Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 14.09.2011, Az.: 5 A 167/11

Gruppenverfolgung; Integration; mangelnder Erlass; ministerielle Krankheit; Religionsgemeinschaft; Türkei; Widerruf; Altfall; Yezide

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
14.09.2011
Aktenzeichen
5 A 167/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 45126
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kläger tragen die außergerichtlichen Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Tatbestand:

Die Kläger wenden sich gegen den Widerruf ihrer Anerkennung als Asylberechtigte und Flüchtlinge (Widerruf der Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, jetzt § 60 Abs. 1 AufenthG).

Der 1953 geborene Kläger zu 1) und die 1958 geborene Klägerin zu 2) sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens. Sie reisten Ende 1992 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten ebenso wie ihre neun (zwischen 1983 und 1994 geborenen) Kinder ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Mit bestandskräftig gewordenem Bescheid vom 29. September 1994 erkannte sie das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (nunmehr Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, im Folgenden: Bundesamt) als Asylberechtigte an und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich der Türkei vorliegen. Hintergrund der Anerkennung war die seinerzeit angenommene mittelbare Gruppenverfolgung wegen ihres yezidischen Glaubens.

Die Kläger besitzen unbefristete Niederlassungserlaubnisse, während ihre mittlerweile größtenteils volljährigen Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit erworben haben. Sie leben von Sozialleistungen. Laut Auskunft der Deutschen Botschaft in A. vom 22. Juni 2009 bezieht der Kläger zu 1) eine Rente von der türkischen Beamtenversicherung und ist Eigentümer eines 10 ha großen Grundstücks K., Kreis V., Provinz S..

Nachdem der Kläger zu 1) im November 2009 gegenüber der Ausländerbehörde des Landkreises O. erklärt hatte, in die Türkei reisen und dort seine Eigentumsverhältnisse sowie seine Rentenansprüche klären zu wollen, sich diesbezüglich Hinweise auf einen Betrug wegen rechtswidrig erlangter Sozialleistungen ergaben und sich die Ausländerbehörde an das Bundesamt gewandt hatte, leitete dieses im August 2010 ein Widerrufsverfahren ein. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, infolge wesentlich geänderter Umstände drohe den Klägern im Falle einer Rückkehr in die Türkei keine mittelbare staatliche Verfolgung seitens der muslimischen Bevölkerung wegen ihres yezidischen Glaubens mehr. Wegen des begangenen Sozialbetrugs und mangels Integration sowie hinreichender Deutschkenntnisse überwiege das öffentliche Interesse am Widerruf die persönlichen Interessen der Kläger am Erhalt ihres Status.

Im Rahmen ihrer Anhörung verwiesen die Kläger auf jeweils diverse ärztlich attestierte Erkrankungen (Atteste des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 21. Oktober 2010).

Mit Bescheid vom 11. Januar 2011 widerrief das Bundesamt die Asylanerkennung sowie die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen. Gleichzeitig stellte es fest, dass die Voraussetzungen der Flüchtlingseigenschaft nach § 60 Abs. 1 AufenthG nicht vorliegen und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht gegeben sind. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, der asylrechtliche Status sei zwingend nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG und hilfsweise nach Ermessen gemäß § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG gerechtfertigt, zumal öffentliche Interessen an einem Widerruf die Belange der Kläger überwögen. Die der bestandskräftigen Anerkennung zugrunde liegende Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung wegen des yezidischen Glaubens lasse sich heute mangels nachgewiesener aktueller Referenzfälle nicht mehr aufrecht erhalten. Ebenso wenig könne eine nicht staatliche regionale Gruppenverfolgung nach § 60 Abs. 1 Satz 4 AufenthG festgestellt werden. Auch Kurden unterlägen grundsätzlich keiner Gruppenverfolgung. Das Verhalten des Klägers zu 1) spreche gegen eine gegenwärtige Verfolgungsgefahr. Zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe gemäß § 73 Abs. 1 Satz 3 AsylVfG bestünden ebenfalls nicht. Die Voraussetzungen für Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor. Die Erkrankungen könnten die Kläger hinreichend in der Türkei behandeln lassen, zumal sie über Grundeigentum und Rentenansprüche verfügten sowie ggf. ergänzend finanzielle Unterstützung durch ihre zahlreichen volljährigen Kinder aus dem Bundesgebiet erlangen könnten.

