Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 07.09.2011, Az.: 11 A 784/11

Personalausweis; Sicherstellung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
07.09.2011
Aktenzeichen
11 A 784/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 45275
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Will die Behörde einen deutschen Personalausweis sicherstellen obwohl noch nicht bestandskräftig feststeht, dass sein Inhaber kein Deutscher ist, müssen im Rahmen der Ermessensausübung die Nachteile, die für die Allgemeinheit oder Dritte entstünden, wenn die Behörde untätig bliebe und sich hinterher herausstellt, dass der Betroffene kein Deutscher ist, konkret ermittelt und denjenigen Nachteilen gegenübergestellt werden. die für den Ausweisinhaber entstünden, wenn der Ausweis sichergestellt wird und sich hinterher herausstellt, dass er doch Deutscher ist.

Tatbestand:

Der Kläger wurde am 24. März 2009 im Bundesgebiet geboren. Seine Eltern sind türkische Staatsangehörige. Im Zeitpunkt seiner Geburt besaß seine Mutter eine Aufenthaltserlaubnis. Seinem Vater war von der Beklagten am 1. September 2008 eine Niederlassungserlaubnis erteilt worden. Mit Bescheid vom 22. April 2009 nahm die Beklagte die Niederlassungserlaubnis des Vaters mit Rückwirkung zum Erteilungszeitpunkt zurück, da sich ihrer Ansicht nach herausgestellt hatte, dass das Erfordernis der Lebensunterhaltssicherung damals nicht erfüllt war. Dieser Bescheid wurde vom erkennenden Gericht mit Urteil vom 31. Mai 2010 - 11 A 1520/09 - wegen Ermessensfehlern aufgehoben. Am 11. August 2010 wurde dem Kläger ein Personalausweis ausgestellt, in den als Staatsangehörigkeit "deutsch" eingetragen wurde. Mit Bescheid vom 10. September 2010 nahm die Beklagte die Niederlassungserlaubnis des Vaters des Klägers erneut mit Wirkung ex tunc zurück. Hiergegen hat der Vater des Klägers fristgerecht Klage erhoben (VG Oldenburg, 11 A 2712/10). Während dieses verwaltungsgerichtlichen Verfahrens forderte die Beklagte die Eltern des Klägers am 6. Dezember 2010 mündlich auf, den Personalausweis des Klägers herauszugeben. Nachdem die Eltern dies verweigerten, stellte die Beklagte den Personalausweis mit Bescheid vom 9. März 2011 sicher. Zur Begründung führte sie aus, dass ein Personalausweis nach §§ 29 Abs. 1, 2 Nr. 2, 28 Abs. 1 Nr. 2 PAuswG sichergestellt werden könne, wenn er unzutreffende Eintragungen enthalte. Vorliegend sei die Eintragung "Staatsangehörigkeit: deutsch" unzutreffend, denn der Kläger habe wegen der rückwirkenden Rücknahme der Niederlassungserlaubnis seines Vaters nicht die deutsche Staatsangehörigkeit nach § 4 Abs. 3 StAG erworben. Die aufschiebende Wirkung der Klage des Vaters gegen die Rücknahme lasse nach § 84 Abs. 2 AufenthG die Wirksamkeit der Rücknahme unberührt. Die Sicherstellung des Ausweises liege im Ermessen der Behörde. Hier sei zu berücksichtigen, dass der Personalausweis zwar - wie § 30 Abs. 3 StAG entnommen werden könne - im Rechtssinne kein Beweis für die deutsche Staatsangehörigkeit sei. Er erwecke aber im Alltagsleben den Eindruck, der Inhaber sei Deutscher. Dadurch habe der Betroffene Vorteile, wie z.B. günstigere Reisemöglichkeiten. Um eine solche Täuschung zu unterbinden, erfolge hier die Sicherstellung.

Der Kläger hat am 5. April 2011 Klage erhoben. Zur Begründung verweist er im Wesentlichen darauf, dass er wegen der aufschiebenden Wirkung der Klage seines Vaters gegen die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis derzeit noch als Deutscher gelte.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 9. März 2011 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt sie im Wesentlichen die Ausführungen des angefochtenen Bescheides.

Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis des Vaters des Klägers ist noch nicht bestandskräftig. Der erkennende Einzelrichter hat die Klage mit Urteil vom heutigen Tage in erster Instanz abgewiesen; das Urteil ist jedoch noch nicht rechtskräftig.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Anfechtungsklage ist begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 9. März 2011 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechte (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Nach § 29 Abs. 2 Nr. 2 PAuswGkann ein Personalausweis sichergestellt werden, wenn Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die Voraussetzungen für eine Einziehung nach § 29 Abs. 1 PAuswG vorliegen. Dazu gehört insbesondere der Fall, dass Eintragungen in dem Ausweis unzutreffend sind (vgl. § 29 Abs. 1 PAuswG i.V.m. § 28 Abs. 1 Nr. 2 PAuswG). Die für die Sicherstellung erforderliche Annahme eines Einziehungsgrundes ist gerechtfertigt, wenn die Behörde bei Abwägung der ihr zur Verfügung stehenden Informationen keine vernünftigen Zweifel haben kann, dass der Einziehungsgrund vorliegt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 30. September 2009 - OVG 5 S 17.09 -, juris Rn. 6; OVG Münster, Beschluss vom 22. November 1993 – 25 A 1143.92 -, juris Rn. 21).

