Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 04.07.2013, Az.: 2 A 447/12

Hildesheimer Baupolizeiverordnung; metrische Beschränkung; passiver Bestandsschutz; Bestandsschutz; faktische Duldung; Duldung; Ermessen; fehlerhafte Ausübung; Grenzbebauung; Nutzungsuntersagung; Verwirkung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
04.07.2013
Aktenzeichen
2 A 447/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2013, 64352
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Hat die Bauaufsichtsbehörde positive Kenntnis von baurechtswidrigen Zuständen auf dem Grundstück des Betroffenen und schreitet hiergegen über Jahre nicht ein, unterliegt eine Nutzungsuntersagungsverfügung jedenfalls dann der Aufhebung, wenn die Bauaufsichtsbehörde die langjährige faktische Duldung der baurechtswidrigen Zustände nicht in ihre Ermessenserwägungen einstellt.

2. Eine metrische Beschränkung des Bereichs, auf den sich eine Nutzungsuntersagung beziehen soll, ist ermessensfehlerhaft, wenn diese Maßnahme aufgrund der Ausdehnung der betroffenen Räumlichkeiten ungeeignet ist, die baurechtswidrigen Zustände wirkungsvoll zu unterbinden.

Tatbestand:

Der Kläger wendet sich gegen eine Nutzungsuntersagungsverfügung des Beklagten, die sich auf einen an der östlichen Grundstücksgrenze gelegenen, 3 Meter breiten Teil seines Wohnhauses bezieht.

Der Kläger ist seit 1991 Eigentümer des Grundstücks J. xx in K., Flurstück L. der Flur xx der Gemarkung K.. Auf dem Grundstück steht ein in den Grundmauern zu Beginn des 20. Jahrhunderts errichtetes, zwei Vollgeschosse umfassendes Wohnhaus, dessen Giebelseiten nach Osten und Westen ausgerichtet sind. Straßenseitig befinden sich die Eingangstür und die vom Kläger zu Wohnzwecken genutzten Räumlichkeiten im westlichen Teil des Gebäudes. Der östliche Gebäudetrakt weist in dem hier streitgegenständlichen Bereich von zirka 6 Metern, gemessen von der Grenze zum östlich gelegenen Nachbargrundstück J. xx, im Erdgeschoss einen vom Kläger als Lager und Werkstatt genutzten Raum auf, der straßenseitig durch eine zweiflügelige, ca. 3 Meter breite Tür aus Holz begehbar ist. Darüber befindet sich im Obergeschoss ein bis zum Dachgeschoss offener Boden, der straßenseitig über eine Futterluke erreicht werden kann. Südseitig nutzt der Kläger diesen ca. 6 Meter breiten Bereich im Erdgeschoss als Waschküche, vom Garten des Klägers aus begehbar durch eine Tür, mit offenem Durchgang zur dahinter gelegenen (straßenseitigen) Werkstatt. Gartenseitig oberhalb der Waschküche befindet sich im Obergeschoss ein abgeschlossener Raum, welcher in seinen Grundrissen der darunter gelegenen Waschküche entspricht und vom Kläger derzeit als Schlafzimmer genutzt wird.

Für das klägerische Grundstück erteilte der königlich preußische Landrat des Kreises D. dem Voreigentümer, Herrn M. N., am 15. Mai 1908 eine Baugenehmigung zur Errichtung eines Wohnhauses nebst Stallung. Danach ist der als Stall- und Futtergangsgebäude zu nutzende Trakt mit einer Breite von 3,50 m an der östlichen Grundstücksgrenze gelegen, hat einen Grenzabstand zum Nachbargrundstück J. xx von 2,50 m einzuhalten und weist lediglich ein Vollgeschoss auf. An der westlichen Grenze dieses benachbarten Grundstücks sieht die der Baugenehmigung zugrunde liegende Planung aus dem Jahre 1908 noch keine Grenzbebauung vor.

Im Jahre 1921 erteilte der Landrat des Kreises D. für das Nachbargrundstück J. xx eine Baugenehmigung zur Errichtung eines auf der Grenze zum klägerischen Grundstück aufstehenden, zwei Vollgeschosse großen Stallgebäudes, welches in dieser Form mit seinen Giebelseiten nach Norden und Süden errichtet wurde und straßenseitig zirka 3,50 bis 4,00 Meter gegenüber der Front des benachbarten klägerischen Gebäudes nach vorn verspringt. Im Erdgeschoss wird der straßenseitige Bereich des ehemaligen Stallgebäudes aktuell offenbar als Werkstatt genutzt. Vom Garten des klägerischen Grundstücks aus blickend ist dieses direkt angrenzende Nachbargebäude ca. 2,00 bis 2,50 Meter gegenüber der rückwärtigen Fassade des klägerischen Wohnhauses zurückversetzt; in diesem Bereich befindet sich ein Unterstand, der von den Nachbarn gegenwärtig zur Lagerung von Brennholz genutzt wird.

Nach substantiell nicht widersprochenem Vortrag des Klägers fiel das von ihm erworbene Wohn- und Stallgebäude im Juli 1951 einem Brand zum Opfer. Der Voreigentümer entschloss sich im Jahre 1952 zur Wiedererrichtung des Gebäudes. Offenbar im Zuge dieser Baumaßnahme rückte das Wohnhaus des Klägers bis an die Grenze zum Nachbargrundstück J. xx heran und erhielt in dem vorstehend beschriebenen 6-Meter-Bereich ein weiteres Vollgeschoss einschließlich des gartenseitig im Obergeschoss gelegenen Raumes, den der Kläger heute als Schlafzimmer nutzt. Eine Genehmigung für diese Baumaßnahme konnten die Beteiligten der Kammer nicht vorlegen.

