Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 25.07.2013, Az.: 2 A 652/12
Abschiebungsanordnung; Asylantrag; Dublin-II-Verordnung; Italien; Wiederaufnahme
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 25.07.2013
- Aktenzeichen
- 2 A 652/12
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2013, 64356
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 27a AsylVfG
- § 34a AsylVfG
- Art 20 EGV 343/2003
- Art 3 Abs 2 EGV 343/2003
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Verzögert das Bundesamt die Stellung eines Wiederaufnahmegesuchs nach Art. 20 Dublin-II-VO unangemessen lange (hier 12 Monate betr. Italien), muss es den Asylantrag gemäß Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO selbst prüfen.
Tatbestand:
Der Kläger wehrt sich gegen die von dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge verfügte Anordnung seiner Abschiebung nach Italien und begehrt die Verpflichtung der Beklagten, ihm die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen gemäß §§ 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG vorliegen.
Der am xx.xx.xxxx in Amuda geborene Kläger ist syrischer Staatsangehöriger kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens. Er reiste im Mai 1999 erstmals in das Bundesgebiet ein und stellte einen Asylantrag. Den Asylantrag nahm er im November 1999 wieder zurück und reiste freiwillig aus dem Bundesgebiet aus, weil es seiner Ehefrau und ihren minderjährigen Kindern nicht gelungen war, ebenfalls nach Deutschland zu kommen.
Am 14.07.2011 reiste der Kläger in Begleitung seiner Ehefrau und dreier seiner zehn Kinder (Kläger/innen in den Verfahren 2 A 650/12, 2 A 651/12, 2 A 653/12 und 2 A 654/12) erneut in das Bundesgebiet ein und stellte am 18.07.2011 einen (weiteren) Asylantrag. Bei seiner informatorischen Anhörung am 25.07.2011 gab der Kläger im Wesentlichen folgendes an: Er habe keinerlei Personalpapiere dabei, alle Dokumente seien ihm von dem Schlepper abgenommen worden; er sei über die Türkei mit einem Lkw nach Deutschland eingereist; drei seiner Kinder würden bereits in Deutschland leben, drei weitere sich noch in Syrien aufhalten; er habe keinen Beruf erlernt, sondern in der Landwirtschaft gearbeitet, die Familie habe in Syrien gut leben können; er sei bisher noch nicht in Italien gewesen, dort seien ihm auch keine Fingerabdrücke abgenommen worden, dies sei lediglich in Deutschland geschehen; am 27. Mai 2011 habe er mit anderen in Amuda demonstriert, er sei im Anschluss an die Demonstration festgenommen, in einen Kerker gebracht und dort geschlagen worden; man habe ihn später an einem Straßenrand abgelegt, er sei wohl bewusstlos gewesen; danach sei er ins Krankenhaus gekommen und dort vom 27.05. bis zum 12.06.2011 geblieben; er habe sodann beschlossen, das Land zu verlassen, auch damit seine Kinder nicht zum Militärdienst eingezogen würden.
Bereits einige Tage vorher wurde dem Bundesamt von einer italienischen Dienststelle mitgeteilt, dass der Kläger am 07.07.2011 in Fiumicino (dem Flughafen von Rom) einen Asylantrag gestellt hatte und dass ihm dort Fingerabdrücke abgenommen worden waren (EURODAC-Treffer der 1. Kategorie). Die weitere Bearbeitung des Falles wurde daraufhin am 10.08.2011 dem Dublin-Referat des Bundesamtes in Dortmund übertragen, wovon der Kläger Mitteilung erhielt.
Mit Beschluss vom 02.08.2012 - 2 B 490/12 - verpflichtete das Gericht die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung, dafür Sorge zu tragen, dass zwischen der Zustellung eines Bescheides, mit dem für den Antragsteller die Abschiebung nach Italien angeordnet wird, und dem konkreten Rücküberstellungstermin eine Frist von mindestens zwei Wochen liegt.
Unter dem 03.08.2012 bat das Bundesamt im Hinblick auf die am 07.07.2011 in Fiumicino erfolgte Asylantragstellung Italien um Wiederaufnahme des Klägers. Unter dem 29.08.2012 stimmte das Innenministerium der Italienischen Republik der Rückübernahme des Klägers zu.
Mit Bescheid vom 16.11.2012 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Asylfolgeantrag des Klägers ab und ordnete seine Abschiebung nach Italien an. In den Gründen dieses Bescheides wird ausgeführt, Italien sei in Anwendung von Art. 16 Abs. 1 c der Dublin-II-Verordnung für die Bearbeitung des Asylantrags des Klägers zuständig; außergewöhnliche humanitäre Gründe, die die Beklagte veranlassen könnten, ihr Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung auszuüben, seien nicht ersichtlich; es sei davon auszugehen, dass die einschlägigen Regelungen des EG-Rechts in Italien eingehalten werden; für einen Ausnahmefall vom Konzept der normativen Vergewisserung seien vorliegend keine hinreichenden Anhaltspunkte dargelegt worden. Dieser Bescheid wurde dem Kläger am 17.12.2012 zugestellt.
