeige "bei der Planung und Durchführung des eigenen Unterrichts Defizite, was ein handlungsorientiertes didaktisch-methodisches Konzept betrifft", dass aber weder Beratungsgespräch noch Auswahlgespräch in gleicher Weise kritisiert werden. Im letzten Absatz der Beurteilung des "Stellenbezogenen Gesprächs" wird dem Antragsteller sogar eine "intensive" Auseinandersetzung "mit der möglichen Rolle des Schulleiters" zugestanden und die Entwicklung eigener Vorstellungen attestiert.

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Die Tauglichkeit des gesamten Auswahlverfahrens, so wie es durchgeführt worden ist, steht somit im Hinblick auf den - richtig verstandenen - Leistungsgrundsatz des Art. 33 Abs. 2 GG hier in Frage.

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2. Weiterhin hat die Auswahlkommission unbeachtet gelassen, dass der Antragsteller bislang auf der Grundlage von Unterrichtsbesichtigungen mehrfach mit der Note "sehr gut" beurteilt worden ist, die er bei der Unterrichtsbesichtigung vom Juni 2007 - aus welchen Gründen auch immer - jedoch nicht wieder hat erreichen können. Deshalb wurde die Landesschulbehörde vom Antragsgegner ja auch aufgefordert, die um zwei Notenstufen ("befriedigend" statt "sehr gut") aus dem Rahmen fallende Beurteilung des Antragstellers nochmals zu begründen. Unter solchen Umständen bestand für die Kommission Anlass, von der schlichten Notendifferenz, die bekanntermaßen in wenig zielführenden Unterrichtsbesichtigungen entstanden war, als einer kaum tragfähigen Begründung für ihre Entscheidung Abstand zu nehmen und in eine ermessensfehlerfreie Gesamtabwägung einzutreten, die verfassungsrechtlichen Anforderungen (Art. 33 Abs. 2 GG) dann auch standhält.

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3. Zudem ist auf dieser Grundlage einer bloßen Notendifferenz völlig außer Betracht geblieben, dass dem Antragsteller das Amt eines Studiendirektors als ständiger Vertreter des Schulleiters seit dem 1. August 2005 bereits übertragen ist, er also schon seit längerem Leitungsfunktionen innehat und wahrnimmt, u.zw. ohne jede Beanstandung. In dieser Funktion betreut er die EDV-gestützte Schulverwaltung, koordiniert er die Ausleihe der Lernmittel und wirkt er schulübergreifend bei der Betreuung des Aufnahmeverfahrens neuer Schülerinnen und Schüler mit, welches vier Berufsbildende Schulen gemeinsam entwickelt haben. Der Antragsteller ist ausgebildeter EFQM-Assessor und leitet an seiner Schule die entsprechende Arbeitsgruppe "Führung". Er ist für die Koordination der Fachgruppe "Neue Technologien" zuständig. Vgl. insoweit den "Einsatzbericht" vom 1.3.2007, der die umfangreichen Tätigkeiten des Antragstellers auflistet und der anlässlich der Bewerbung des Antragstellers im März 2007 an die Landesschulbehörde gesandt wurde.

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Diese Berücksichtigung von Leitungsfunktionen wird auch vom OVG NRW (IÖD 2007, 38; Schütz, BeamtR ES/D I 2 Nr. 81) betont, wenn es fordert, dass im Falle der Wahrnehmung von Schulleitungsaufgaben diese einer Bewertung unterzogen und in die Auswahlentscheidung einbezogen werden müssen. Das ist hier zu Lasten des Antragstellers jedoch nicht geschehen.

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4. Mängel des Auswahlverfahrens ergeben sich im Übrigen auch daraus, dass der Antragsteller die Beurteilung vom Juni 2007 mit der vergebenen Note "befriedigend" unter dem Gesichtspunkt einer Besorgnis der Befangenheit der X. nachvollziehbar und für ein Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes ausreichend in Frage gestellt hat (vgl. dazu Schr.v. 20.2.2008). Von einer Verwirkung kann insoweit - nach 7 Monaten - noch keine Rede sein (argument: § 58 Abs. 2 VwGO). Dabei spielt auch eine Rolle, dass die hier zu der Notendifferenz führenden Beurteilungen von verschiedenen Beurteilern mit offenbar verschiedenen Beurteilungsmaßstäben gefertigt wurden.