Die Kläger haben am 20. Januar 2011 Klage erhoben. Sie tragen vor: Ein zwingender Widerruf sei bereits formell rechtswidrig, weil nicht binnen der in § 73 Abs. 7 i.V.m Abs. 2a Satz 4 AsylVfG vorgegebenen Fristen erfolgt. Für den hilfsweisen Ermessenswiderruf fehlten tragfähige Ermessenserwägungen. Entgegen der neueren Rechtsprechung drohe Yeziden bei einer Rückkehr in die Türkei weiterhin eine mittelbare Gruppenverfolgung wegen ihrer Religionszugehörigkeit. Sie könnten in der Türkei ihre religiöse Überzeugung als Yeziden nicht ausleben, da sie dann unweigerlich mit Übergriffen der muslimischen Bevölkerung zu rechnen hätte. In den letzten Jahren seien yezidische Heiligtümer vernichtet und geschändet worden. Die öffentliche Kundgabe der Religion in der Türkei sei für die Yeziden unmöglich. Das Bundesamt müsse sich aus Gleichbehandlungsgründen an seiner Entscheidungspraxis festhalten lassen, Widerrufsbescheide betreffend türkische Yeziden aufzuheben bzw. zu unterlassen. Die vorgeworfenen Verfehlungen seien nicht vollständig aufgeklärt, nicht so schwerwiegend und könnten jedenfalls der Klägerin zu 2) nicht ohne Weiteres zugerechnet werden. Der Bezug einer Rente als Soldat des Zypernkrieges sei den deutschen Behörden seit längerem bekannt. Zwischenzeitlich sei ihm - dem Kläger zu 1) - die Rente von seinem Bruder vorenthalten worden, ebenso wie ein Ausgleich für die Bewirtschaftung seines nur etwa 8000 qm großen Landes. Eine strafrechtliche Verurteilung deswegen gebe es nicht. Nunmehr werde die Rente mit den Sozialleistungen verrechnet. Zu berücksichtigen sei, dass sie als Analphabeten mit geringem Bildungsniveau und starker familiärer sowie krankheitsbedingte Belastung Schwierigkeiten bei der sprachlichen wie der beruflichen Integration hätten. Immerhin hätten sie dafür gesorgt, dass sich ihre neun Kinder ordentlich integriert hätten. Jedenfalls wegen der vielen Erkrankungen sei eine Rückkehr in die Türkei unzumutbar. Der Kläger zu 1) leide unter diversen Erkrankungen (Schultersteife mit Schleimbeutelentzündung, Bescheinigung des Orthopäden G. vom 27. Juli 2011; L., rezidivierend, Tinnitus, Hypercholesterinämie, Refluxösophagitis, Spannungskopfschmerz, Myokardis [Herzmuskelentzündung] mit nachwirkender Leistungsverminderung des Herzmuskels, vgl. Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 18. August 2011). Die Klägerin zu 2) leide ebenfalls unter diversen Erkrankungen (insulinpflichter Diabetes Typ II, Kniearthrose, Hypercholesterinämie, Migräne, Spannungskopfschmerz, Psychosomatische Beschwerden, rezidivierende Lumbalgien bei Spondylolisthesis L4/L5, vgl. Bescheinigung des Facharztes für Allgemeinmedizin Dr. E. vom 18. August 2011). Neben der derzeitigen medikamentösen Behandlung seien weitergehende Therapiemaßnahmen erforderlich, die sie in ihrem Heimatland nicht angemessen erlangen könnten. Krankheits- sowie altersbedingt sei ihre Erwerbsfähigkeit erheblich eingeschränkt. Wegen eines Familienstreits komme eine Unterstützung durch Verwandte in der Türkei, etwa die Brüder des Klägers zu 1), nicht in Betracht. Auch die mittlerweile hier eingebürgerten Kinder könnten ihnen keine finanzielle ausreichende Unterstützung aus Deutschland zukommen lassen.