Unter dem 30. Oktober 1991 erteilte der Beklagte dem damaligen Nachbarn des Klägers und Eigentümer des Grundstücks J. xx die Genehmigung für den Abbruch des an der westlichen Grundstücksgrenze gelegenen Stallgebäudes zum Zwecke der Errichtung eines an die östliche Giebelwand des klägerischen Gebäudes entsprechend anzubauenden Einfamilienhauses als Ersatzneubau. Im Rahmen des vorangegangenen Baugenehmigungsverfahrens erteilte der damals zuständige technische Sachbearbeiter des Beklagten, Herr Dipl.-Ing. O., dem Kläger die Auskunft, der Beklagte erachte den geplanten Anbau der Nachbarn wie die zweite Hälfte eines Doppelhauses für zulässig. Wegen der Einzelheiten des Inhalts der Baugenehmigung vom 30. Oktober 1991 wird auf die Bauvorlagen (Bl. 7 ff. GA) verwiesen. Von dieser Baugenehmigung machten die damaligen Nachbarn des Klägers jedoch in der Folgezeit keinen Gebrauch.

Nachdem der Kläger den vom Voreigentümer nach dem Brand 1951 gartenseitig an der südöstlichen Grundstücksgrenze errichteten Geräteschuppen ohne Baugenehmigung erneuert und vergrößert hatte, forderte der Beklagte den Kläger mit Bescheid vom 6. April 1993 auf, die von ihm rechtswidrig begonnenen Bauarbeiten an dem Geräteschuppen sofort einzustellen und die bis dato vorhandenen Reste des noch teilweise vorhandenen Geräteschuppens vollständig zu beseitigen. Diesen Bescheid stütze der Beklagte u.a. auf eine Ortsbesichtigung auf dem Grundstück des Klägers durch zwei Mitarbeiter seiner unteren Bauaufsicht am 29. März 1993. Hierbei sprachen die beiden Mitarbeiter den Kläger u.a. auf die damalige Nutzung des gartenseitig im Obergeschoss über der Waschküche gelegenen Raumes zu Wohnzwecken an, ohne hiergegen - ebenso wie gegen die Grenzbebauung - Bedenken zu äußern. Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Beseitigungsanordnung des Beklagten vom 6. April 1993 (Bl. 58 ff. GA) verwiesen.

Nachdem sich der Kläger im Jahre 2009 beim Beklagten offenbar wegen der Haltung eines Pferdes in dem Stallgebäude des Nachbargrundstücks J. xx beschwert hatte und daraufhin die heutigen Eigentümer dieses Nachbargrundstücks den Beklagten darauf aufmerksam gemacht hatten, dass der Kläger für die aktuelle Nutzung seines an der östlichen Grundstücksgrenze befindlichen Gebäudetraktes ebenfalls über keine Baugenehmigung verfüge, untersagte der Beklagte nach Anhörung des Klägers mit Bescheid vom 8. April 2011 diesem „die Nutzung des ehemaligen Stalls an der Grenze zum Grundstück J. xx“ mit sofortiger Wirkung. Zur Begründung führte der Beklagte aus, er habe festgestellt, dass der Gebäudebereich an der Grenze zum Grundstück J. xx nunmehr zu Aufenthaltszwecken genutzt werde. Da die noch immer gültige Baugenehmigung aus dem Jahre 1909 für diesen Bereich ein Stallgebäude ausweise, liege eine nach § 68 Abs. 1 NBauO (a.F.) genehmigungspflichtige Nutzungsänderung vor. Der Kläger habe bislang keine Baugenehmigung beantragt, deshalb sei eine formelle Baurechtswidrigkeit gegeben. Die Nutzungsuntersagung sei in diesem Fall das geeignete, erforderliche und angemessene Mittel, um mögliche Gefahren durch die ungenehmigte Baumaßnahme abzuwenden bzw. um zunächst baurechtsmäßige Zustände zu sichern.

Hiergegen legte der Kläger am 2. Mai 2011 Widerspruch mit der Begründung ein, die seinen damaligen Nachbarn vom Beklagten im Jahre 1991 genehmigte Grenzbebauung sei nur deshalb zulässig gewesen, weil er bzw. der Voreigentümer seines Grundstücks damals die ausdrückliche Zustimmung zu dieser Grenzbebauung erteilt habe. Mit Erlass und während der dreijährigen Geltungsdauer der Baugenehmigung für das Nachbargrundstück aus dem Jahre 1991 habe sich für sein Grundstück die Genehmigungssituation aus dem Jahre 1908 dahingehend geändert, dass spätestens hierdurch die vorhandene Grenzbebauung auf seinem Grundstück vom Beklagten gleichfalls genehmigt worden sei. Die Stellung eines Bauantrags im Hinblick auf die aktuelle Nutzung des streitbefangenen Gebäudetraktes u.a. zu Wohn- und Aufenthaltszwecken sei für ihn zum heutigen Zeitpunkt nicht (mehr) zumutbar, da diese mit zu hohen Kosten, u.a. im Hinblick auf die aktuellen Anforderungen an den Wärmeschutz, verbunden sei.