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5. Schließlich ist die Beigeladene, die an der BBS in Y. unterrichtet, von der Auswahlkommission ausgewählt und dem Antragsteller gegenüber letztlich vorgezogen worden, obwohl § 45 Abs. 3 NSchG bestimmt, dass eine solche Entscheidung zu Gunsten eines "Hausbewerbers" nur getroffen werden soll, wenn besondere Gründe das auch rechtfertigen. Als Grund ist hier die "deutlich bessere Qualifikation des Hausbewerbers" ins Feld geführt worden (S. 4 des Schr. 21.2.2008), die nun allerdings allein auf die gen. Notendifferenz gestützt worden ist und damit - unter Qualifikationsaspekten und dem von Führungs- und Leitungskompetenzen - einer tragfähigen Begründung jedenfalls deutlich entbehrt.

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Dieser Gesichtspunkt ist im Rahmen des billigen Ermessens (§ 161 Abs. 2 VwGO) unabhängig davon berücksichtigungsfähig, ob der Antragsteller seinen Antrag auf § 45 Abs. 3 NSchG hätte stützen können (Brockmann/Schippmann/Littmann, NSchG 9/07, § 45 Rdn. 6.3).

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6. Alles in allem ist die angegriffene Auswahlentscheidung der Kommission somit von einem Ermessensdefizit und von einer Ermessensunterschreitung geprägt. Vgl. dazu VG Frankfurt, Beschl.v. 14.4.2008 - 9 G 4315/07 -:

"Der Dienstherr hat bei Auswahlentscheidungen Eignung, Befähigung und fachliche Leistung der Bewerber auf der Grundlage des gesamten für die persönliche und fachliche Einschätzung der Eignung der Bewerber bedeutsamen Inhalts der Personalakten - insbesondere der aktuellen dienstlichen Beurteilungen - einem wertenden Vergleich im Hinblick auf das spezifische Anforderungsprofil der zu besetzenden Stelle zu unterziehen. Ob der Dienstherr diese Auswahlkriterien beachtet hat, unterliegt in vollem Umfang der gerichtlichen Kontrolle (BVerfG, 1. Kammer 2. Senat , Beschluss vom 20.09.2007, 2 BvR 1972/07, NVwZ 2007, 1178, 1179)...

Die Antragsgegnerin hat ihre Auswahlentscheidung...ausschließlich auf der Grundlage eines wertenden Vergleichs der für den Bewerber und die Bewerberinnen erstellten dienstlichen Beurteilungen gestützt. Bei diesem Vergleich ....

Sie hat jedoch nicht alle für den Eignungs- und Leistungsvergleich maßgebenden Gesichtspunkte hinreichend in ihre Erwägungen einbezogen, sodass die Auswahlentscheidung an einem Ermessensdefizit leidet."

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Die Auswahlkommission hat sich nicht - wie es mit Blick auf Art. 33 Abs. 2 GG erforderlich gewesen wäre - einem wertenden Vergleich sämtlicher Gesichtspunkte unterzogen, sondern allein "aufgrund der Differenz in der Notenstufe" entschieden (Schr. der Antragsgegnerin v. 24.4. Das ist zu wenig und nicht tragfähig.

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Im Beschluss der Kammer vom 18. September 2007 - 1 B 20/07 - heißt es u.a.:

"Im Allgemeinen kann daher im Lichte des Art. 33 Abs. 2 GG auf eine Unterrichtsbesichtigung nur mit Zurückhaltung zurückgegriffen werden, zumal sie - wie Auswahlgespräche - nur eine begrenzte Aussagekraft hat ( OVG Bremen, ZBR 2001, 221; OVG Münster, NVwZ-RR 1995, 100; HessVGH, ZBR 1994, 347). Das gilt im Lichte des Art. 19 Abs. 4 GG u.a. deshalb, weil die durch Personalaktenführung, Beurteilungen und Rechtsprechung verfeinerte Verwaltungspraxis im Beurteilungswesen sehr viel mehr Gewähr dafür bietet, dass keine pauschalen, einer "Momentaufnahme" entstammenden und ggf. willkürlichen Werturteile zur Grundlage von grundrechtsrelevanten Verwaltungsentscheidungen gemacht werden....

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Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind unter Billigkeitsgesichtspunkten nicht erstattungsfähig, § 162 Abs. 3 VwGO.

Streitwertbeschluss:

Die Streitwertbemessung geht auf die §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 5 Satz 2 GKG zurück.