Die Kläger beantragen,

den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Januar 2011 aufzuheben,

hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, hinsichtlich der Türkei Abschie-bungsverbote nach § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG bezüglich ihrer Person festzustellen,

weiter hilfsweise die Beklagte zu verpflichten, hinsichtlich der Türkei Ab-schiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG bezüglich ihrer Person festzustellen,

und den Bescheid des Bundesamtes vom 11. Januar 2011 aufzuheben, soweit er dem entgegensteht.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie verteidigt den angefochtenen Bescheid. Ihre allein rechtspolitisch bedingte Praxis der Aufhebung der Widerrufsbescheide von Amts wegen bei straffreien und integrierten Yeziden könne auch unter Gleichbehandlungsgesichtpunkten nicht auf die Kläger übertragen werden.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes sowie die Ausländerakte des Landkreises O. verwiesen. Weiter wird verwiesen auf Auskünfte, Gutachten, Stellungnahmen und Presseberichte, die auf Blatt 32 ff. der Gerichtsakte aufgeführt und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 VwGO).

Rechtsgrundlage für den Widerruf ist § 73 AsylVfG in der gegenwärtig geltenden Fassung (§ 77 Abs. 1 S. 1 AsylVfG). Insoweit liegen die formellen ebenso wie die materiellen Voraussetzungen vor.

Der angefochtene Widerruf leidet nicht an formellen Mängeln. Insbesondere durfte er trotz des Ablaufs der in § 73 Abs. 7 i.V.m Abs. 2a Satz 4 AsylVfG vorgegebenen Fristen (also bis zum 31. Dezember 2008 ggf. zuzüglich eines angemessenen Prüfungszeitraums) als sog. zwingender Widerruf ergehen, so dass nicht zu prüfen war, ob die vorsorglich hilfsweise angeführten Ermessenserwägungen ordnungsgemäß i.S.v. § 73 Abs. 2a Satz 4 AsylVfG sind. Bei der - wie hier - nach altem Recht (AuslG 1990) erfolgten Asylanerkennung und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kann auch noch dann ein (zwingender) Widerruf ergehen, wenn das Bundesamt bis zum 31. Dezember 2008 keine Prüfung der Voraussetzungen vorgenommen hat. Die bloße Untätigkeit steht einer sog. Negativentscheidung i.S.v. § 73 Abs. 2a Satz 1 - 3 AsylVfG nicht gleich, so dass ein Widerruf in diesem Fall keiner Ermessensausübung bedarf (vgl. BayVGH, Urteil vom 21. März 2011 - 13a B 10.30074 - juris; auch das Nds. OVG, Urteil vom 27. Mai 2010 - 10 LB 60/07 - betont den Zusammenhang zwischen Negativentscheidung und dem Ermessenswiderruf; VG Stuttgart, Urteil vom 12. Juli 2011 - A 6 K 483/11- juris). Der Gesetzgeber hat bei verständiger Auslegung der Vorschriften den tendenziell günstigeren Ermessenswiderruf nur für den Fall vorgesehen, dass das Bundesamt die Frage des zwingenden Widerrufs bereits geprüft und verneint hat. Im Übrigen belässt er es bei der Regelung bestimmter Fristen als bloße Handlungsanweisung an das Bundesamt, ohne jedoch an die Verletzung der Prüfungsfristen subjektive Rechte zugunsten des Ausländers zu knüpfen. Ob die Jahresfrist nach § 49 Abs. 2 S. 2, § 48 Abs. 4 VwVfG auch in derartigen Widerrufsverfahren gilt, bedarf hier keiner Entscheidung, da diese Frist, die frühestens nach einer Anhörung der Kläger mit angemessener Frist mit Stellungnahme zu laufen beginnt (BVerwG, Urteil vom 20. März 2007 - 1 C 21.06 - NVwZ 2007, 1089), hier eingehalten wäre. Das Bundesamt hat mit Bescheid vom 11. Januar 2011 die Flüchtlingsanerkennung der Kläger widerrufen, nachdem es sie zuvor unter dem 16. August 2010 schriftlich angehört und ihnen so Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat.

