Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.04.1996, Az.: VII 112/94

Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft als Einkünfte aus Gewerbebetrieb; Ausschüttungen als "negative Anschaffungskosten"

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
23.04.1996
Aktenzeichen
VII 112/94
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1996, 18741
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:1996:0423.VII112.94.0A

Fundstellen

  • DStRE 1997, 243-245 (Volltext mit amtl. LS)
  • EFG 1996, 1099-1100 (Volltext mit amtl. LS)
  • GmbH-StB 1997, 131 (Volltext mit amtl. LS)
  • GmbHR 1997, 187 (amtl. Leitsatz)

Verfahrensgegenstand

§ 17 EStG

Negative Anschaffungskosten (§ 17 Abs. 2 EStG) aufgrund von Ausschüttungen

Einkommensteuer 1988

In dem Rechtsstreit
hat der VII. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung
in der Sitzung vom 23. April 1996,
an der mitgewirkt haben:
Vorsitzender Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
Richter am Finanzgericht ...
ehrenamtlicher Richter ... Goldschmiedemeister
ehrenamtlicher Richter ... Samtgemeindedirektor
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Klage wird auf Kosten der Kläger abgewiesen.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Der Kläger (Kl.) war im Streitjahr alleiniger Gesellschafter der T. GmbH in W. (GmbH). Er hielt seine Beteiligung an der GmbH im Privatvermögen. Aufgrund eines Vertrags vom 10. März 1988 veräußerte er die Beteiligung für 5.000 DM an einen unbeschränkt Steuerpflichtigen. Die GmbH hatte in den Jahren zuvor Ausschüttungen in Höhe von rd. 24. Mio. DM vorgenommen, die aus EK 04 gespeist worden waren. Bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns berücksichtigte das beklagte Finanzamt (FA) diese Ausschüttungen in der Weise, daß es sie von den Anschaffungskosten der Beteiligung abzog, und zwar auch insoweit, als sie die Anschaffungskosten überstiegen (sog. negative Anschaffungskosten). Auf diese Weise ergab sich ein Veräußerungsgewinn von rd. 20 Mio. DM. Der Kl. erachtet diese Verminderung der Anschaffungskosten für unrechtmäßig. Nach seiner Auffassung ist ein Veräußerungsverlust von knapp 4 Mio. DM zu berücksichtigen. Darum streiten die Beteiligten.

2

Die GmbH entwickelte sich historisch wie folgt: Sie firmierte bis zum Januar 1984 unter dem Namen Ta. GmbH. Die Ta. GmbH stellte in ...-B. Reißverschlüsse her. Sie war eine Tochterfirma eines amerikanischen Unternehmens in der Rechtsform einer Körperschaft. Die Ta. GmbH hatte erhebliche Verluste erwirtschaftet, durch die das Eigenkapital aufgezehrt worden war. Im August 1981 verzichtete die Muttergesellschaft auf Forderungen gegenüber ihrer Tochtergesellschaft in Höhe von 32.894.864,25 DM. Außerdem verpflichtete sie sich, Verbindlichkeiten ihrer Tochtergesellschaft in Höhe von 4 Mio. DM zu begleichen. Der Betrag von insgesamt 36.894.864,25 DM wurde als Einlage dem EK 04 zugeschrieben und als freie Rücklage ausgewiesen. In der Bilanz zum 30. November 1981 stand einer freien Rücklage von 38.888.184,22 DM ein Bilanzverlust von 38.236.608,65 DM gegenüber.

3

Am 31. Dezember 1981 setzte sich das verwendbare Eigenkapital wie folgt zusammen:

EK 56 =-103.421 DM
EK 02 =-28.628.744 DM
EK 03 =-6.729.962 DM
EK 04 =36.894.864 DM
Summe =1.432.737 DM.
4

Im Jahre 1982 erwarben die Eheleute D. die Anteile an der Ta. GmbH. Das Stammkapital betrug 5.250.000 DM. Von den Eheleuten D. erwarben der Kl. und seine Mutter aufgrund eines Vertrags vom 28. August 1982 75 % der Anteile an der Ta. GmbH (3.940.000 DM) zum Kaufpreis von 2.626.666,67 DM. In dem vorgenannten Vertrag vom 28. August 1982 machten die Eheleute D. dem Kl. zugleich ein bindendes Angebot zum Erwerb der restlichen Anteile an der Ta. GmbH. Im Jahre 1983 erwarb der Kl. aufgrund dieser Vereinbarung die restlichen Anteile an der Talon GmbH (1.310.000 DM) zum Kaufpreis von rd. 950.000 DM.