Mit Widerspruchsbescheid vom 25. April 2012 wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers gegen die Nutzungsuntersagungsverfügung als unbegründet zurück und präzisierte durch Ausspruch im Tenor den Bereich, für den die Nutzungsuntersagung gelten solle, dahingehend, dass diese nur für die Räumlichkeiten im Erd- und Obergeschoss des auf dem klägerischen Grundstück befindlichen Gebäudes gelte, die sich in dem Bereich befänden, der in der Anlage zum Widerspruchsbescheid rot gekennzeichnet sei. Diesbezüglich wird auf Bl. 37 der Gerichtsakte Bezug genommen. Zur Begründung führte der Beklagte u.a. aus, für das Grundstück des Klägers existiere nur die Baugenehmigung vom 15. Mai 1908. Diese sei durch die im Jahre 1991 seinen damaligen Nachbarn erteilte Baugenehmigung weder ungültig noch modifiziert worden. Zudem sei die Baugenehmigung der Nachbarn aus dem Jahre 1991 gem. § 77 NBauO (a.F.) erloschen, da mit der Ausführung der genehmigten Baumaßnahme nie begonnen worden sei. Es liege ausgehend von der tatsächlichen Nutzung des an der östlichen Grundstücksgrenze liegenden Gebäudeteils zu Wohnzwecken eine Nutzungsänderung vor, da die Wohnnutzung gegenüber der bisher genehmigten Nutzung als Stall bzw. Futtergang andere bzw. weitergehende Anforderungen stelle und somit gem. § 69 Abs. 4 Nr. 1 NBauO (a.F.) nicht genehmigungsfrei sei. Für die Wiedererrichtung des klägerischen Wohnhauses nach dem Brand im Jahre 1951 sei seinerzeit keine Baugenehmigung erteilt worden. In diesem Zusammenhang sei nicht entscheidungserheblich, ob die hier in Rede stehende Wohnnutzung im 3-Meter-Grenzbereich später aufgenommen worden sei oder bereits seit Wiedererrichtung des Gebäudes im Jahre 1952 vor-genommen werde. Die formelle Illegalität der genehmigungspflichtigen Baumaßnahme genüge für eine Nutzungsuntersagung, da gerade wegen der Grenzbebauung eine offensichtliche Genehmigungsfähigkeit nicht gegeben sei. Es komme hinzu, dass wegen des angespannten nachbarlichen Verhältnisses mit einer Mitwirkung der heutigen Eigentümer des Nachbargrundstücks J. xx bei der Herstellung der Genehmigungsfähigkeit der klägerischen Grenzbebauung nicht zu rechnen sei. Die Beschränkung der Nutzungsuntersagung auf den 3-Meter-Grenzbereich sei ermessensgerecht, denn die übrigen Teile des klägerischen Wohngebäudes außerhalb dieses Grenzbereiches entsprächen entweder der Baugenehmigung vom 15. Mai 1908 oder für diese sei eine Genehmigungsfähigkeit aufgrund der aktuellen Rechtslage ohne Mitwirkung von Nachbarn durchaus gegeben bzw. herstellbar. Der Nutzungsuntersagung stehe Bestandsschutz auch nicht entgegen. Für den derzeitigen Gebäudebestand im 3-Meter-Grenzbereich gebe es keine Baugenehmigung; formelle Legalität scheide somit aus. Es sei auch keine materielle Legalität gegeben, da die Vorgängervorschriften zur NBauO, die Baupolizeiverordnung für den Regierungsbezirk Hildesheim, einen Mindestgrenzabstand von 2,50 m (Fassung von 1908) bzw. von 3,00 m (Fassung von 1954) zur seitlichen Grundstücksgrenze vorgeschrieben habe (1908: § 15, 1954: § 8 B b) Abs. 1). Der heutige Gebäudebestand an der östlichen Grundstücksgrenze widerspreche daher seit seiner Errichtung den materiell-rechtlichen An-forderungen der Grenzabstandsvorschriften. Eine Legalisierung sei auch nicht durch das Baugenehmigungsverfahren aus dem Jahre 1991 erfolgt. Eine solche nach § 8 Abs. 2 NBauO (a.F.) scheide aus, da eine die Grenzbebauung sichernde Baulast weder für das Grundstück des Klägers noch für das Nachbargrundstück J. xx bestehe, daneben keine entsprechenden Bauanträge gleichzeitig vorgelegen hätten und hierzu wechselseitig Nachbarzustimmungen erklärt worden seien. Eine Legalisierung nach § 8 Abs. 3 NBauO (a.F.) scheide ebenfalls aus, da die Grenzbebauung des Klägers der auf dem Nachbargrundstück vorhandenen nicht entspreche. Zudem liege keine Nachbarzustimmung für die Grenzbebauung des Klägers vor. Nichts anderes gelte nach § 5 NBauO, der seit 13. April 2012 in Kraft sei.