Nach § 73 Abs. 1 S. 1 AsylVfG ist die Anerkennung als Asylberechtigter und die Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG (früher § 51 Abs. 1 AuslG) vorliegen, unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn sich die zum Zeitpunkt der Anerkennung maßgeblichen Verhältnisse nachträglich erheblich und nicht nur vorübergehend so verändert haben, dass bei einer Rückkehr des Ausländers in seinen Herkunftsstaat eine Wiederholung der für die Flucht maßgeblichen Verfolgungsmaßnahmen auf absehbare Zeit mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen ist und nicht aus anderen Gründen Verfolgung droht (BVerwG, Urteil vom 20. März 2007 - 1 C 21.06 - NVwZ 2007, 1089 und Urteil vom 1. November 2005 - 1 C 21.04 - DVBl. 2006, 511 = InfAuslR 2006, 244). Beruft sich der anerkannte Flüchtling darauf, dass ihm bei der Rückkehr in seinen Heimatstaat nunmehr eine gänzlich neue und andersartige Verfolgung drohe, ist dabei der allgemeine Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit anzuwenden (BVerwG, Urteile vom 20. März 2007 - 1 C 21.06 - und vom 18. Juli 2006 - 1 C 15.05 - BVerwGE 126, 243).

Unter Zugrundlegung dieser rechtlichen Maßstäbe hat das Bundesamt die Asylanerkennung zu Recht widerrufen, denn die tatsächlichen Verhältnisse in der Türkei haben sich bis heute derart geändert, dass eine mittelbare Gruppenverfolgung der Yeziden in ihren angestammten Siedlungsgebieten in der Türkei nicht mehr festgestellt werden kann.

Die Kammer hat in ihrem Urteil vom 2. Oktober 2008 (5 A 3155/06 - juris) in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts - Nds. OVG - (etwa Grundsatzurteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - juris; Beschluss vom 1. September 2008 - 11 LA 206/08 -) entschieden, dass auch unter Beachtung des im Widerrufsverfahren gebotenen Maßstabs der hinreichenden Sicherheit vor Verfolgung für zurückkehrende Yeziden keine Gefahr einer mittelbaren Gruppenverfolgung in der Türkei besteht und daher der Widerruf von Asyl und Flüchtlingseigenschaft nach § 51 Abs. 1 AuslG grundsätzlich rechtmäßig ist. Es hat sich dabei mit den Auswirkungen der so genannten EU-Qualifikationsrichtlinie (ABl. EU L 304 vom 30. April 2004, S. 12 ff.), dem Vorlagebeschluss des Bundesverwaltungsgerichts - BVerwG - an den Europäischen Gerichtshof - EuGH - vom 7. Februar 2008 (10 C 23, 31 und 33.07 - juris) und neueren Erkenntnismitteln über die Lage der Yeziden in der Türkei und deren gewandeltes religiöses Selbstverständnis im Exil auseinander gesetzt (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 17. Juli 2007 - 11 LB 332/03 - juris, bestätigt durch BVerwG, Beschluss vom 23. April 2008 - 10 B 156.07 -; Beschlüsse vom 29. November 2007 - 11 LB 14/06 - und vom 2. September 2010 - 11 LA 563/09 -; OVG NW, Urteil vom 31. August 2007 - 15 A 5128/04.A -; OVG Sachsen Anhalt, Urteil vom 24. Oktober 2007 - 3 L 303 und 380/04 - und vom Urteil vom 24. Februar 2011 - A 3 B 551/07 - juris; OVG Saarland, Urteil vom 11. März 2010 - 2 A 401/08 -). Die abweichenden Entscheidungen zur Frage der hinreichenden Verfolgungssicherheit von Yeziden vor den Gefahren einer erneuten mittelbaren Gruppenverfolgung wegen ihres Glaubens (OVG Rh.-Pf., Urteil vom 21. Februar 2008 - 10 A 11002/07 - und vom 5. Juni 2007 - 10 A 11576/06 -; daran anknüpfend: OVG Schleswig, Beschluss vom 22. August 2007 - 4 LA 40/07 - Asylmagazin 2007, 19) hat es insbesondere als nicht überzeugend erachtet, weil dort - anders als bei der eingehenden Würdigung des Niedersächsischen OVG - fünf Übergriffsfälle auf Yeziden in angreifbarer Weise zu der anderen Lageeinschätzung herangezogen werden und die bei der Annahme von Gruppenverfolgung selbst bei kleinen Gruppen gebotene Relationsbetrachtung von Größe der betroffenen Gruppe und Anzahl der Verfolgungsschläge in Zweifel gezogen wird. Außerdem leuchtete nicht ein, wieso das OVG Schleswig die Verfolgungsgefahren bei einer "Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit" auf Basis identischer Erkenntnismittel anders bewertet als bei der Gruppenverfolgung. An seiner o.g. Rechtsprechung, die die Kläger nicht substantiiert angreifen, hält das Gericht auch hier fest.