Mit Beschluss vom 13.12.2012 - 2 B 638/12 - untersagte das erkennende Gericht der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung, Maßnahmen zum Vollzug der Verbringung des Antragsstellers nach Italien, weil nach dem umfassenden Gutachten von Frau Judith Gleitze, Flüchtlingsorganisation Borderline-Europe, Menschenrechte ohne Grenzen e.V. aus dem Dezember 2012 ersthafte Hinweise darauf bestünden, dass eine erhebliche Anzahl (auch) der zurückgeführten Personen nach Italien nicht auf menschenwürdige Weise untergebracht würden und dass der Lebensunterhalt von Asylsuchenden und Schutzberechtigten in Italien nicht gewährleistet sei. Das Gericht führte weiter aus, die einstweilige Anordnung bewirke, dass der Bescheid des Bundesamtes vom 16.11.2012 vorläufig nicht vollzogen werden dürfe, ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mithin überflüssig erscheine. Den gleichwohl am 01.08.2013 gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht mit Beschluss vom 05.03.2013 - 2 B 46/13 - als unzulässig zurückgewiesen, weil ihm das Rechtsschutzbedürfnis fehle.
Der Kläger hat am 20.12.2012 Klage erhoben. Er vertritt unter Hinweis auf mehrere Gutachten und zahlreiche Entscheidungen anderer Gerichte die Auffassung, die gesetzliche Vermutung, dass die (Unions-)Grundrechte der Asylbewerber in Italien beachtet werden, könne wiederlegt werden; die Überstellung des Klägers nach Italien verletze Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Der Kläger beantragt,
die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16.11.2012 zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG zuzuerkennen,
hilfsweise festzustellen, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2, 3 oder 7 S. 2 AufenthG vorliegt,
weiter hilfsweise festzustellen, dass in seiner Person ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 S. 1 AufenthG vorliegt,
äußerst hilfsweise, die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16.11.2012 zu verpflichten, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 3 Abs. 2 der Dublin-II-Verordnung Gebrauch zu machen und sich für die Durchführung eines Asylverfahrens für zuständig zu erklären und ein solches durchzuführen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie tritt dem Vorbringen des Klägers ebenfalls unter Hinweis auf zahlreiche Auskünfte des Auswärtigen Amtes und andere Erkenntnisquellen sowie auf Entscheidungen diverser Gerichte entgegen.
Der Kläger und sein Sohn E. B. sind in der mündlichen Verhandlung ergänzend angehört worden. Sie haben sich umfassend zu ihrem Reiseweg und dem Aufenthalt in Italien vor der Einreise in das Bundesgebiet geäußert.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, auf den Verwaltungsvorgang des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und auf den Inhalt der Gerichtsakten 2 B 490/12, 2 B 638/12 und 2 B 46/13 Bezug genommen. Diese Unterlagen sind ebenso wie die in der Erkenntnismittelliste Syrien des Gerichts enthaltenen Erkenntnismittel Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig und mit ihrem Hauptantrag begründet. Die mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) erfolgte Abschiebungsanordnung des Klägers nach Italien ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten. Der Kläger hat ferner einen Anspruch darauf, dass die Beklagte ihn die Flüchtlingseigenschaft zuerkennt.
Die Abschiebungsanordnung ist (sinngemäß) gestützt auf § 34 a i.V.m. § 27 a des Asylverfahrensgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 02.09.2008 (BGBl I Seite 1798), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.11.2011 (BGBl I Seite 2258) - AsylVfG -. Nach § 27 a des Gesetzes ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In einem derartigen Falle ordnet das Bundesamt in Anwendung von § 34 a Satz 1 des Gesetzes die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann; einer vorherigen Androhung und Festsetzung bedarf es nach § 34 a Abs. 1 S. 3 des Gesetzes nicht. Die einschlägige Rechtsvorschrift der Europäischen Gemeinschaft ist die Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und des Verfahrens zur Bestimmung des Mitgliedstaates, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedsstaat gestellten Asylantrags zuständig ist (ABl Nr. L 50 Seite 1), geändert durch die Änderungsverordnung (EG) Nr. 1103/2008 vom 22.10.2008 (ABl Nr. L 304 Seite 80) - Dublin-II-VO -. Die Folgeverordnung (EU) Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 (ABl Nr. L 180 Seite 31) tritt ausweislich ihres Artikels 49 Abs. 1 zwar am 19.07.2013 in Kraft, ist ausweislich von Art. 49 Abs. 2 jedoch erst auf Anträge auf internationalen Schutz anwendbar, die ab dem 01.01.2014 gestellt werden (vgl. zu der nahezu gleichlautenden Übergangsvorschrift in der Dublin-II-VO Filzwieser/Sprung, Dublin-II-Verordnung, 3. Aufl., Art. 29, Anm. K.5).