Hiergegen hat der Kläger am 10. Mai 2012 Klage erhoben, mit der er geltend macht, ein Widerspruch der tatsächlichen Nutzung seiner Grenzbebauung zum öffentlichen Baurecht liege nicht vor. Er könne zumindest Bestandsschutz für die bisherige Nutzung des streitbefangenen Grenzbereiches seines Hauses zu Wohn- und Aufenthaltszwecken geltend machen, weil der Beklagte im Jahre 1991 die Sach- und Rechtslage ausgehend von der damaligen Situation auf seinem - dem klägerischen - Grundstück und dem Nachbargrundstück J. xx eingehend geprüft habe und dabei offenbar von einer legalen Grenzbebauung auf seinem Grundstück ausgegangen sei. Anders lasse sich die damalige Erteilung der Baugenehmigung an die Voreigentümer des Nachbargrundstücks im Hinblick auf die Vorgaben des § 8 NBauO (a.F.) nicht erklären. Der Beklagte habe zum damaligen Zeitpunkt die Nutzung von Teilen des ehemaligen Stall- und Futtergangsgebäudes zu Wohn- und Aufenthaltszwecken positiv gekannt und ausdrücklich gebilligt. Ohne die Annahme einer zulässigen Grenzbebauung sowie die Zustimmung des Voreigentümers seines Grundstücks wäre die Baugenehmigung im Jahre 1991 nicht erteilt worden. Daraus folge, dass zumindest während der dreijährigen Gültigkeit der Baugenehmigung vom 30. Oktober 1991 eine materielle Legalität des streitbefangenen Gebäudetraktes gegeben gewesen sei. Im Übrigen müsse in der Stellung des Antrags auf Erteilung einer Baugenehmigung durch seine damaligen Nachbarn zumindest konkludent deren Zustimmung zur damals bereits vorhandenen Grenzbebauung auf seinem Grundstück erblickt werden. Es komme hinzu, dass der Beklagte nur zwei Jahre später anlässlich der Ortsbesichtigung vom 29. März 1993 die Grenzbebauung und deren Nutzung durch ihn - den Kläger - zur Kenntnis genommen und seinerzeit nicht beanstandet habe. Letztlich gehe er davon aus, dass für die Wiedererrichtung des 1951 niedergebrannten Wohngebäudes eine Baugenehmigung durch die nach seiner Auffassung zuständige Gemeinde K. erteilt worden sei, die heute beim Beklagten noch vorhanden sein müsse. Der damalige Bürgermeister der Gemeinde, Herr P., sei als Bauunternehmer gleichzeitig Entwurfsverfasser für sein Wohnhaus gewesen.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 8. April 2011 in der Gestalt seines Widerspruchsbescheids vom 25. April 2012 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verweist zur Begründung auf die Ausführungen in dem angefochtenen Widerspruchsbescheid und ergänzt, eine Zustimmung des Voreigentümers des klägerischen Grundstücks zu der den damaligen Nachbarn erteilten Baugenehmigung aus dem Jahre 1991 sei nicht aktenkundig. Aus dem vom Kläger vorgelegten Einheitswertbescheid des Finanzamts Q. vom 26. September 1968 ergebe sich der Wiederaufbau des klägerischen Wohnhauses im Jahre 1952 nicht zwingend, sondern lediglich der Umstand, dass im Jahre 1952 zwei Wohnungen vorhanden gewesen seien, die vom Finanzamt bewertet worden seien. Aus den vom Kläger vorgelegten Unterlagen des Finanzamtes lasse sich jedenfalls nicht auf die Existenz einer Baugenehmigung für die Wiedererrichtung des klägerischen Wohnhauses direkt an der östlichen Grundstücksgrenze unter Schaffung eines weiteren Wohn- und Aufenthaltsraums im Obergeschoss schließen. Aus der Abrissverfügung vom 6. April 1993 und dem vorangegangenen Ortstermin seiner - des Beklagten - Mitarbeiter könne ebenfalls kein Bestandsschutz für das klägerische Gebäude hergeleitet werden. Es sei Sache des Klägers, den Bestandsschutz für sein Gebäude mit dem aktuellen Bestand nachzuweisen. Mutmaßungen reichten hierfür nicht aus, etwa dass er - der Beklagte - die Baugenehmigung für das klägerische Wohnhaus aus dem Jahre 1951 falsch einsortiert oder aufbewahrt habe.

Die Kammer hat zur Aufklärung der Sach- und Rechtslage die mündliche Verhandlung am 4. Juli 2013 vor Ort durchgeführt. Wegen des Ergebnisses der von der Kammer wahrgenommenen örtlichen Verhältnisse wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte sowie die vom Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgänge (Beiakten A und B) Bezug genommen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet, denn die Nutzungsuntersagungsverfügung des Beklagten vom 8. April 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 25. April 2012 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Als Ermächtigungsgrundlage für die Nutzungsuntersagungsverfügung des Beklagten kommt allein § 89 Abs.1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 NBauO in der hier noch anzuwendenden Fassung vom 10. Februar 2003, zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. November 2004 (Nds. GVBl. S. 404), in Betracht. Gemäß § 88 Abs. 2 Satz 1 NBauO in der am 13. April 2012 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes vom 3. April 2012 (Nds. GVBl. S. 46) ist die im Wesentlichen gleichlautende Nachfolgevorschrift des § 79 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 NBauO erst zum 1. November 2012 in Kraft getreten, sodass der Beklagte in seinem Widerspruchsbescheid zutreffend auf § 89 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Nr. 5 NBauO 2003 abgestellt hat. Danach kann die Bauaufsichtsbehörde nach pflichtgemäßem Ermessen die Maßnahmen anordnen, die zur Herstellung oder Sicherung rechtmäßiger Zustände erforderlich sind, sofern bauliche Anlagen, Grundstücke, Bauprodukte oder Baumaßnahmen in dem öffentlichen Baurecht widersprechen oder dies zu besorgen ist. Nach Satz 2 Nr. 5 dieser Vorschrift kann sie namentlich die Benutzung von baulichen Anlagen untersagen, insbesondere Wohnungen für unbewohnbar erklären.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Ermächtigungsgrundlage liegen zur Überzeugung der Kammer vor. Ein Widerspruch des klägerischen Wohngebäudes, eine bauliche Anlage gem. § 2 Abs. 2 NBauO a.F., in seiner heutigen Dimension zum öffentlichen Baurecht ist gegeben. Es ist formell baurechtswidrig, weil für seine (Wieder-)Errichtung keine Baugenehmigung existiert. Die Kammer hat keine Anhaltspunkte dafür, dass namentlich dem Voreigentümer des klägerischen Grundstücks für den Wiederaufbau des Wohngebäudes nach dem Brand im Jahre 1951 eine Baugenehmigung erteilt wurde. Schon damals war der Beklagte als Baugenehmigungsbehörde zuständig, vgl. § 2 Abs. 1 der Baupolizeiverordnung für den Regierungsbezirk Hildesheim vom 7. August 1939 in der Fassung der Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 24.September 1942, der Verordnung des Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 12. Januar 1949 und vom 4. Januar 1952. Für die Annahme des Klägers, der damalige Bürgermeister der Gemeinde K. und zugleich Entwurfsverfasser des Voreigentümers könne eine Baugenehmigung erteilt haben, spricht daher schon mangels Zuständigkeit nichts.