Auf individuelle Verfolgungsgründe i.S.v. § 60 Abs. 1 AufenthG können sich die Kläger nicht mit Erfolg berufen. Gem. § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG darf ein Ausländer in Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Ein in diesem Zusammenhang bedeutsames individuelles Verfolgungsschicksal haben die Kläger nicht glaubhaft unterbreitet. Vielmehr gehen sie offensichtlich selbst nicht mehr von einer bedeutsamen Gefährdung aus. Denn im November 2009 erklärte der Kläger zu 1) gegenüber der Ausländerbehörde des Landkreises O., in die Türkei reisen zu wollen, wenngleich nur kurzfristig und um dort seine Eigentumsverhältnisse sowie seine Rentenansprüche vor dem Hintergrund eines Streits um Kürzung bzw. Einstellung von Sozialleistungen zu klären. Sein Sohn S. erklärte in der mündlichen Verhandlung, zu Besuch bei Verwandten in der Türkei gewesen zu sein, und von weiteren Besuchen dort nur angesichts eines bestehenden Familiestreits abzusehen.

Es sind auch keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass hier bezüglich der Türkei ein Ausnahmefall des § 73 Abs. 1 Satz 3 ("zwingende auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe") vorliegen könnte. Die Kläger haben keinerlei individuelle Verfolgungsgründe, die eine Rückkehr in die Türkei ausnahmsweise unzumutbar machen könnten, geltend gemacht.

Eine Aufhebung des Widerrufsbescheides können die Kläger ebenso wenig im Hinblick auf die Verwaltungspraxis der Beklagten verlangen, seit Anfang 2009 im großen Umfang Widerrufsbescheide betreffend türkische Yeziden aufzuheben und von weiteren Widerrufen weitgehend abzusehen. Denn als Personen, bei denen ein sonstiges "öffentliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung besteht" gehören sie nicht zu dem durch Erlass des Bundesinnenministeriums vom Dezember 2008 und Dienstanweisung des Bundesamtes vom 23. Januar 2009 zur Vorgehensweise bei rechtshängigen Widerrufsverfahren von u.a. Yeziden aus der Türkei (Gz: 423-7401-02/09) begünstigten Personenkreis. Die rechtspolitische Grundsatzentscheidung und Vorgabe für eine gleichförmige Verwaltungspraxis ist nicht wie eine Rechtsnorm auszulegen und im Lichte einfachgesetzlicher Vorschriften (etwa des § 60 Abs. 8 AufenthG) zu interpretieren, sondern allein nach dem maßgeblichen Willen ihres Urhebers. Folglich ist sie (ggf. durch Nachfrage beim Urheber) - etwa hinsichtlich des ausgeschlossenen Personenkreises der Straftäter, aber auch der sonstigen Fälle, in denen ein öffentliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung besteht - hinreichend bestimmbar und differenziert keineswegs etwa danach, ob von Straftätern weiterhin eine Wiederholungsgefahr ausgeht oder ob der vom Widerruf Betroffene als Einziger eines im Übrigen gut integrierten Familienverbandes vom Statusverlust betroffen ist. Das Bundesinnenministerium hat im Übrigen bei der Gewährung von Leistungen, die über normative geschuldete Ansprüche hinausgehen, einen großen Gestaltungsspielraum, den die Gerichte zu respektieren haben. Folglich definieren alleine das Bundesamt und seine ihm vorgeordneten Behörden die "sonstigen Fälle, in denen ein öffentliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung besteht" und das Gericht stellt bei der Überprüfung lediglich eine Willkürkontrolle an.