Nach Art. 3 Abs. 1 Satz 1 Dublin-II-Verordnung prüfen die Mitgliedsstaaten jeden Asylantrag, den ein Drittstaatsangehöriger an der Grenze oder im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates stellt. Nach Satz 2 der Bestimmung wird der Antrag von einem einzigen Mitgliedsstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird. Der Kläger ist als syrischer Staatsangehöriger Drittstaatsangehöriger im Sinne dieser Bestimmung. Er hat sich ausweislich der Akten und nach seinem eigenen Vortrag Anfang Juli 2011 - also vor seiner Einreise in das Bundesgebiet - in Italien aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt. Das ist der erste Asylantrag des Klägers in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union im Sinne von Art. 5 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung. Dass er bereits im Jahre 1999 im Bundesgebiet einen Asylantrag gestellt hat (mit der Folge, dass es sich bei dem jetzt im Bundesgebiet gestellten Antrag um einen Folgeantrag im Sinne von § 71 AsylVfG handelt), ist hier unerheblich, denn aus Art. 16 Abs. 3 Dublin-II-Verordnung folgt, dass ein neues Zuständigkeitsbestimmungsverfahren beginnt, wenn der Betroffene das Hoheitsgebiet des jeweiligen Mitgliedsstaates für mindestens 3 Monate verlassen hat, es sei denn, er ist im Besitz einer vom zuständigen Mitgliedsstaat ausgestellten gültigen Aufenthaltserlaubnis - was hier nicht der Fall ist - (vgl. dazu Funke-Kaiser im Gesamtkommentar zum AsylVfG, § 27 a, Rn 213).
In der mündlichen Verhandlung haben der Kläger und ein Sohn E. B. ausführlich über den Reiseweg der Familie und ihren Aufenthalt in Italien berichtet. Die Aussagen enthalten zahlreiche Einzelheiten und sind mit innerer Anteilnahme vorgebracht worden, so dass das Gericht an ihrer Wahrheit nicht zweifelt. Der Kläger hat danach bei einem Zwischenstopp eines Flugzeugs in Fiumicino auf der Linie Algier-Beirut entweder schon im Transitbereich des Flughafens oder erst außerhalb desselben einen Asylantrag gestellt („Papiere unterschrieben“), wonach Italien nach Art. 12 oder Art. 13 Dublin-II-VO für die Prüfung des Asylantrags zuständig wurde.
Eine Selbsteintrittspflicht der Beklagten wegen der sogenannten humanitären Klausel besteht nicht. Nach Art. 15 Abs. 1 Dublin-II-Verordnung kann jedes Mitglied aus humanitären Gründen, die sich insbesondere aus den familiären oder kulturellen Kontext ergeben, Familienmitglieder und andere abhängige Familienangehörige zusammenführen, auch wenn er dafür nach den Kriterien dieser Verordnung nicht zuständig ist. In diesem Fall prüft jeder Mitgliedstaat auf Ersuchen eines anderen Mitgliedsstaates den Asylantrag der betroffenen Personen; die betroffenen Personen müssen dem zustimmen. Nach Art. 15 Abs. 2 der Verordnung entscheiden die Mitgliedsstaaten in Fällen, in denen die betroffene Person wegen Schwangerschaft, eines neugeborenen Kindes, einer schweren Krankheit, einer ernsthaften Behinderung oder hohen Alters auf die Unterstützung der anderen Person angewiesen ist, im Regelfall, den Asylbewerber und den anderen Familienangehörigen, der sich im Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates aufhält, nicht zu trennen bzw. sie zusammenzuführen, sofern die familiäre Bindung bereits im Herkunftsland bestanden hat. Dabei sind in Anwendung von Art. 2 i der Verordnung Familienangehörige die im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten anwesenden Mitglieder der Familie des Antragsstellers, sofern die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat: der Ehegatte oder nicht verheiratete Partner, der mit diesem eine dauerhafte Beziehung führt, die minderjährigen Kinder, sofern diese ledig und unterhaltsberechtigt sind, sowie bei unverheirateten minderjährigen Antragstellern oder Flüchtlingen der Vater, die Mutter oder der Vormund. Sämtliche in Deutschland lebenden Kinder des Klägers (sowohl diejenigen, die sich schon vor dessen Einreise hier aufgehalten haben, wie auch die drei Kinder, die mit ihm gemeinsam aus Syrien ausgereist, in Italien gewesen und in das Bundesgebiet eingereist sind) sind volljährig. Obwohl sich der Kläger bereits im vorgerückten Alter befindet, ist er offenbar nicht auf die dauernde Unterstützung eines der Kinder angewiesen, die im Bundesgebiet ein Aufenthaltsrecht haben. Sollte der Kläger auf die Unterstützung eines derjenigen Kinder angewiesen sein, die mit ihm gemeinsam gereist sind, so ist das unerheblich, denn alle drei Kinder sollen nach dem Willen des Bundesamtes ebenfalls nach Italien abgeschoben werden, damit dort das bereits eingeleitete Asylverfahren fortgesetzt wird.
