Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 25.04.1996, Az.: V 422/95

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
25.04.1996
Aktenzeichen
V 422/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 26870
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1996:0425.V422.95.0A

Fundstelle

  • EFG 1996, 1073 (amtl. Leitsatz)

Tenor:

  1. Die Klage wird abgewiesen.

    Der Kläger trägt die Kosten.

    Die Revision wird zugelassen.

    Der Streitwert wird auf 73.250,00 DM festgesetzt.

Tatbestand:

1

Der Kläger betreibt eine Spielhalle, in der neben Unterhaltungsautomaten auch Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit zur Verfügung stehen. Der Beklagte setzte die Umsatzsteuer für das Streitjahr 1989 entsprechend der abgegebenen Steuererklärung mit (geändertem) Steuerbescheid vom 11. November 1991 fest. Für das Streitjahr 1991 schätzte der Beklagte die Umsatzsteuer wegen Nichtabgabe einer Steuererklärung und setzte die Steuer mit Steuerbescheid vom 27. September 1993 fest.

2

Mit Schriftsatz vom 28. Juli 1995 erhob der Kläger Einspruch gegen die Steuerfestsetzungen für die Streitjahre und beantragte gleichzeitig wegen Versäumung der Rechtsbehelfsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Sachlich seien die Steuerfestsetzungen unter Beachtung der Entscheidung des EuGH vom 5. Mai 1994 (BStBl II 1994, 48 [BFH 02.09.1993 - II B 71/93]) zu ändern. Dabei seien die Umsätze aus Geldspielautomaten entgeltsmäßig auf den Kasseninhalt zu beschränken. Dementsprechende geänderte Steuerberechnungen legte der Kläger vor.

3

Der Beklagte wies die Einsprüche mit Einspruchsbescheid vom 26. September 1995 als unbegründet zurück. Die Rechtsbehelfsfristen seien vom Kläger nicht eingehalten worden. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand könne nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist nicht mehr beantragt werden. Eine Durchbrechung der Bestandskraft der Steuerbescheide lasse sich nicht rechtfertigen.

4

Die hiergegen erhobene Klage begründet der Kläger im wesentlichen wie folgt: Es sei nicht einzusehen, daß die neue Rechtslage, die aufgrund des EuGH-Urteils vom 5. Mai 1994 gegeben sei, nicht auf die Streitjahre Anwendung finde, weil die Bescheide der Streitjahre zwischenzeitlich Rechtskraft erlangt hätten.

5

Der Kläger beantragt,

die Umsatzsteuer 1989 auf 45. 222 DM und die Umsatzsteuer 1991 auf minus 125.409,33 DM herabzusetzen.

6

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

7

Er hält daran fest, daß die Steuerfestsetzungen der Streitjahre einer Änderung nicht mehr zugänglich seien.

8

Dem Senat haben die für den Kläger beim Beklagten unter Steuernummer ... geführten Steuerakten vorgelegen.

Gründe

9

Die Klage ist unbegründet.

10

Dem Begehren des Klägers steht entgegen, daß die angefochtenen Steuerfestsetzungen bereits bestandskräftig waren, als der Kläger beim Beklagten mit Schriftsatz vom 28. Juli 1995 Einspruch einlegte. Dieser Einspruch war - weil verspätet - unzulässig. Eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Rechtsbehelfsfrist kam nicht in Betracht. Deshalb gibt es für die Änderung der bestandskräftigen Steuerfestsetzungen zugunsten des Klägers keine abgabenrechtlichen Grundlagen.

11

Zwar entsprechen die bestandskräftigen Steuerfestsetzungen im Ergebnis nicht der Auslegung, die nach dem EuGH-Urteil vom 5. Mai 1994 C - 38/93, BStBl II 1994, 548 dem Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. Richtlinie 77/388/EwG vom 17. Mai 1977 (6. EG-Richtl.) zukommt. Hiernach gehört bei Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit der gesetzlich zwingend festgelegte Teil der Gesamtheit der Spieleinsätze nicht zur umsatzsteuerlichen Bemessungsgrundlage. Insoweit widerspricht die Auffassung des EuGH der bisherigen höchstrichterlichen nationalen Rechtsprechung (vgl. zuletzt BFH-Urteil vom 29. Januar 1987 V R 53/76, BStBl II 1987, 516), wonach eine Vervielfachung des Kasseninhalts zur Bestimmung des Entgelts deshalb geboten erschien, weil angenommen wurde, jedes in den Automaten eingeworfene Geldstück sei Entgelt. Es kann dahinstehen, ob aufgrund der o.a. EuGH-Entscheidung angenommen werden könnte, die Bundesrepublik Deutschland habe durch die Regelung über die Bemessungsgrundlage in § 10 Abs. 1 UStG 1967, 1973, 1980 Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. EG-Richtl. nicht ordnungsgemäß umgesetzt. Nach der Rechtsprechung des EuGH (vgl. Urteil vom 23. Mai 1993 C - 193/91, BStBl II 1993, 812 [EuGH 25.05.1993 - C 193/91]) kann sich ein einzelner auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allem innerstaatlichen, nicht richtlinienkonformen Vorschriften berufen. Nimmt man deshalb eine nicht ordnungsgemäße Umsetzung an, so könnte sich materiell-rechtlich die Herabsetzung der anzusetzenden Bemessungsgrundlage unmittelbar aus Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. EG-Richtl. ergeben. Hiergegen stünde jedoch weiterhin die Bestandskraft der ursprünglichen Steuerfestsetzungen.