Hiervon ausgehend finden sich keine Anhaltspunkte für Verstöße gegen die wegen Art. 3 Abs. 1 GG allein geschuldete gleichförmige Verwaltungspraxis nach Maßgabe der ministeriellen Vorgaben. Dabei mag dahinstehen, ob der Ausschluss von der genannten Privilegierung (allein) unter Hinweis auf den Verdacht eines Sozialbetrugs willkürfrei wäre, zumal insoweit kein Strafverfahren durchgeführt wurde, die Frage einer hinreichenden Aufklärung der Vorwürfe durch die Sozial- und Ausländerbehörde streitig ist und die Existenz von Einkommen und Grundvermögen des Klägers zu 2) in der Türkei den deutschen Behörden (wenngleich anderen Stellen) schon früher bekannt geworden war. Jedenfalls erweist sich der (weitere) Vorwurf mangelnder Integration und mangelnder Deutschkenntnisse als ein tragfähiges öffentliches Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung. Insoweit verkennen die Kläger, dass es weder ihnen noch dem Gericht zusteht, hier den Begriff der Integration zu definieren. Im Rahmen der Willkürkontrolle ist auch keineswegs zu beanstanden, dass das Bundesamt und seine Zentrale hauptsächlich auf berufliche und sprachliche Integration der vom Widerruf Betroffenen abstellen. Insoweit steht außer Frage, dass bei beiden Klägern erhebliche Missstände zu beklagen sind. Trotz langjährigen Aufenthalts im Bundesgebiet seit Ende 1992 haben sie überwiegend von Sozialleistungen gelebt und ernsthafte Bemühungen um die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit nicht ansatzweise nachgewiesen. In der mündlichen Verhandlung zeigte sich, dass sie nicht in der Lage sind, sich in der deutschen Sprache angemessen zu verständigen und ebenso wenig nachhaltig bemüht sind, dies zu ändern. Ihr Hinweis auf ihr geringes Bildungsniveau und starke familiäre sowie krankheitsbedingte Belastungen rechtfertigt im Hinblick auf die lange Aufenthaltsdauer und die Vielzahl möglicher Förderangebote keine andere Entscheidung. An Rande sei angemerkt, dass die Vorlage einer "mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gefälschten Bescheinigung" in einem gerichtlichen Verfahren (VG Schleswig, Urteil vom 20. März 1997 - 13 A 242/94 - Bl. 13 ff. der Beiakte A) oder etwa wechselnder Vortrag zur Größe und Beschaffenheit des Grundvermögens in der Türkei tendenziell gegen eine gelungene Integration des Klägers zu 1) spricht. Belastbare Hinweise auf eigene andere kompensierende Integrationsleistungen in die bundesdeutsche Gesellschaft fehlen.

Die von den Klägern eingewandte Besonderheit, sie verlören als Einzige einer gemeinsam seit langem anerkannten Familie, die sich - was ihre neun Kinder angehe - im Übrigen gut integriert habe, gebietet nichts anderes. Derartige Umstände sind ebenso wie ihr langjähriger Aufenthalt im Bundesgebiet und die Frage ihrer Integration nach völkerrechtlich beeinflussten Maßstäben ("faktischer Inländer" i.S.v. Art. 8 Abs. 1 EMRK) nicht hier, sondern allenfalls in einem etwa nachfolgenden aufenthaltsrechtlichen Verfahren über den Fortbestand der Niederlassungserlaubnisse zu berücksichtigen.