Anhaltspunkte dafür, dass Italien sich in Wirklichkeit des Klägers entledigen will, anstatt sein Asylgesuch zu prüfen, bestehen nicht. In einem solchen Fall würde sich das Selbsteintrittsrecht (in diesem Falle: der Beklagten), welches in Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung verankert ist, zu einer Selbsteintrittspflicht verdichten (vgl. dazu VG Frankfurt am Main, Urteil vom 04.07.2012 - 1 K 2243/11 - Asylmagazin 2012, Seite 347). Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung vielmehr erklärt, ihm sei von den italienischen Behörden ein Platz in einem Heim zugewiesen worden, den er auch für kurze Zeit angenommen habe. Auch besteht kein Hinweis darauf, dass Duldungsgründe und/oder Abschiebungshindernisse vorliegen, die das Bundesamt vor einer Entscheidung nach § 34 a AsylVfG zu prüfen hätte (vgl. dazu VGH Mannheim, Beschluss vom 31.05.2011 - A 11 S 1523/11 - AUAS 2011, 187; OVG Lüneburg, Beschluss vom 02.05.2012 - 13 MG 22/12 - AUAS 2012, 164).
Das Bundesamt hat das Selbsteintrittsrecht der Beklagten aus Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-VO nicht bereits ausgeübt, indem es den Kläger zu seinen Fluchtgründen befragt hat (vgl. dazu Funke-Kaiser, § 27 RN 148). Dadurch, dass es den Kläger mit seinem Aufenthalt in Italien und der dort erfolgten Asylantragstellung konfrontiert und ihn nicht um sein Einverständnis mit einer Entscheidung durch das Bundesamt selbst gebeten hat, blieb die Frage, ob Italien um Übernahme des Klägers ersucht werden sollte, - auch aus der Sicht des Klägers - offen. Sie wurde erst mit den am 10.08.2011 erfolgten Hinweis an den Bevollmächtigten des Klägers, die weitere Bearbeitung des Falles werde in dem Dublin-II-Referat in Dortmund erfolgen, vorläufig beantwortet (vgl. VGH München, Beschluss vom 03.03.2010 - 5 K 09.30201 -).
Das Selbsteintrittsrecht der Beklagten hat sich jedoch deshalb zu einer Selbsteintrittspflicht verdichtet, weil das Bundesamt das Verfahren ohne ersichtlichen Grund unangemessen lange verzögert hat und dadurch das Grundrecht des Klägers aus Art. 18 der europäischen Grundrechtscharte vom 12.12.2007 (ABl. Nr. C 303 S. 1)verletzt hat. Da der italienische Staat durch Mitteilung eines EURODAC-Treffers der Kategorie 1 dem Bundesamt mitgeteilt hat, dass der Kläger vor seiner Einreise in das Bundesgebiet in Italien einen Asylantrag gestellt hat, hat das Bundesamt zu Recht das Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 16 Abs. 1 c Dublin-II-Verordnung eingeleitet. Danach ist der Mitgliedsstaat, der nach der vorliegenden Verordnung zu Prüfung des Asylantrags zuständig ist, gehalten, einen Antragsteller, der sich während der Prüfung seines Asylantrags unerlaubt im Hoheitsgebiet eines andern Mitgliedsstaates aufhält, nach Maßgabe des Art. 20 wieder aufzunehmen. Das Wiederaufnahmeverfahren bestimmt sich nach Art. 20 der Verordnung. Dort wird eine (Ausschluss)-frist für die Stellung des Wiederaufnahmegesuches nicht genannt; lediglich wird eine Frist von einem Monat bzw. von zwei Wochen in den Fällen, in denen sich der Antrag auf Angaben aus dem EURODAC-System stützt, benannt für die Entscheidung des ersuchten Mitgliedsstaates, wobei unterstellt wird, dass der ersuchte Mitgliedsstaat die Wiederaufnahme des Asylbewerbers akzeptiert, wenn er nicht fristgerecht antwortet. Eine Frist von drei Monaten ist jedoch in Art. 17 Abs. 1 der Verordnung bestimmt in den Fällen, in denen das sogenannte Aufnahmeverfahren betrieben wird; das sind solche Fälle, in denen der Betroffene in dem zuständigen Mitgliedsstaat bisher keinen Asylantrag gestellt hat. In diesem Fall beträgt die Frist für die Stellung des Übernahmeersuchens drei Monate. In Art. 17 Abs. 1 S. 2 ist ausdrücklich geregelt, dass nach fruchtlosem Ablauf dieser Frist der Mitgliedssaat zuständig wird, in dem der Asylantrag gestellt wurde (das wäre, wenn die Voraussetzungen dieses Art. vorlägen, im vorliegenden Fall die Beklagte).