5

Mit Vertrag vom 16. August 1983 übertrug die Mutter des Kl. diesem ihre Anteile an der Ta. GmbH unentgeltlich. Damit war der Kl. alleiniger Gesellschafter der Ta. GmbH.

6

In W. betrieb die U. GmbH & Co. KG (KG) eine Schokoladenfabrikation. Kommanditisten dieser KG waren der Kl. und seine Mutter, beherrschender Gesellschafter-Geschäftsführer der Komplementär GmbH der Kl. Aufgrund des vorgenannten Vertrags vom 28. August 1982 wurde die KG gegen Gewährung von Gesellschaftsrechten in Höhe von 350.000 DM in die Ta. GmbH "eingebracht" (Umwandlung zu Buchwerten, § 20 Umwandlungssteuergesetz).

7

Mit Wirkung zum 31. Dezember 1982 hatte die Talon GmbH ihr Fabrikgrundstück in Wu. auf eine BGB-Gesellschaft "Grundstücksgemeinschaft Wu., G. straße" zum Preis von 5.650.000 DM übertragen. An der BGB-Gesellschaft waren beteiligt die Ta. GmbH zu 95 v.H., der Kl. zu 3,75 v.H. und die Mutter des Kl. zu 1,25 v.H. Die BGB-Gesellschaft vermietete das Grundstück an die Ta. GmbH.

8

Zum 1. Oktober 1984 verkaufte die GmbH ihre Betriebsstätte Wu. an eine KG, die in Wu. auf dem gemieteten Grundstück der BGB-Gesellschaft die Produktion von Reißverschlüssen fortsetzte. Diese KG meldete im August 1988 Konkurs an.

9

Im Jahre 1986 veräußerte die GmbH ihre Beteiligung an der BGB-Gesellschaft "Grundstücksgemeinschaft Wu., G.-straße". Gesellschafter der BGB-Gesellschaft waren danach der Kl. zu 99 v.H. und ein Herr V. zu 1 v.H.

10

Am 19. Dezember 1986 verkaufte die GmbH ihre Betriebsstätte W. an die kurz zuvor gegründete U. Schokoladen GmbH & Co. KG, deren alleiniger Kommanditist der Kl. war. Er war auch beherrschender Gesellschafter-Geschäftsführer der Komplementär GmbH. Damit unterhielt die GmbH (T. GmbH) keinen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb mehr.

11

Am 12. November 1986 hatte die T. GmbH beschlossen, das Stammkapital um 5.500.000 DM auf 100.000 DM herabzusetzen. Diese Kapitalherabsetzung wurde am 7. März 1988 wirksam. Am 10. März 1988 verkaufte der Kl. seine Anteile an der GmbH für 5.000 DM. Der Erwerber verlegte den Sitz der GmbH am 14. März 1988 nach Berlin. Im Folgejahr meldete die GmbH Konkurs an.

12

In den Jahren 1983 und 1984 hatte der Kl. Ausschüttungen von der GmbH von je 5 Mio. DM erhalten, im Jahre 1986 eine Ausschüttung von 14.800.000 DM. Die Ausschüttungen stammten aus dem EK 04. Die entsprechenden Feststellungsbescheide gemäß § 47 KStG wurden bestandskräftig.

13

Das FA ermittelte einen Veräußerungsgewinn gemäß § 17 EStG in Höhe von 20.885.133 DM. Die Ermittlung dieses Gewinns ist in der Anlage zum Ap.-Bericht AB. Nr. ... wie folgt dargestellt:

14

Der Veräußerungsgewinn errechnet sich wie folgt:

a)erzielter Kaufpreis=5.000 DM
b)Anschaffungskosten
aa)Vertrag v. 28.08.1982=2.626.667 DM
bb)Vertrag v. 07.05.1983=943.200 DM
cc)U. GmbH & C. KG=350.000 DM
Zwischensumme3.919.867 DM
dd)Kürzung um Auszahlungen aus dem EK 04:
1983 = 5.000.000 DM
1984 = 5.000.000 DM
1986 = 14.800.000 DM=24.800.000 DM
gesamt negativ=-20.880.000 DM
Dieser negative Betrag erhöht den Kaufpreis=20.880.133 DM
c)Der Gewinn nach § 17 EStG beträgt=20.885.133 DM.
15