Die auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 2 - 7 AufenthG gerichtete Hilfsanträge der Kläger sind ebenfalls nicht begründet. Insbesondere lässt sich nicht feststellen, dass für sie bei (der unterstellten) Rückkehr in die Türkei die konkrete Gefahr der Folter (§ 60 Abs. 2 AufenhtG) oder einer sonstigen unmenschlichen Behandlung bzw. erniedrigenden Bestrafung etwa wegen Wehrdienstentziehung (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK) oder einer Verletzung der Religionsfreiheit (§ 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 9 EMRK) oder eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit (§ 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG) besteht. Ergänzend zur Begründung des angefochtenen Bescheides ist Folgendes auszuführen:

Es ist nicht davon auszugehen, dass die Garantie eines religiösen Existenzminimums für die Kläger gefährdet sein könnte. Eine hinreichende religiöse Betreuung - sofern sie für die Kläger überhaupt von Bedeutung ist - dürfte jedenfalls in den wiederbesiedelten Yezidendörfern unschwer möglich sein. Es gibt dort zumindest noch einen alten Sheik der Filation Sheik Saeükhuekr und eine Sheikfamilie der Filation Sicaden. Nach weitgehend übereinstimmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen handelt es sich bei der Religion der Yeziden wenigstens überwiegend um eine sog. Geheimreligion, da viele Riten unter Ausschluss anderer Glaubenszugehöriger nicht öffentlich praktiziert werden, so dass sich die Rechtslage im Hinblick auf ein Vorabentscheidungsverfahren beim Europäischen Gerichtshof zum streitigen Schutz religiöser Betätigung nach der Qualifikationsrichtlinie (vgl. BVerwG, Beschluss vom 9. Dezember 2010 - 10 C 19 und 21.09 - juris) nicht als offen erweist.

Schließlich ist auch das Gericht der Auffassung, dass in der Person der Kläger ein (national begründetes) Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG weder im Hinblick auf die diversen geltend gemachten Erkrankungen noch im Hinblick auf die behauptete Gefährdung ihrer wirtschaftlichen Existenz als ältere, kranke und von ihrer Glaubensgemeinschaft isolierte Angehörige der Yeziden besteht. Eine insoweit erforderliche extreme konkrete Gefahrenlage lässt sich hier ausschließen.

Die Behandlung der diversen im Tatbestand näher benannten Erkrankungen der Kläger einschließlich des diabetes mellitus Typ II der Klägerin zu 2) ist in der Türkei grundsätzlich gewährleistet (vgl. Lagebericht Türkei des Auswärtigen Amtes vom 8. April 2011, S. 24 f.; speziell zu diabetes mellitius: vgl. VG Gelsenkirchen, Urteil vom 14. August 2006 - 14a L 1195/06.A - und VG Düsseldorf, Urteil vom 22. Januar 2007 - 20 K 4337/03.A -). Danach garantiert das Gesundheitswesen der Türkei kranken Menschen umfassenden Zugang zu Gesundheitsdiensten, Beratungsstellen und Medikamenten, fordert aber teilweise Eigenanteile und Beiträge. Allerdings ist bedeutsam, dass es nicht nur auf die allgemeine Möglichkeit der notwendigen ärztlichen Behandlung oder Medikation im Heimatland ankommt, sondern der erkrankte Ausländer muss diese auch tatsächlich erlangen können, d. h. sie muss für ihn individuell aus finanziellen oder sonstigen Gründen erreichbar sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 29. Oktober 2002 - 1 C 1.02 - DVBl. 2003, 463). Dies ist hier unter Berücksichtigung aller Umstände gegeben.