Obwohl Art. 20 Dublin-II-Verordnung keine Frist für die Stellung des Rückübernahmegesuches enthält, kann die Entscheidung des jeweiligen Mitgliedsstaates darüber, ob dieses Gesuch gestellt wird oder ob der Mitgliedsstaat das Asylverfahren in Anwendung von Art. 3 Abs. 2 der Verordnung selbst führt, nicht beliebig hinausgezögert werden. Das folgt bereits aus dem 4. und dem 15. Erwägungsgrund der Verordnung. Der 4. Erwägungsgrund verweist darauf, dass insbesondere eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates ermöglicht werden soll, um den effektiven Zugang zu dem Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Der 15. Erwägungsgrund stellt klar, dass die Verordnung im Einklang mit den Grundrechten und Grundzügen, die insbesondere mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union anerkannt werden, im Einklang steht, und dass sie insbesondere darauf abzielt, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 verankerten Rechts auf Asyl zu gewähren. Der Europäische Gerichtshof hat in seinem grundlegenden Urteil vom 21.12.2011 - C 411/10 u.a. - NVwZ 2012, 413) unter Hinweis auf Art. 1, 4, 18, 19 Abs. 2 und 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union ausgeführt:
Nach gefestigter Rechtsprechung haben die Mitgliedsstaaten nicht nur ihr nationales Recht unionsrechtskonform auszulegen, sondern auch darauf zu achten, dass sie sich nicht auf eine Auslegung einer Vorschrift des abgeleiteten Rechts stützen, die mit den durch die Unionsrechtsordnung geschützten Grundrechten oder den anderen allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts kollidiert (Rn 77).
… dennoch kann daraus nicht geschlossen werden, dass jede Verletzung eines Grundrechts durch den zuständigen Mitgliedsstaat die Verpflichtungen der übrigen Mitgliedsstaaten zur Beachtung der Bestimmungen der Verordnung Nr. 343/2003 berühren würde (Rn 82).
Der Mitgliedsstaat, in dem sich der Asylbewerber befindet, hat jedoch darauf zu achten, dass eine Situation, in der dessen Grundrechte verletzt werden, nicht durch ein unangemessen langes Verfahren zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedsstaates verschlimmert wird. Erforderlichenfalls muss er den Antrag nach den Modalitäten des Art. 3 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 selbst prüfen (Rn 98).
Die Dublin-II-Verordnung bezweckt danach nicht nur, Asylsuchende daran zu hindern, gleichzeitig oder nacheinander Asylanträge in verschiedenen Ländern der EU zu stellen, sondern beinhaltet auch die Begründung von Vertrauensschutz für die Asylsuchenden im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens zur Prüfung der Zuständigkeit des für die Bearbeitung zuständigen Mitgliedsstaates (VG Düsseldorf, Beschlüsse vom 07.08.2012 - 22 L 1158/12.A - und vom 10.05.2013 - 25 L 454/13.A).
Da seit ca. 3 Jahren in Deutschland Gerichtsentscheidungen getroffen wurden, in denen aufgrund vorgefundener menschenunwürdiger Lebensumstände von Asylbewerbern - namentlich Rückkehrern aus anderen europäischen Ländern - in Italien Abschiebungsanordnungen des Bundesamtes in dieses Land gestoppt bzw. aufgehoben worden sind (vgl. nur die Aufstellung in dem Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten des Antragsstellers vom 17.05.2013, in dem 228 Gerichtsentscheidungen zitiert werden), war dem Bundesamt die Problematik bestens bekannt und hatte es die Pflicht, die Ungewissheit des Klägers in Bezug darauf, ob er auf ein Verbleiben im Bundesgebiet hoffen durfte, alsbald zu beenden. Da zur Zeit wegen des in Syrien wütenden Bürgerkrieges Abschiebungen in dieses Land aus dem Bundesgebiet nicht erfolgen und nach der Kenntnis des Gerichts jedem Asylbewerber Verfolgungsschutz in Anwendung von § 60 Abs. 2 AufenthG wegen drohender Folter gewährt wird, bedeutet die Übernahme des Verfahrens durch die Beklagte für den Kläger praktisch, dass er sich auf eine längere Verweildauer in Deutschland einstellen kann. Die oben beschriebene Ungewissheit des Klägers hat hier nahezu ein Jahr gedauert. Nachdem seinem Prozessbevollmächtigten am 10.08.2011 mitgeteilt worden war, die Bearbeitung seines Asylantrages würde nunmehr in dem Dublin-Referat in Dortmund erfolgen, wurde das Aufnahmeersuchen an das italienische Innenministerium erst am 03.08.2012 gestellt (und am 29.08.2012 beantwortet). Auf Anfrage des Gerichts erklärt das Bundesamt in seinem Schriftsatz vom 18.07.2013, die Rückübernahmeverfahren hätten im Hinblick auf die für Übernahmeverfahren geltende 3-Monatsfrist im Hinblick auf jene Verfahren keine besondere Priorität genossen. Diese lapidare Erklärung rechtfertigt es keinesfalls, das Verfahren des Klägers nahezu ein Jahr lang unbearbeitet zu lassen. Es handelt sich dabei immerhin um die 4fache Zeit gegenüber der in Art. 17 Dublin-II-Verordnung verfügten Frist. Das Bundesamt hat ersichtlich dem Beschleunigungsgebot in gravierender Weise zuwider gehandelt, zumal in dem übersandten Vorgang - dessen Vollständigkeit unterstellt wird - keinerlei Wiedervorlagefristen notiert sind. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass in Art. 23 Abs. 2 der Verordnung Nr. 604/2013 nunmehr festgelegt ist, dass ein Wiederaufnahmegesuch so bald wie möglich (auf jeden Fall aber innerhalb von 2 Monaten nach der EURODAC-Treffermeldung) zu stellen ist. Da diese Frist nunmehr noch kürzer bemessen ist als die Frist für die Stellung eines Aufnahmegesuches, wird deutlich, dass nach europäischem Recht schon bisher eine zügige Entscheidung (auch) über die Frage, in welchem Mitgliedsland der Europäischen Union ein Asylverfahren letztlich zu betreiben ist, herbeizuführen war.