Das FA beruft sich für die Berücksichtigung der Ausschüttungen aus EK 04 im Rahmen der Ermittlung des Veräußerungsgewinns gemäß § 17 EStG auf das BFH-Urteil vom 7. November 1990 I R 68/88 (BStBl II 1991, 177) sowie auf die - diese Entscheidung fortführenden - BFH-Urteile vom 14. Oktober 1992 I R 1/91 (BStBl II 1993, 189) und vom 16. März 1993 I R 70/92 (BStBl II 1994, 527). Danach, so meint das FA sinngemäß im wesentlichen, führe der Teil der Ausschüttung einer Körperschaft, für die EK 04 als verwendet gilt, zur Minderung der Anschaffungskosten einer wesentlichen Beteiligung. Dies sei die zwingende Folge aus § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG, wonach sonstige Bezüge aus Anteilen an einer Kapitalgesellschaft nicht zu den Einnahmen aus Kapitalvermögen gehören, soweit sie aus Ausschüttungen einer unbeschränkt steuerpflichtigen Körperschaft stammen, für die EK 04 als verwendet gilt.

16

Der vorgenannte Veräußerungsgewinn ist in dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1988 erfaßt. Diesen hat der Kl. mit der Sprungklage angefochten.

17

Der Kl. meint sinngemäß im wesentlichen, die Rechtsauffassung des FA sei unzutreffend. Die Korrektur der Anschaffungskosten der Beteiligung könne nicht aus der Regelung über die Anrechnung der Körperschaftsteuer hergeleitet werden. Die Verquickung des körperschaftsteuerlichen Anrechnungsverfahrens mit der Einkommensteuer nach § 17 EStG verstoße gegen das geltende Einkommensteuerrecht. Die Rückzahlung von EK 04 sei stets steuerfrei, so daß sich die Anschaffungskosten nicht verändern könnten. Abgesehen davon könne der Begriff der Anschaffungskosten im Sinne des § 17 EStG nicht im Sinne von "negativen Anschaffungskosten" ausgelegt werden. Negative Anschaffungskosten kenne das Einkommensteuergesetz nicht. Mit seiner Rechtsauffassung verstoße das FA gegen das Gebot der tatbestandsmäßigen Besteuerung. Eine gesetzübersteigende Rechtsfortbildung sei nur zulässig, wenn schwerwiegende Gründe dies verlangten.

18

Der Kl. hat seine Rechtsauffassung sehr eingehend begründet. Der Senat nimmt wegen der Einzelheiten auf die Schriftsätze vom 25. April 1994 und 26. Januar 1995 Bezug.

19

Die Kläger beantragen,

den angefochtenen Bescheid dahin zu ändern, daß anstelle der bisher berücksichtigten Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 25.582.628 DM Einkünfte aus Gewerbebetrieb in Höhe von 782.628 DM berücksichtigt werden.

20

Das FA beantragt,

die Klage abzuweisen.

21

Es hält an seiner bisherigen Rechtsauffassung fest.

Entscheidungsgründe

22

Die Klage ist unbegründet.

23

Zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gehört gemäß § 17 Abs. 1 EStG auch der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft wesentlich beteiligt war und die innerhalb eines Veranlagungszeitraums veräußerten Anteile 1 v.H. des Kapitals der Gesellschaft übersteigen. Veräußerungsgewinn im Sinne des Abs. 1 ist gemäß § 17 Abs. 2 EStG der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt. Hat der Veräußerer den veräußerten Anteil unentgeltlich erworben, so sind als Anschaffungskosten des Anteils die Anschaffungskosten des Rechtsvorgängers maßgebend, der den Anteil zuletzt entgeltlich erworben hat.

24

Die Beteiligten streiten darüber, wie der Begriff der Anschaffungskosten gemäß § 17 Abs. 2 EStG auszulegen ist bzw. konkret, ob bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns die Ausschüttungen der Vorjahre aus EK 04 als "negative Anschaffungskosten" zu berücksichtigen sind.

25

Die Ausschüttungen der Vorjahre aus EK 04 in Höhe von 24.800.000 DM gehörten gemäß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG nicht zu den Einnahmen des Kl. im Rahmen seiner Einkünfte aus Kapitalvermögen. § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG galt für den Kl. direkt, denn zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb gemäß § 17 EStG gehören nur die anläßlich der Veräußerung der Beteiligung erzielten Gewinne bzw. Verluste.

