Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.03.2003, Az.: 11 K 262/02
Haftung bei Organschaft; Haftung für steuerliche Nebenleistungen; Haftung für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 04.03.2003
- Aktenzeichen
- 11 K 262/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 17378
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2003:0304.11K262.02.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 05.10.2004 - AZ: VII R 76/03
Rechtsgrundlagen
- § 73 AO 1977
- § 239 Abs. 1 S. 1 AO 1977
Fundstellen
- DStR 2003, XVI Heft 51-52 (Kurzinformation)
- DStRE 2004, 51 (Volltext mit amtl. LS)
- Konzern 2003, 861-862
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Die Haftung bei Organschaft nach § 73 AO umfasst nicht die Haftung für steuerliche Nebenleistungen wie z. B. Zinsen. Denn steuerliche Nebenleistungen wie die Zinsen nach § 233a AO sind keine Steuern.
- 2.
Es ist für die Auslegung des § 73 AO unerheblich, dass nach § 239 Abs. 1 Satz 1 AO auf Zinsen die für Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Haftung bei Organschaft (§ 73 Abgabenordnung - AO -) auch die Haftung für Zinsen nach § 233a AO umfasst.
Zwischen der Klägerin, die früher unter G Steuerberatungsgesellschaft mbH firmierte, und G bestand bis zum 31.12.1998 eine umsatzsteuerliche Organschaft, wobei G Organträger und die Klägerin Organgesellschaft war. Hierauf wies die Klägerin (allerdings erst) 1999 hin. Die Organschaft hatte der Beklagte bis dahin (erklärungsgemäß) nicht berücksichtigt und Umsatzsteuer gegen die Klägerin festgesetzt. Nach Aufhebung der Umsatzsteuerfestsetzungen 1993 bis 1997 der Klägerin und Erfassung der Umsätze beim Organträger wurden gemäß § 233 a AO zugunsten der Klägerin (Erstattungs-)Zinsen in Höhe von 78.976 DM und zuungunsten des Organträgers (Nachforderungs-)Zinsen in gleicher Höhe festgesetzt.
Nachdem schon Vollstreckungsversuche wegen anderer Abgabenrückstände beim Organträger nicht zum Erfolg geführt hatten, nahm der Beklagte die Klägerin mit Bescheid vom 04.07.2000 für die Nachforderungszinsen gemäß § 73 AO in Haftung. Da der Beklagte den Einspruch nicht beschied, erhob die Klägerin am Untätigkeitsklage. Mit Bescheid vom...wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Haftung bei Organschaft nach § 73 AO umfasse nicht die Haftung für steuerliche Nebenleistungen wie Zinsen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Haftungsbescheid vom...und den Einspruchsbescheid vom...aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, die Organgesellschaft hafte nicht nur für die Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist, sondern auch, soweit diese Steuern zu verzinsen sind. Dies folge daraus, dass nach § 239 Abs. 1 Satz 1 AO auf Zinsen die für Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden seien. Nach dem Regelungsinhalt des § 73 solle die Vorschrift dafür sorgen, dass das wirtschaftlich einheitliche Unternehmen "Organschaft" für die von ihr aus der Unternehmensform gezogenen wirtschaftlichen Vorteile aufkommen solle.
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom...und...auf mündliche Verhandlung verzichtet und sich mit einer Entscheidung durch den Berichterstatter einverstanden erklärt.
Gründe
Die Klage ist begründet. Der Haftungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Der Haftungsbescheid und der dazu ergangene Einspruchsbescheid sind daher aufzuheben (§ 100 Abs. 1 Satz 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -).
1.
Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO) und durch den Berichterstatter (§ 79 a Abs. 3 und 4 FGO).
2.
Die Haftung bei Organschaft nach § 73 AO umfasst nicht die Haftung für steuerliche Nebenleistungen wie z. B. Zinsen.
Dies ergibt sich aus dem Wortlaut der Vorschrift. Nach § 73 AO haftet eine Organgesellschaft für solche Steuern des Organträgers, für welche die Organschaft zwischen ihnen steuerlich von Bedeutung ist. Den Steuern stehen die Ansprüche auf Erstattung von Steuervergütungen gleich. Steuerliche Nebenleistungen wie die Zinsen nach § 233 a AO sind aber nach der Terminologie der AO (§ 3 Abs. 1 und 3 AO) keine Steuern (Loose in Tipke/Kruse, AO, § 73, 7; Kühn/Hofmann, AO-FGO, § 73, 1, 3; a.A. Boeker in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO, § 73, 18; Schwarz, AO, § 73, 6; Klein/Rüsken, AO, § 73, 10).