Die dem Voreigentümer vom Landrat des Landkreises D. am 15. Mai 1908 erteilte Baugenehmigung verschafft dem klägerischen Wohngebäude in seiner heutigen Dimension keine formelle Legalität. Der an der östlichen Grundstücksgrenze befindliche Gebäudetrakt weicht in einem Bereich von ca. 6 Metern erheblich von dem ursprünglich als Stall- und Futtergangsgebäude genehmigten Zustand ab. Er ist direkt an die Grenze zum Nachbargrundstück J. xx herangerückt, in seinem Grundriss somit vergrößert, weist heute zwei Vollgeschosse auf, und die Nutzung der darin gelegenen Räumlichkeiten als Waschküche und Werkstatt bzw. Lager im Erdgeschoss sowie gartenseitig im Obergeschoss als Schlafzimmer ist geändert. Diese Veränderungen stellen eine genehmigungspflichtige Baumaßnahme i.S.d. §§68 Abs. 1, 69 Abs. 1 und Abs. 4 Nr. 1, 2 Abs. 5 NBauO 2003 dar, denn an den aktuellen Gebäudebestand stellt das Bauplanungs- und Bauordnungsrecht andere Anforderungen. Exemplarisch sei auf die Vorschriften über die Grenzabstände der §§ 7 ff. NBauO 2003 und über die Anforderungen an gesunde Wohnverhältnisse nach den §§20, 21 und 30 ff. NBauO 2003 verwiesen. Ohnehin ist mit der Änderung der Nutzung des streitbefangenen Gebäudeteils namentlich im Hinblick auf die Schaffung eines Schlafzimmers im Obergeschoss die Schutzwirkung der am 15. Mai 1908 erteilten Baugenehmigung und des sich darauf gründenden Bestandsschutzes entfallen (vgl. Nds. OVG, Urteil vom 22. März 2001 - 1 L 4487/99 -, NdsVBl. 2002, S. 22 ff., zitiert nach juris Leitsatz Nr. 1).

Allein die formelle Baurechtswidrigkeit reicht nach der ständigen Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (vgl. Beschluss vom 16.Oktober 2006 - 1ME 171/06 -, NVwZ-RR. 2007, S. 306 f., zitiert nach juris Rn. 13) für den Erlass einer Nutzungsuntersagungsverfügung tatbestandlich aus, denn es ist - wie der Beklagte zutreffend in seinem Widerspruchsbescheid ausführt - nicht ersichtlich, dass das Wohnhaus des Klägers im gegenwärtigen Zustand offensichtlich genehmigungsfähig ist (dazu Nds. OVG, Beschluss vom 16.Oktober 2006, a.a.O., juris Rn. 12; Große-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, Kommentar zur NBauO, 8. Aufl., § 89 Rn. 28 m.w.N.). Da zur Sicherung der streitgegenständlichen Grenzbebauung eine Baulast nicht eingetragen und die erforderliche Zustimmung der Nachbarn bislang nicht vorliegt, wäre das klägerische Wohnhaus mit dem streitgegenständlichen Gebäudetrakt an der östlichen Grundstücksgrenze gemäß § 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO in der hier anzuwendenden Fassung des Gesetzes vom 3. April 2012 ohne Grenzabstand nur zulässig, wenn diese Grenzbebauung der auf dem Nachbargrundstück J. 21 vorhandenen, auch in der Nutzung, entspräche. Von einer entsprechenden Grenzbebauung i.S.d. § 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO 2012 kann angesichts der Art des klägerischen Anbaus an das um 1921 errichtete Stallgebäude der Nachbarn offensichtlich nicht ausgegangen werden kann (vgl. dazu Barth/Mühler, Abstandsvorschriften der NBauO, 4. Aufl., § 5 Rn. 86 ff. und 98 ff.; zur wortgleichen Vorgängerregelung des § 8 Abs. 3 Satz 1 NBauO 2003 vgl. Nds. OVG, Urteil vom 17. Dezember 1996 - 1 M 5481/96 -, zitiert nach juris Rn. 9; Große-Suchsdorf u.a., a.a.O., § 8 Rn. 41). Dies bedarf angesichts des straßenseitig vorhandenen Vorsprungs des nachbarlichen Stallgebäudes von rund 4 Metern, des gartenseitig wahrnehmbaren Rücksprungs von rund 2 Metern und der Ausrichtung seiner Giebelseiten zur Straße und zum Garten der Nachbarn keiner vertieften Ausführungen, sondern versteht sich von selbst. Die Kammer hat sich vor Ort davon überzeugt, dass deckungsgleiche Wandflächen zwischen beiden Gebäuden allenfalls zur Hälfte vorhanden sind.

Die Nutzungsuntersagungsverfügung des Beklagten erweist sich jedoch als ermessensfehlerhaft und ist deshalb aufzuheben.