26

Die Regelung des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG berührt die Anschaffungskosten im Sinne des § 17 Abs. 2 EStG. Nach inzwischen gefestigter Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs und nach der herrschenden Meinung gilt diese Vorschrift auch im Rahmen der Gewinneinkünfte. Der I. Senat des Bundesfinanzhofs hat dies in den oben genannten Urteilen eingehend und überzeugend begründet.

27

Der Senat verweist zur Vermeidung von Wiederholungen auf diese Urteile. Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs hat sich dieser Rechtsauffassung angeschlossen (Urteil vom 19. Juli 1994 VIII R 58/92, BStBl II 1995, 362).

28

Im Rahmen der Gewinneinkünfte folgt aus der entsprechenden Anwendung des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG, daß die Ausschüttungen aus EK 04 den Buchwert der Beteiligung an der ausschüttenden Kapitalgesellschaft bis - ggf. - zu 1 DM (Erinnerungsposten) mindern. Im Rahmen des § 17 EStG treten an die Stelle des Buchwerts die Anschaffungskosten (BFH-Urteile vom 7. November 1990 I R 68/88 und vom 19. Juli 1994 VIII R 58/92, a.a.O.).

29

§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ist Teil einer Gesamtregelung, die davon ausgeht, daß Gesellschaftereinlagen und Einlagenrückgewähr sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch auf der Ebene der Gesellschafter steuerneutral zu behandeln sind. Ausschüttungen aus dem EK 04 betreffen Eigenkapitalanteile der Kapitalgesellschaft, die durch Vermögensmehrungen entstanden sind, die nicht der Körperschaftsteuer unterlegen haben; dazu gehören insbesondere verdeckte Einlagen der Anteilseigner. Ausschüttungen aus EK 04 werden als Einlagenrückgewähr behandelt. Da steuerrechtlich gesehen jede Einlage in das Vermögen einer Kapitalgesellschaft Anschaffungskosten des Gesellschafters auf den Kapitalanteil auslöst, führt die Einlagenrückgewähr zu einer Minderung der Anschaffungskosten. Da handelsbilanzrechtlich die mit dem EK 04 verrechnete Ausschüttung bei einem bilanzierenden Gesellschafter als Beteiligungsertrag zu erfassen ist, wird deutlich, daß § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG den steuerlichen Begriff der Anschaffungskosten auf Kapitalanteile modifiziert.

30

Im Streitfall überstiegen die Ausschüttungen aus EK 04 in Höhe von insgesamt 24.800.000 DM um rd. 20.000.000 DM die Anschaffungskosten des Kl. für seine Beteiligung an der GmbH. Ob dieser übersteigende Betrag im Rahmen des § 17 steuerpflichtig zu erfassen ist, ist strittig. Schmidt (Kommentar zum EStG, 14. Aufl., § 17 Rdn. 168) meint, der übersteigende Betrag sei bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns zu berücksichtigen (negative Anschaffungskosten). Dem widerspricht insbesondere Dötsch (Kommentar zum KStG, § 17 EStG Rdn. 125). Negative Anschaffungskosten seien nicht möglich. Um eine über die Anschaffungskosten der Beteiligung hinausgehende EK 04-Rückzahlung zu besteuern, müsse § 17 Abs. 4 EStG geändert werden. Der BFH hat diese Frage noch nicht ausdrücklich entschieden. Bei im Betriebsvermögen gehaltenen Anteilen meint der BFH, es sei kein passiver Ausgleichsposten anzusetzen. Es entstehe vielmehr ein Gewinn (BFH-Urteil vom 14. Oktober 1992 I R 1/91, a.a.O.).

31

Der Senat folgt der Rechtsauffassung von Schmidt. Zwar ist der Begriff der Anschaffungskosten in § 17 Abs. 2 EStG bisher nur im Sinne von "positiven Anschaffungskosten" verstanden worden. Der Sinn und Zweck des § 17 und die konsequente Durchführung der Regelung des § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG gebieten indes, unter dem Begriff der Anschaffungskosten im Sinne von § 17 Abs. 2 EStG auch "negative Anschaffungskosten" im Sinne von Schmidt zu subsumieren. Wesentlicher Sinn und Zweck des § 17 EStG ist es, bei einem wesentlich Beteiligten auch die stillen Reserven seiner Beteiligung zu erfassen. Insofern soll der wesentlich Beteiligte so behandelt werden, wie wenn seine Beteiligung zu einem Betriebsvermögen gehörte.