Die Eintragung "Staatsangehörigkeit deutsch" im Personalausweis des Klägers wäre falsch, wenn sein Vater wegen des rückwirkenden Rücknahmebescheides der Beklagten im Zeitpunkt der Geburt des Klägers keine Niederlassungserlaubnis besessen hätte. Denn dann hätte der Kläger nicht gem. § 4 Abs. 3 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit erworben; andere Erwerbstatbestände sind nicht ersichtlich. Die Beteiligten streiten darüber, ob diese Rechtsfolge schon jetzt aus dem Rücknahmebescheid abgleitet werden darf, obwohl dieser noch nicht bestandskräftig ist und die gegen ihn gerichtete Klage aufschiebende Wirkung hat. Die in Rechtsprechung und Literatur umstrittene Frage, welche Auswirkungen die aufschiebende Wirkung einer Klage im Ausländerrecht angesichts der Regelung in § 84 Abs. 2 AufenthG hat (vgl. einerseits Funke-Kaiser, GK-AufenthG, § 84 Rn. 36, 42; Dienelt, in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 84 AufenthG Rn. 4; Albrecht, in: Storr u.a., Kommentar zum Zuwanderungsrecht, 2. Aufl., § 84 AufenthG Rn. 16 und andererseits OVG Bremen, Beschluss vom 17. September 2010 - 1 B 140/10 -, juris Rn. 23 m.w.N.), kann hier jedoch dahin stehen. Denn selbst wenn man zugunsten der Beklagten unterstellt, dass der Tatbestand des § 29 Abs. 2 Nr. 2 PAuswG bereits jetzt erfüllt ist, ist der angefochtene Bescheid ermessensfehlerhaft und rechtswidrig.

Die Sicherstellung eines Personalausweises, dessen Eintragungen unzutreffend sind, ist nach dem Wortlaut von § 29 Abs. 2 Nr. 2 PAuswG ("kann") nicht zwingend, sondern ins Ermessen der Behörde gestellt. Dass die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis seines Vaters noch nicht bestandskräftig ist und deshalb noch nicht endgültig feststeht, ob die Eintragung "Staatsangehörigkeit deutsch" im Personalausweis des Klägers richtig oder falsch ist, müsste jedenfalls auf Ermessensebene berücksichtigt werden. Die Behörde muss in solchen Fällen darlegen, wieso es geboten ist, denn Personalausweis schon vor der abschließenden Klärung der Sachlage sicherzustellen. Sie muss hierfür zunächst ermitteln, welche Nachteile für die Allgemeinheit oder Dritte entstehen, wenn der Kläger den deutschen Personalausweis während des Klageverfahrens seines Vaters vorläufig weiter benutzen kann und die rückwirkende Rücknahme der Niederlassungserlaubnis des Vaters später gerichtlich bestätigt wird. Dem muss sie in einem zweiten Schritt die Nachteile gegenüberstellen, die für den Kläger entstehen, wenn sein Personalausweis schon jetzt sichergestellt wird, die Klage seines Vaters aber Erfolg hat und sich somit herausstellt, dass der Personalausweis doch richtig war. Beides muss sie dann unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gegeneinander abwiegen.