Das Selbsteintrittsrecht der Beklagten aus Art. 3 Abs. 2 Dublin-II-Verordnung hat sich aus einem weiteren Grund zu einer Selbsteintrittspflicht verdichtet.
Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Urteil vom 21.12.2011, a.a.O.) lässt das europäische Asylsystem die Annahme zu, dass alle daran beteiligten Staaten die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der europäischen Menschenrechtskonvention finden. Es gilt daher die Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedsstaat in Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Menschenrechte sowie mit der Genfer Flüchtlingskonvention und der europäischen Menschenrechtskonvention steht. Diese Vermutung kann jedoch widerlegt werden. Sie ist widerlegt, wenn ernsthaft zu befürchten ist, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber im zuständigen Mitgliedsstaat grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedsstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta implizieren. Der Mitgliedsstaat, der die Überstellung vornehmen müsste, ist in einem solchen Fall verpflichtet, den Asylantrag selbst zu prüfen, sofern nicht ein anderer Mitgliedsstaat als für die Prüfung des Asylantrags zuständig bestimmt werden kann.
Das erkennende Gericht folgt nach Auswertung der einschlägigen jüngeren Erkenntnismittel (dem Bericht des A.S.G.I. vom 20.11.2012 an das VG Darmstadt und dem Gutachten von Borderline-Europe, Judith Gleitze vom Dezember 2012 an das VG Braunschweig der Einschätzung der Gerichte (namentlich des VG Braunschweig in seinem Urteil vom 21.02.2013 - 2 A 126/11 -), die bezogen auf die Situation um die Jahreswende 2012/2013 festgestellt haben, es sei ernsthaft zu befürchten, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylbewerber in Italien grundlegende Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der dorthin überstellten Asylbewerber implizieren. Es bestanden danach ernstzunehmende Anhaltspunkte für die Annahme, dass die Kernanforderungen des europäischen Asylrechts (Gewährung materieller Aufnahmebedingungen, welche die Grundbedürfnisse der Asylbewerber nach Unterkunft, Nahrung und medizinischer Versorgung decken) schon deshalb nicht gewährleistet waren, weil schlicht nicht genügend Aufnahmeplätze in staatlichen bzw. quasi - staatlichen Aufnahmeeinrichtungen zur Verfügung standen. So hat die Gutachterin Gleitze ausgeführt, in den Jahren 2011 und 2012 hätten nur zwischen 6 und 12 % der nach Rom überstellten Dublin-Rückkehrer eine Unterkunft in einer der staatlichen Aufnahmeeinrichtungen erhalten. Mithin drohte zahlreichen Asylsuchenden (auch gerade Dublin-Rückkehrern) bereits mit der Ankunft in Italien oder später Obdachlosigkeit, was diese Personen auch von der staatlichen Gesundheitsförderung ausschloss. A.S.G.I. führt in dem Gutachten vom 20.11.2012 aus, die Praxis der Behandlung von Asylbewerbern weiche in Italien oft stark von den Richtlinien ab und sei von Ort zu Ort unterschiedlich; aber selbst die Bestimmungen würden keine genaue Frist für die Übernahme eines Dublin-Rückkehrers durch den italienischen Staat vorsehen mit der Folge, dass solche Personen oft mehrere Wochen oder auch noch länger darauf warten müssten, bis ein Platz in einer Aufnahmeeinrichtung gefunden werde; in dieser Zeit würden sie lediglich eine Liste der kommunalen Schlafsäle erhalten.