12

Eine Durchbrechung der Bestandskraft läßt sich auch nicht aus dem EuGH-Urteil vom 25.7.1991 RS C - 208/90, EuGHE 1991, I - 4292 (Rechtssache Emmott) herleiten. Zwar hat der EuGH dort ausgeführt, solange ein Mitgliedstaat eine EG-Richtlinie nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt habe, könne sich der säumige Mitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung der Richtlinie nicht auf die Verspätung einer Klage berufen, die ein einzelner zum Schutz der ihm durch die Bestimmungen der EG-Richtlinie verliehenen Rechte gegen ihn erhoben habe. Dieser Rechtssatz ist jedoch auf den Streitfall nicht anwendbar. Unter ausdrücklichem Hinweis auf die Rechtssache Emmott hat der EuGH seine Rechtsprechung für den Bereich der "Mehrwertsteuer" weiterentwickelt und im Urteil vom 06.07.1995 RS C - 62/93, IStR 1995, 385 (Rechtssache BP SOUPERGAZ) ausgeführt, ein Steuerpflichtiger könne mit Rückwirkung auf den Tag des Inkrafttretens der im Widerspruch zur 6. Richtl. stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung der ohne Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nach den in der staatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedsstaats festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese Modalitäten nicht ungünstiger seien als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, daß sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräume, praktisch unmöglich machten.

13

Hieraus folgt, daß die in der Abgabenordnung enthaltenen Regelungen über die Bestandskraft von Steuerfestsetzungen und deren Durchbrechung weiterhin Geltung haben. Der Kläger hätte gegen die ursprünglichen Steuerfestsetzungen Rechtsmittel einlegen können und die vermeintlich mangelnde Umsetzung des Art. 11 Teil A Abs. 1 a der 6. EG-Richtl. geltend machen können. Mithin liegt insoweit auch keine Verfahrenssituation vor, die im Sinne des EuGH-Urteils in der Rechtssache BP SOUPERGAZ die Ausübung der Rechte aus der 6. EG-Richtl. praktisch unmöglich machen würde. Zu bedenken ist, daß der Kläger als Unternehmer i.S.d. Umsatzsteuerrechts zur Selbstberechnung der Steuer verpflichtet ist (§ 18 Abs. 3 UStG). Dann aber ist zu verlangen, daß er sich - ggf. unter Inanspruchnahme seines steuerlichen Beraters - über die grundlegenden Vorschriften des nationalen und europäischen Umsatzsteuerrechts informiert, soweit dieses Recht für sein Unternehmen relevant ist. Daß kein Fall "praktischer Unmöglichkeit" gegeben ist, zeigt die Prozeßgeschichte der vom EuGH entschiedenen Rechtssache Glawe. Eine Durchbrechung der Bestandskraft ist mithin gemeinschaftsrechtlich nicht geboten (vgl. auch Lohse in Umsatzsteuer-Rundschau 1995, 408).

14

Da zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung sowohl die Rechtsbehelfsfristen nach § 355 AO als auch die Wiedereinsetzungsfristen nach § 110 Abs. 3 AO verstrichen waren, war der Einspruch des Klägers unzulässig. Mithin konnte die Klage wegen des Eintritts der Bestandskraft der angefochtenen Steuerfestsetzungen keinen Erfolg haben.

15

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.

16

Die Streitwertfestsetzung ergeht gemäß §§ 13 Abs. 2 und 25 Abs. 2 Gerichtskostengesetz.

17

Der Senat läßt wegen grundsätzlicher Bedeutung die Revision gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zu.