Die Beklagte hat schon nicht ausreichend dargelegt, welcher konkrete Nachteil für Dritte oder die Allgemeinheit zu befürchten wäre, wenn der Personalausweis dem Kläger vorerst belassen wird. Sie hat keine im konkreten Fall naheliegende Möglichkeit der Nutzung des Personalausweises durch den Kläger benannt, die Dritte oder die Allgemeinheit nennenswert schädigen würde, wenn sich hinterher herausstellt, dass der Kläger kein Deutscher ist. Auch für das Gericht ist eine solche Gefahr aufgrund der vorliegenden Informationen nicht ersichtlich. Ein rechtlich bindender Beweis für die deutsche Staatsangehörigkeit ist der Personalausweis nicht; dies ist - wie die Beklagte zutreffend ausgeführt hat - nur der Staatsangehörigkeitsausweis nach § 30 Abs. 3 StAG. Die Bedeutung der Eintragung "Staatsangehörigkeit deutsch" im Personalausweis erschöpft sich daher - wie die Beklagte ebenfalls erkannt hat - in einer gewissen "Anscheinswirkung" im alltäglichen Rechts- und insbesondere Reiseverkehr. Welche konkreten, nennenswerten Nachteile für die Allgemeinheit oder Dritte entstehen sollten, wenn der Kläger von diesem Anschein noch bis zum rechtskräftigen Abschluss des Klageverfahrens seines Vaters profitieren könnte, erschließt sich dem Einzelrichter nicht. Der Kläger ist ein Kleinkind, das im Zeitpunkt der Sicherstellung noch nicht einmal ganz zwei Jahre alt war. Dass er den Personalausweis benutzt, um Verträge (z.B. Mietverträge oder Arbeitsverträge) abzuschließen, auf die sich die jeweiligen Geschäftspartner nur im Vertrauen auf seine deutsche Staatsangehörigkeit einlassen, ist angesichts seines Alters praktisch ausgeschlossen. Probleme im Hinblick auf eine Aufenthaltsbeendigung (etwa dass der Kläger seine Abschiebung verhindert, indem er sich gegenüber den mit dem Vollzug betrauten Polizeibeamten als Deutscher ausweist) sind ebenfalls nicht zu befürchten, denn die Beklagte hat im Verfahren 11 A 2712/10 eindeutig versichert, dass sie keine Aufenthaltsbeendigung beabsichtigt. Die Beklagte verweist im angefochtenen Bescheid zur Begründung der Sicherstellung nur pauschal darauf, dass der Inhaber eines deutschen Personalausweises "im Alltagsleben begünstigt wird, z.B. bei den Reisemöglichkeiten." Es wird aber nicht dargelegt, welcher konkrete Schaden entstehen würde, wenn der Kläger die räumlich begrenzten Reisemöglichkeiten, die ein deutscher Personalausweis bietet (vgl. dazu, dass der Grenzübertritt grundsätzlich einen Reisepass voraussetzt § 1 Abs. 1 PassG, zu den Ausnahmen § 2 PassG), noch für einige Monate nutzen könnte und sich später herausstellt, dass er in Wahrheit kein Deutscher ist. Die wichtigsten Nachteile die eine Auslandsreise für die Allgemeinheit oder Dritte herbeiführen kann, sind in § 7 Abs. 1 PassG beispielhaft aufgeführt (z.B. Flucht vor Strafverfolgung, Steuer - oder Unterhaltspflichten); keiner davon ist bei einer Auslandsreise des erst zwei Jahre alten Klägers zu erwarten. Die Beklagte hat auch nicht konkret dargelegt, inwiefern die Reisemöglichkeiten, die der Kläger als türkischer Staatsangehöriger mit einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG hätte (ein Status, den sie ihm laut ihren Ausführungen im Verfahren 11 A 2712/10 einräumen will), überhaupt hinter denjenigen zurückbleiben, die ein deutscher Personalausweis eröffnet. Ohne eine solche Gegenüberstellung kann aber gar nicht beurteilt werden, ob die Sicherstellung des Personalausweises zum jetzigen Zeitpunkt wirklich geboten ist, um ungerechtfertigte Reisevergünstigungen zu beseitigen. Selbst wenn der deutsche Personalausweis dem Kläger rechtlich wirklich umfangreichere Reisemöglichkeiten bieten würde als ein türkischer Reisepass, in den eine deutsche Aufenthaltserlaubnis eingetragen ist, erscheint es aufgrund der Besonderheiten des vorliegenden Einzelfalls nahezu ausgeschlossen, dass der Kläger diese auch tatsächlich nutzen könnte. Als zweijähriges Kind wird er praktisch ohnehin nur in Ländern reisen können, in die seine Eltern als türkische Staatsangehörige ihn begleiten können. Auch dies berücksichtigt die Beklagte in ihren Ermessenserwägungen nicht.

Die Beklagte hat aber nicht nur unzureichend dargelegt, welche Nachteile der Allgemeinheit oder Dritten entstünden, wenn der Personalausweis dem Kläger vorläufig belassen und die rückwirkende Rücknahme der Niederlassungserlaubnis des Vaters später gerichtlich bestätigt würde. Sie hat vor allem überhaupt nicht in Betracht gezogen, welche Nachteile dem Kläger entstünden, wenn der Personalausweis schon jetzt sichergestellt wird, die Klage seines Vaters aber Erfolg hat. Die Möglichkeit, dass die rückwirkende Rücknahme der Niederlassungserlaubnis des Vaters gerichtlich aufgehoben und der Kläger sich daher letztendlich doch als deutscher Staatsangehöriger herausstellen könnte, kommt in ihren Ermessenserwägungen überhaupt nicht vor. Der Bescheid erweckt den Eindruck, als sei es nur eine Frage der Zeit, wann die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis bestandskräftig wird. Schon allein deswegen war die Sicherstellung ermessensfehlerhaft.