Zwar folgt die Kammer dem Kläger nicht darin, die Nutzungsuntersagungsverfügung sei unverhältnismäßig, weil sein Wohngebäude in der heutigen Dimension passiven Bestandsschutz genieße. Die Kammer konnte nicht feststellen, dass das klägerische Wohngebäude im heutigen Zustand zu einem früheren Zeitpunkt für einen nicht ganz unwesentlichen Zeitraum materiell rechtmäßig und dabei der vorhandene Bestand funktionsgerecht nutzbar war (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 22. Januar 1971 - IV C 62.66 -, NJW 1971, S. 1624; Nds. OVG, Urteil vom 28. März 1966 - I A 198/63, 199/63, 200/63, 209/63 -, BRS 17 Nr. 150, S. 258 ff.). Der Beklagte hat in seinem Widerspruchsbescheid zutreffend dargelegt, dass im Geltungsregime der NBauO seit dem 1. Januar 1974 eine materielle Legalität der klägerischen Grenzbebauung nach den Maßgaben des § 8 NBauO a.F. ausscheidet, weil weder ein Zwang zur geschlossenen Bauweise nach städtebaulichem Planungsrecht bestand (Abs. 1), noch eine Sicherung der Grenzbebauung durch Eintragung einer Baulast erfolgt ist oder zeitgleich Bauanträge und korrespondierende Zustimmungen der benachbarten Grundstückseigentümer vorlagen (Abs. 2). Auf diese Ausführungen nimmt die Kammer zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug. Zutreffend hat der Beklagte weiter dargelegt, dass von einer entsprechenden Grenzbebauung i.S.d. § 8 Abs. 3 Satz 1 NBauO 2003 angesichts der Art des klägerischen Anbaus an das Stallgebäude der Nachbarn nicht ausgegangen werden kann. Diesbezüglich gelten die vorstehenden Feststellungen zur mangelnden Genehmigungsfähigkeit nach § 5 Abs. 5 Satz 2 NBauO 2012 entsprechend; hierauf verweist die Kammer. Zwar ist nach § 8 Abs. 3 NBauO in der Fassung vom 23. Juli 1973 (Nds. GVBl. S. 259) das Erfordernis einer entsprechenden Grenzbebauung noch nicht vorhanden gewesen. Für die Legalität einer Grenzbebauung nach dieser Vorschrift bedurfte es jedoch eines bauaufsichtlichen Aktes - eines entsprechenden Verlangens oder einer Zulassung der (abweichenden) Grenzbebauung -, dessen Vorliegen weder aktenkundig noch sonst ersichtlich ist. Eine materielle Legalität nach § 8 Abs. 3 Satz 2 NBauO in der Neufassung der Bekanntmachung vom 6. Juni 1986 (Nds. GVBl. S. 157) kann ebenfalls ausgeschlossen werden, da diese an der ausdrücklichen Zustimmung des Nachbarn hängt und dieselbe, so die übereinstimmende Aussage der Beteiligten, bislang nicht vorlag und deren Erteilung aufgrund des angespannten nachbarschaftlichen Verhältnisses wohl auch nicht in Aussicht steht.

Soweit der Kläger geltend macht, die Erteilung der Baugenehmigung für den Ersatzneubau auf dem Nachbargrundstück J. xx vom 30. Oktober 1991 vermittele seiner baulichen Anlage ebenfalls materielle Legalität, verkennt er, dass die Erteilung dieser Baugenehmigung an die Nachbarn auf die Genehmigungssituation seines Grundstücks keinerlei Auswirkungen hat. Insbesondere ist ohne Belang, ob seinerzeit eine Zustimmung des Voreigentümers nach § 8 Abs. 3 Satz 2 NBauO 1986 vorlag oder aber ob der Beklagte wegen der Subsumtion der Tatbestandsvoraussetzungen des § 8 Abs. 3 Satz 1 NBauO 1986 davon ausgegangen ist, dass die damalige Grenzbebauung auf dem klägerischen Grundstück legal ist und der seinerzeit vom Nachbarn geplante Ersatzneubau dieser entspreche. Deshalb kann auch dahingestellt bleiben, ob die Baugenehmigung vom 30. Oktober 1991 zugunsten des damaligen Grundstücksnachbarn rechtmäßig ist oder aber ob der Beklagte seinerzeit einem Tatsachen- bzw. Rechtsirrtum im Hinblick auf die Grenzbebauung auf dem klägerischen Grundstück unterlegen war.

Zu weit führt auch die klägerische Annahme, in der Stellung des Bauantrages im Jahre 1991 durch seine damaligen Grundstücknachbarn liege eine konkludente Zustimmung zur damals schon vorhandenen Grenzbebauung auf seinem Grundstück. Selbst wenn dieser Auffassung gefolgt würde, führt dies nicht automatisch zur Legalisierung der klägerischen Grenzbebauung, denn nach §8 Abs. 3 Satz 2 NBauO 1986 wäre über die nachbarliche Zustimmung hinaus ein Zulassungsakt der Bauaufsichtsbehörde erforderlich gewesen. Dieser liegt offenbar nicht vor.

Die Kammer hat daneben erwogen, ob eine materielle Legalität des klägerischen Wohngebäudes in der heutigen Dimension seit seiner (Wieder-)Errichtung nach dem Brand im Jahre 1951 nach den einschlägigen Vorschriften der Baupolizeiverordnung für den Regierungsbezirk Hildesheim vom 7. August 1939 in der Fassung der Polizeiverordnung des Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 24.September 1942, der Verordnung des Regierungspräsidenten in Hildesheim vom 12. Januar 1949 und vom 4. Januar 1952 ersichtlich ist; dies ist im Ergebnis zu verneinen. Gemäß Absatz 2 des § 8 B b) der Baupolizeiverordnung - Bestimmungen für das platte Land - kann die Baugenehmigungsbehörde fordern, dass ein Neubau hart an der Grenze errichtet wird, sofern auf der Nachbargrenze in derselben Bautiefe schon Gebäude stehen. Ein solches Verlangen des Landrates des Kreises D. ist nicht ersichtlich; dagegen streitet auch, dass das um 1921 errichtete benachbarte Stallgebäude nicht in derselben Bautiefe wie das klägerische Wohnhaus aufsteht. Gemäß Absatz 3 dieser Vorschrift dürfen Nachbargebäude an der gemeinsamen Grenze aneinandergebaut werden, wenn sie annähernd gleicher Größe gleichzeitig errichtet werden. Das klägerische Wohnhaus ist jedoch erst ca. 30 Jahre nach dem Stallgebäude der Nachbarn (wieder-)errichtet worden.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts trägt der Bürger, der sich gegenüber einer bauaufsichtlichen Verfügung auf passiven Bestandsschutz beruft, die materielle Beweislast für diesen, ihm günstigen Umstand. Erweist sich als unaufklärbar, ob der von einer Untersagungsverfügung Betroffene aus Gründen der formellen oder materiellen Legalität Bestandsschutz genießt, so geht das zu seinen Lasten (BVerwG, Beschluss vom 5. August 1991 - 4 B 130/91 -, Buchholz 406.17 Nr. 35, zitiert nach juris, Orientierungssatz Nr. 2).