Der Kläger würde, weil ihm bereits im Juli 2011 eine Unterkunft zugewiesen war, nicht mehr in einer Einrichtung des Systems SPRAR (Sistema die Protezione per Richiedenti Asilo e Rifugiati) aufgenommen werden (vgl. Gutachten Gleitze, S. 43); ihm stünde allenfalls eine Unterkunft in einer Einrichtung des Systems CARA (Centri die Accoglienza per Richiedenti Asilo) zur Verfügung, von denen es italienweit nur 2000 gibt. Dieser Umstand schränkt die Chancen des Klägers, nach einer Rücküberstellung nach Italien eine menschenwürdige Unterkunft zu finden, weiter erheblich ein.
Das Gericht hat keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die prekäre Situation von Flüchtlingen in Italien, namentlich von Dublin-Rückkehrern mittlerweile entscheidend verbessert hat. Das Gericht schließt sich der Einschätzung des VG Stade (Beschluss vom 21.06.2013 - 6 B 2765/13 -) an, welches nach Auswertung aktueller Erkenntnismittel zu dem Schluss gekommen ist, dass auch nach dem Auslaufen des „Notstands Nordafrika“ Ende Februar 2013 nach wie vor systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien bestehen. Dem steht die Entscheidung des EGMR vom 18.04.2013 (ECHR 123/2013), in der ausgeführt wird, die Beschwerdeführerin in jenem Verfahren habe nicht beweisen können, dass solche systemischen Mängel bestehen, nicht entgegen; denn der EGMR hat jüngere Erkenntnismittel, etwa das Gutachten Gleitze von Dezember 2012 nicht berücksichtigt (vgl. dazu VG Köln, Beschluss vom 07.05.2013 - 20 L 613/13.A).
Der (Haupt-)Verpflichtungsantrag ist ebenfalls begründet. Der Kläger hat einen Anspruch darauf, dass ihm auf seinen Asylfolgeantrag hin die Flüchtlingseigenschaft (§ 3 Abs. 4 AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG) zuerkannt wird.
Lehnt das Bundesamt die Durchführung eines Asylverfahrens aus Gründen, die rechtlich nicht haltbar sind, ab, so hat das gegen diese Entscheidung angerufene Verwaltungsgericht - im Umfang der gestellten Anträge - diese Sache spruchreif zu machen und selbst darüber zu entscheiden, ob dem Kläger Verfolgungsschutz zu gewähren ist. Das gilt nicht nur in Fällen, in denen das Bundesamt auf einen Asylfolgeantrag hin kein neues Asylverfahren durchgeführt hat (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.02.1998 - 9 C 28.97 - NVwZ 1989, 861 [BVerwG 14.04.1989 - BVerwG 4 C 22.88]), sondern auch, wenn es die Bescheidung des Asylantrags in der Sache in Anwendung von § 27 a AsylVfG ablehnt (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 19.06.2012 - A 2 S 1355/11 - AUAS 2012, 261).
Stellt ein Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines früheren Asylantrages erneut einen Asylantrag (Folgeantrag), so ist ein weiteres Asylverfahren gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen. Nach § 51 Abs. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsaktes zu entscheiden, wenn
sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat;
neue Beweismittel vorliegen, die eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden;
Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung gegeben sind.
Der Antrag ist nach § 51 Abs. 2 VwVfG nur zulässig, wenn der Betroffene ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren, insbesondere durch Rechtsbehelf geltend zu machen. Absatz 3 der Vorschrift bestimmt ergänzend, dass der Antrag binnen drei Monaten nach dem Tage gestellt werden muss, an dem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erlangt hat. Dabei genügt es nicht, dass der Wiederaufgreifensgrund lediglich behauptet wird, vielmehr muss durch den Vortrag eine Asylanerkennung oder jedenfalls die Feststellung der Voraussetzungen von § 60 Abs. 1 bis 7 des AufenthG deutlich wahrscheinlicher geworden sein.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylVfG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, wenn er in dem Staat, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder in dem er als Staatenloser seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, den Bedrohungen nach § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes ausgesetzt ist. Nach § 60 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.02.2008 (BGBl. I, 162), zuletzt geändert durch Gesetz vom 21.01.2013 (BGBl. I, S. 86) - AufenthG - darf ein Ausländer in Anwendung des Abkommens vom 28.07.1951 über die Rechtstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II, S. 559) nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch dann vorliegen, wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft. Eine Verfolgung im Sinne des Satzes 1 kann ausgehen von
a) dem Staat,
b) Parteien oder Organisationen, die den Staat oder wesentliche Teile des Staatsgebiets beherrschen oder
c) nichtstaatlichen Akteuren, sofern die unter den Buchstaben a) und b) genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht,
es sei denn, es besteht eine innerstaatliche Fluchtalternative. Für die Feststellung, ob eine Verfolgung nach Satz 1 vorliegt, sind Artikel 4 Abs. 4 sowie die Artikel 7 bis 10 der Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes ergänzend anzuwenden. Nach Artikel 4 Abs. 4 der genannten Richtlinie ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Gemäß § 28 Abs. 1 a AsylVfG kann eine Bedrohung nach § 60 Abs. 1 AufenthG auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrages erneut einen Asylantrag und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, kann nach § 28 Abs. 2 AsylVfG allerdings in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden. In den Artikeln 7 bis 10 der genannten Richtlinie befinden sich Vorschriften, die Akteure betreffen, die Schutz bieten können, sowie über den internen Schutz, Verfolgungshandlungen und Verfolgungsgründe.