Es gibt auch keinen Hinweis darauf, dass dem Gesetzgeber bei der Abfassung des § 73 AO ein Versehen unterlaufen wäre, das im Wege der Auslegung korrigiert werden müsste. Der Gesetzgeber hat den Umfang der Haftung in den §§ 69 ff AO sehr unterschiedlich geregelt. Die §§ 69, 72 AO begründen eine Haftung für Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis im Sinne des § 37 Abs. 1 AO, also auch für steuerliche Nebenleistungen. Nach § 70 AO wird für Steuern und Steuervorteile gehaftet, zu denen die steuerlichen Nebenleistungen nicht gehören (BFH-Urteil vom 05.11.1993 VI R 16/93, BStBl II 1994, 557). Die Haftung nach § 71 AO erstreckt sich auf Steuern, Steuervorteile und (nur) Hinterziehungszinsen nach § 235 AO. Aus den §§ 74, 75 AO ergibt sich - insoweit gleich lautend mit § 73 AO - eine Haftung für Steuern und Ansprüche auf Erstattung von Steuervergütungen, wobei § 75 AO zusätzlich noch die Haftung für Steuerabzugsbeträge anordnet. Diese differenzierte Gesetzeslage lässt nur den Schluss zu, dass nach den Vorstellungen des Gesetzgebers in den Fällen des § 73 AO nicht für steuerliche Nebenleistungen wie Zinsen gehaftet werden soll.
Diese Auslegung stimmt im Übrigen mit der der Finanzverwaltung für die dieselben Begriffe - Steuern und Ansprüche auf Erstattung von Steuervergütungen - wie § 73 AO verwendenden §§ 74, 75 AO überein, wonach sich die Haftung nach §§ 74, 75 AO nicht auf steuerliche Nebenleistungen erstreckt (AEAO zu § 74, Nr. 2 Satz 3; zu § 75, Nr. 4.1 Satz 5).
Dass nach § 239 Abs. 1 Satz 1 AO auf die Zinsen die für die Steuern geltenden Vorschriften entsprechend anzuwenden sind, spielt für die Auslegung der Haftungsvorschrift des § 73 AO keine Rolle. Bei der Auslegung der Vorschrift sind deren Wortlaut, Überschrift und Stellung im 1. Unterabschnitt des zweiten Abschnitts des fünften Teils (Erhebungsverfahren) der AO zu beachten. Aus dem Wortlaut des § 239 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AO und aus der Überschrift der Vorschrift folgt, dass die Verweisung des Halbsatzes 1 nur für solche Vorschriften gilt, die die Festsetzung von Steuern regeln. Dies ergibt sich in gleicher Weise aus dem Zusammenwirken des § 239 Abs. 1 Satz 1 und des § 1 Abs. 3 AO. Während nach § 1 Abs. 3 AO generell die Vorschriften der AO auf steuerliche Nebenleistungen und damit auch bei der Verzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen (vgl. § 3 Abs. 3 AO) sinngemäß anwendbar sind, bedurfte es der Verweisung des § 239 Abs. 1 Satz 1 AO, um zu regeln, dass sich die Festsetzung von Zinsen unbeschadet der Stellung des § 239 AO innerhalb der Vorschriften über das Erhebungsverfahren nach den §§ 155 ff. AO richtet. Eine solche Rechtsfolge ergibt sich aus § 1 Abs. 3 AO noch nicht. Im Übrigen belegt die Stellung des § 239 Abs. 1 Satz 1 AO innerhalb der Vorschriften über das Erhebungsverfahren, dass nur die Verzinsungsfolgen aus der vorübergehenden Nichtverwirklichung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis geregelt werden sollen (BFH-Urteil vom 23.11.1988 I R 180/85, BStBl II 1989, 116 m.w.N.).
Das vom Beklagten erstrebte Ziel, bei nachträglich aufgedeckter Organschaft einen Ausgleich hinsichtlich der Erstattungs- und Nachforderungszinsen zu erreichen, ist über die Haftungsvorschrift des § 73 AO nicht möglich. Ein entsprechender Wille des Gesetzgebers, den der Beklagte vermutet, hat in der gesetzlichen Regelung keinen Niederschlag gefunden.
Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zugelassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO). Die im Streitfall maßgebliche Rechtsfrage berührt das Interesse der Allgemeinheit an der einheitlichen Entwicklung und Handhabung des Rechts.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.