Die Kammer braucht auch nicht zu entscheiden, ob der Beklagte seine bauaufsichtlichen Befugnisse verwirkt hat, weil er trotz positiver Kenntnis von der tatsächlichen Bebauung des klägerischen Grundstücks und von der Nutzung der im östlichen Bauwich gelegenen Räumlichkeiten seines Wohnhauses im Zuge des 1991 durchgeführten Baugenehmigungsverfahrens und des bauaufsichtlichen Verfahrens im Jahre 1993 hiergegen bislang nicht eingeschritten ist. Zwar ist der 1. Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts insoweit der Auffassung, eine Verwirkung bauaufsichtlicher Befugnisse komme grundsätzlich nicht in Betracht (vgl. Urteil vom 22.März 2001, a.a.O., juris Rn. 13), während demgegenüber das Bundesverwaltungsgericht ausweislich seines Beschlusses vom 5.August 1991 (a.a.O., juris Rn. 7) eine Verwirkung bauaufsichtlicher Befugnisse grundsätzlich für möglich hält und hierzu ausgeführt hat, neben der (positiven) Kenntnis der Bauaufsichtsbehörde von einem baurechtswidrigen Zustand müsse auch ein Verhalten derselben hinzutreten, dass bei dem Verpflichteten das berechtigte Vertrauen entstehen lasse, die Bauaufsichtsbehörde werde aus überlegten Gründen von ihren Befugnissen keinen Gebrauch machen. Ist ein solches Vertrauen beim Betroffenen entstanden und schutzwürdig, kann dieser Umstand aber auch nach der Rechtsprechung des 1. Senates des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts nicht unberücksichtigt bleiben. Der Senat hat zur faktischen Duldung baurechtswidriger Zustände durch die Bauaufsichtsbehörde ausgeführt, dass diese unter besonderen Umständen Vertrauenstatbestände schaffe, die bei einem bauaufsichtlichen Einschreiten zu berücksichtigen seien. Es sei deshalb anerkannt, dass Duldungen in der einen oder anderen Weise rechtliche Relevanz zukommen könne (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 9.März 2012 - 1LA 140/09 -, zitiert nach juris Rn. 129); faktischen oder informellen Duldungen ist danach im Rahmen der Ermessensausübung beim bauaufsichtlichen Einschreiten stets Rechnung zu tragen (vgl. Große-Suchsdorf u.a., a.a.O., § 89 Rn. 62 a.E.).

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben ist die Ermessensausübung des Beklagten in dem angefochtenen Bescheid fehlerbehaftet, denn der Beklagte geht darin auf seine Kenntnis von den baurechtswidrigen Zuständen auf dem klägerischen Grundstück seit 1993 und die Gründe für sein bisheriges Zuwarten im Hinblick auf die Ergreifung bauaufsichtlicher Maßnahmen mit keiner Silbe ein. Die Kammer ist aufgrund der mündlichen Verhandlung, namentlich der nachvollziehbaren und unwidersprochen gebliebenen Angaben des Klägers, davon überzeugt, dass die Bauaufsicht des Beklagten spätestens seit 1993 positive Kenntnis von der Bebauung des klägerischen Grundstücks im Bereich des östlichen Bauwichs und der Nutzungsänderung des dort (wieder-)errichteten Gebäudetraktes hatte. Der Kläger hat nachvollziehbar angegeben, dass ihm der damals zuständige technische Sachbearbeiter des Beklagten, Herr Dipl.-Ing. O., im Rahmen des von den damaligen Nachbarn betriebenen Baugenehmigungsverfahrens 1991 die Auskunft erteilt habe, der Beklagte erachte den geplanten Anbau der Nachbarn wie die zweite Hälfte eines Doppelhauses für zulässig. Der Kläger hat daneben glaubhaft ausgeführt, er sei von den beiden Mitarbeitern des Beklagten im Rahmen der am 29. März 1993 auf seinem Grundstück durchgeführten Ortsbesichtigung u.a. auf die damalige Nutzung des gartenseitig im Obergeschoss über der Waschküche gelegenen Raumes seines Hauses zu Wohnzwecken angesprochen worden. Die Mitarbeiter hätten hiergegen - ebenso wie gegen die Grenzbebauung - keine Bedenken geäußert. Die Kammer geht davon aus, dass die zuständigen Mitarbeiter der Bauaufsicht des Beklagten sowohl im Rahmen des Genehmigungsverfahrens 1991 als auch des bauaufsichtlichen Verfahrens zur Beseitigung des Geräteschuppens 1993 die das klägerische Grundstück betreffenden Bauakten beigezogen und sich über den Inhalt der 1908 erteilten Baugenehmigung in Kenntnis gesetzt hatten. Vor diesem Hintergrund sind sachliche Gründe, die ein Zuwarten mit bauaufsichtlichen Maßnahmen gegenüber dem Kläger im Hinblick auf die streitbefangene Grenzbebauung rechtfertigen könnten, weder ersichtlich noch vom Beklagten ansatzweise dargetan. Die Untätigkeit des Beklagten seit 1993 hat beim Kläger seither schutzwürdiges Vertrauen in die Annahme erweckt, der Beklagte werde gegen die streitgegenständliche Grenzbebauung nicht mehr einschreiten. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass er in diesem Vertrauen Investitionen in sein Wohngebäude getätigt habe, beispielsweise habe er begonnen, die Fenster zu erneuern. Ob die faktische Duldung der streitbefangenen Grenzbebauung über einen Zeitraum von rund 16 Jahren bis zur Einleitung des bauaufsichtlichen Verfahrens 2009 im Rahmen der vom Beklagten vorzunehmenden Ermessensausübung zu einer Ermessensreduktion auf Null dergestalt führt, dass ein bauaufsichtliches Einschreiten zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr möglich ist, kann hier letztlich dahinstehen. Der Beklagte hat schon nicht dargelegt, inwieweit ihn die Nachbarbeschwerde aus dem Jahre 2009 nach den vom Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht aufgestellten Grundsätzen (vgl. Urteil vom 16. Februar 2012 - 1 LB 19/10 -, NVwZ-RR 2012, S. 427 ff., zit. nach juris Rn. 39 m.w.N.) überhaupt zu einem bauaufsichtlichen Einschreiten verpflichtete. Die Kammer konnte jedenfalls im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor Ort nicht feststellen, dass durch die Verletzung der Vorschriften über die Grenzabstände und die Grenzbebauung bei den heutigen Nachbarn des Klägers eine spürbare Beeinträchtigung ihrer nachbarlichen Belange eingetreten ist.