32

§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG ist, wie bereits oben ausgeführt, Teil einer Gesamtregelung, die davon ausgeht, daß Gesellschaftereinlagen sowohl auf der Ebene der Gesellschaft als auch auf der Ebene der Gesellschafter steuerneutral zu behandeln sind. Eine steuerneutrale Rückzahlung von Einlagen ist objektiv nur so lange gegeben, als die Ausschüttungen aus EK 04 die Anschaffungskosten (einschließlich der nachträglichen Anschaffungskosten) nicht übersteigen. Bei einer Beteiligung ist auf den Buchwert der Beteiligung abzustellen. Dementsprechend hat der BFH den Buchwert übersteigenden Ausschüttungen in Übereinstimmung mit der herrschenden Meinung als Gewinn berücksichtigt (BFH-Urteil vom 14. Oktober 1992 I R 1/91, a.a.O.). Die übersteigenden Beträge nicht als Gewinn anzusehen, wäre nur dann gerechtfertigt, wenn § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG, den der BFH in Übereinstimmung mit der herrschenden

33

Meinung entsprechend bei den Gewinneinkünften anwendet, eine Steuerbefreiungsvorschrift wäre. Dies hat der BFH in Übereinstimmung mit der überwiegenden Meinung in der Literatur zu Recht verneint.

34

Da § 17 Abs. 1 EStG die stillen Reserven einer Beteiligung im Privatvermögen im Zeitpunkt der Veräußerung erfassen will und weil § 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 EStG keine Steuerbefreiung regelt, sind die Ausschüttungen aus EK 04 als "negative Anschaffungskosten" bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns gemäß § 17 Abs. 2 EStG zu berücksichtigen. Die Subsumtion "negativer Anschaffungskosten" unter den Begriff der Anschaffungskosten gemäß § 17 Abs. 2 EStG ist danach als konsequenter und stimmiger Gesetzesvollzug begründet.

35

Der Senat sieht darin keine unzulässige Gesetzesauslegung. Der Senat erachtet eine Auslegung über den ausdrücklichen Gesetzeswortlaut oder über den Wortsinn eines Begriffs, wie er bisher verstanden wurde, hinaus für zulässig, wenn der eindeutig erkennbare Sinn und Zweck steuerlicher Regelungen dies insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Steuergerechtigkeit gebieten (so überzeugend Tipke/Lang, Steuerrecht, 1.4. Aufl. § 4 Rdzn. 184 ff.). Das moderne Steuerrecht ist so kompliziert, daß es immer wieder Gesetzeslücken geben wird. Das gilt insbesondere, wenn ein Rechtsgebiet neu geregelt wird. Eine Neuregelung brachte das Körperschaftsteuergesetz 1977, Gelingt es dem Gesetzgeber nicht, das erkennbare Konzept einer Neuregelung konsequent bis in alle Verästelungen ausdrücklich zu vollziehen, so ist der stimmige Vollzug Aufgabe der Gerichte.

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Der Gesichtspunkt der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes steht dem insbesondere dann nicht entgegen, wenn so verstandene Gesetzeslücken als solche erkennbar sind, aber trotzdem bewußt zur Steuerersparnis genutzt werden. Ein Beispiel (aus der Praxis) möglicher Gestaltungen mit Hilfe des EK 04 bringt Mingers (Die steuerliche Betriebsprüfung 1993, 112). Der zu entscheidende Streitfall ist ebenfalls ein anschauliches Beispiel. Das Interesse des Kl. am Erwerb der verlustträchtigen Reißverschlußfirma ergab sich aus dem Verlustvortrag und dem EK 04 mit rd. 38.000.000 DM. Alle weiteren Schritte (Einbringung des Schokoladenunternehmens zu Buchwerten, Veräußerung des Reißverschlußunternehmens, Ausschüttungen aus EK 04, Herausnahme des Schokoladenunternehmens aus der GmbH, Veräußerung der substanzlosen GmbH) folgten aus dem "erworbenen" Verlustvortrag nebst EK 04. Auf den Gesetzespunkt der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes kann sich der Kl. deshalb nicht berufen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

38

Der Senat läßt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zu (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).