Unabhängig davon, dass die Kläger mittels einer von der Gesundheitsverwaltung auszustellenden "Grünen Karte" ("yesil kart") weitgehend kostenlose medizinische Versorgung im staatlichen Gesundheitssystem in Anspruch nehmen könnten, steht ihnen mit eigenem Einkommen und Vermögen, jedenfalls aber mit zu erwartender Unterstützung ihrer yezidischen Großfamilie im In- und Ausland die Behandlung auch in privaten Kliniken und Einrichtungen offen. Unabhängig von einer zumindest teilweise denkbaren Wiederaufnahme einer landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit im Rahmen der eingeschränkten gesundheitlichen Möglichkeiten ist bedeutsam, dass der Kläger zu 1) dauerhaft eine Rente als ehemaliger Kriegsteilnehmer i.H.v. umgerechnet etwa 230 - 255 € pro Monat bezieht. Zudem ist er Eigentümer von Grundvermögen in der Türkei, laut Auskunft der Deutschen Botschaft in A. vom 22. Juni 2009 eines 10 ha großen Grundstücks K., Kreis V., Provinz S.. Die abweichende Behauptung in der mündlichen Verhandlung, ihm gehöre nur eine etwa 8000 qm landwirtschaftliche Fläche, die seine Brüder derzeit ohne Wertausgleich bewirtschafteten, steht nicht nur im Widerspruch zu früheren eigenen abweichenden Angaben (vgl. etwa im Verfahren vor dem VG Schleswig, Urteil vom 20. März 1997 - 13 A 242/94 - Bl. 13 ff. der Beiakte A), sondern ist auch nicht ansatzweise durch Unterlagen belegt. Der Kläger vermag seine Rechte an der Fläche durchzusetzen, diese zu verpachten oder zu veräußern. Entgegen der Darstellung der Kläger sieht das Gericht dabei keine nennenswerten Schwierigkeiten, etwa im Hinblick auf den behaupteten Familienstreit mit den Brüdern des Klägers zu 1) oder anderen Verwandten. Vielmehr wertet es die behauptete Entfremdung und den Streit als Schutzbehauptung zur Wahrung eigener - nahe liegender - Interessen. Angesichts mehrfacher - von der Ausländerbehörde berichteter und von den Klägern bestätigter - Eheschließungen zwischen den Familienzweigen in den letzten Jahren überzeugt die Darstellung der Kläger nicht. Ebenso wenig erscheint die Begründung plausibel, der Kläger zu 1) und sein Bruder seien jüngst zerstritten, weil der Bruder ihm vorwerfe, dass sich die letzte vereinbarte Ehe einer Tochter des Klägers zu 1) mit ihrem Cousin im Bundesgebiet nicht habe realisieren lassen. Schließlich dürfte sich der traditionelle Zusammenhalt in den yezidischen Großfamilien als belastbar erweisen, falls mit einer Rückkehr der Kläger in die Türkei neue, von allen Beteiligten zu akzeptierende Umstände vorlägen. Folglich darf mit einer Unterstützung und Hilfe der Kläger in finanzieller wie sonstiger Hinsicht durch ihre Verwandten in der Türkei gerechnet werden.

Im Übrigen dürfen die Kläger auf (weitere) Unterstützung ihrer zahlreichen im Bundesgebiet lebenden Verwandten bauen, die hier nach eigenem Vorbringen gut integriert leben. Bis auf die jüngsten Töchter im Alter von 17 - 20 Jahren, die noch die Schule besuchen, sind die übrigen der neun Kinder erwachsen und größtenteils erwerbstätig oder in vergüteter Ausbildung. Der Hinweis auf die weitgehend geringen Einkommen aus Teilzeitarbeit sowie auf Belastungen durch deren eigene Familien schließt nicht aus, dass jedenfalls jeweils geringe Unterstützungsbeiträge aufgebracht werden können, die angesichts der große Anzahl der Angehörigen in der Summe eine spürbare gelegentliche oder sogar dauerhafte Hilfe ermöglicht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO und § 83 b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.