Hiervon unabhängig ergibt sich auch aus der im Widerspruchsbescheid vorgenommenen schematischen Beschränkung der Nutzungsuntersagung auf einen Bereich des klägerischen Wohngebäudes von lediglich 3,00 m ab der östlichen Grundstücksgrenze ein weiterer Ermessensfehler, der selbständig tragend zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides führt. Die Nutzungsuntersagung knüpft mit dieser metrischen Beschränkung nicht an die konkrete Abgrenzung der im östlichen Bauwich befindlichen Räumlichkeiten an, mit der Folge, dass Teile der im Erdgeschoss gelegenen Waschküche und der Werkstatt bzw. des Lagers sowie des im Obergeschoss befindlichen Schlafzimmers vom Kläger weiter genutzt werden dürfen. Dabei bleibt die Erkennbarkeit des noch nutzbaren Teils dieser Räumlichkeiten und des übrigen, von der Nutzungsuntersagung erfassten in der konkreten Örtlichkeit für eine objektiven Betrachter auf der Strecke. Die Geeignetheit einer solchen Herangehensweise des Beklagten zur Lösung des Nutzungskonflikts im Hinblick auf die Einhaltung der Vorschriften des öffentlichen Baurechts und der Wahrung nachbarlicher Belange ist für die Kammer nicht ersichtlich. Der Beklagte führt in dem angefochtenen Bescheid vom 8. April 2011 aus, mit der Nutzungsuntersagung sollten mögliche Gefahren durch die ungenehmigte Baumaßnahme abgewendet und zunächst baurechtmäßige Zustände gesichert werden. Dieses Ziel, namentlich zunächst die Veranlassung des Klägers zur Stellung eines Bauantrages für sein Wohngebäude, vermag der Beklagte nach Auffassung der Kammer mit einer auf den Bereich von 3 Metern beschränkten Nutzungsuntersagung nicht zu erreichen. Diese Maßnahme ist hierfür schlichtweg untauglich, denn der Kläger kann die im Bauwich gelegenen Räume weiter nutzen, ohne dass es dem Beklagten bei realistischer Betrachtungsweise gelänge, dem Kläger im Einzelfall einen Verstoß gegen die Nutzungsuntersagungsverfügung nachzuweisen, weil der von der bauaufsichtlichen Verfügung erfasste Teil in der Örtlichkeit nicht handgreiflich ist. Dieser Ermessensfehler kommt in den Gründen des angefochtenen Widerspruchsbescheids deutlich zum Ausdruck. Der Beklagte geht fehl in der Annahme, die übrigen Bereiche des klägerischen Wohnhauses außerhalb des 3 Meter Grenzbereichs entsprächen entweder der Baugenehmigung vom 15. Mai 1908 oder für diese sei eine Genehmigungsfähigkeit aufgrund der aktuellen Rechtslage ohne Mitwirkung von Nachbarn durchaus gegeben bzw. herstellbar. Hiergegen spricht offensichtlich, dass der Gebäudetrakt, der im Jahre 1908 als Stall- und Futtergangsgebäude mit einem Abstand zur östlichen Grundstücksgrenze von 2,50 Metern genehmigt wurde, auch außerhalb des 3 Meter Grenzbereichs seinen ursprünglichen - den genehmigten - Zustand heute nicht mehr aufweist. Wie eingangs bereits dargelegt, hat damit das klägerische Wohnhaus den durch die Baugenehmigung vom 15. Mai 1908 vermittelten Bestandsschutz vollständig verloren. Die Frage der Genehmigungsfähigkeit stellt sich für das gesamte Gebäude nach Maßgabe der aktuell geltenden Vorschriften des öffentlichen Baurechts neu. Da sich die Kammer gem. § 114 Satz 1 VwGO auf die Überprüfung der vom Beklagten angestellten Ermessenserwägungen zu beschränken hat, diese indes fehlerhaft sind, muss die Anfechtung des Klägers zur Aufhebung der streitgegenständlichen Nutzungsuntersagung führen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt das vollständige Unterliegen des Beklagten.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

Gründe für eine Zulassung der Berufung gem. §§ 124 Abs. 2 Nr. 3 oder Nr. 4, 124a Abs. 1 Satz 1 VwGO liegen nicht vor.