Der Kläger hat sich zur Begründung seiner Ausreise aus Syrien im Juni 2011 und des in Deutschland gestellten Asyl(Folge-)Antrags darauf berufen, er sei im Anschluss an eine Demonstration am 26. Mai 2011 von Sicherheitsdiensten festgenommen, geschlagen und im bewusstlosen Zustand an einem Straßenrand abgelegt worden und habe deshalb ca. zwei Wochen im Krankenhaus gelegen. Er beruft sich damit auf Vorfluchtgründe, die in Anwendung der oben genannten Vorschriften die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens erforderlich machen und zu der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger führen würden, es sei denn, stichhaltige Gründe würden dagegen sprechen, dass er nach einer Rückkehr in sein Heimatland erneut von solcher Verfolgung bedroht wird Das Gericht hat allerdings erhebliche Zweifel daran, ob der Vortrag des Klägers insoweit zutreffend ist. Hat er schon bezüglich seines Reiseweges ursprünglich die Unwahrheit gesagt, indem er verschwiegen hat, dass er über Italien eingereist ist, so ist zunächst kaum erklärbar, dass jemand im vorgerückten Alter (er war 78 Jahre alt) in einer Zeit, in der in Syrien bereits der Bürgerkrieg entfesselt war, an einer gegen das herrschende Regime gerichteten Demonstration teilgenommen hat, obwohl er sich während seines langen Lebens vorher nie politisch betätigt und niemals demonstriert haben will. Hinzu kommt, dass seine Angaben und die seiner Familienangehörigen bei deren Anhörungen durch das Bundesamt nicht unerheblich voneinander abweichen. Während er angegeben hat, er habe sich in Zimmer 20 in der 2. Etage des Krankenhauses aufgehalten, hat sein Sohn E. gemeint, es sei wohl die 1. Etage gewesen; während seine Ehefrau erklärt hat, sie sei gemeinsam mit der Tochter F. zwei Wochen lang im Krankenhaus gewesen, bestätigt die Tochter F. lediglich einen Aufenthalt von vier Tagen. Gegen die Richtigkeit der entsprechenden Angabe spricht auch, dass der Kläger - insoweit unterscheiden sich seine Angaben nicht von denen seiner Familienangehörigen - im Krankenhaus nicht wirklich behandelt worden, sondern lediglich schmerzstillende Mittel erhalten haben will; es ist nicht recht verständlich, dass in Zeiten eines Bürgerkrieges, in denen Krankenhäuser wahrlich andere Aufgaben haben als alte Menschen zu pflegen, solches geschieht. Das Gericht geht deshalb davon aus, dass diese Angabe nicht der Wahrheit entsprechend und nur geschehen sind, um einen Asylgrund zu schaffen.
Der Kläger kann sich jedoch mit Erfolg darauf berufen, dass sich die entscheidungserhebliche Sachlage gegenüber derjenigen im Jahre 1999 nachträglich zu seinen Ungunsten geändert hat. Er ist jetzt - unabhängig davon, ob in seiner Person Vorfluchtgründe vorliegen - wegen des nicht nur kurzfristigen Auslandsaufenthalts und der Stellung des Asylantrags in Deutschland von politischer Verfolgung bedroht, wenn er nach Syrien zurückkehrt. Das OVG Magdeburg ist bereits in seinem grundlegenden Urteil vom 17.07.2012 - 3 L 417/11 - (Asylmagazin 2013, 30) unter Auswertung aller damals zugänglichen Erkenntnismittel zu dem Schluss gekommen, dass nach Syrien zurückkehrende Personen, die illegal ausgereist sind, im Ausland einen Asylantrag gestellt haben und sich längere Zeit im Ausland aufgehalten haben, ungeachtet einer oppositionellen Haltung - die ihnen allerdings unterstellt wird - von einer Verfolgung bedroht sind, die damit beginnt, dass sie bereits am Flughafen Damaskus zunächst durch die Geheimdienste intensiv befragt werden, wobei sich diese Befragung über mehrere Stunden hinziehen kann, dass es zu Folter und willkürlichen Verhaftungen kommen kann, wobei ein bestimmter Verfolgungsmodus nicht erkennbar ist. Das OVG Magdeburg hat dabei Referenzfälle, die vor April 2011 geschehen sind, die Tatsache, dass der syrische Geheimdienst nach wie vor und eher zunehmend im Ausland jede Form regimekritischer Betätigung von Syrern peinlichst beobachtet, die seit März 2011 erfolgte Eskalation und den Umgang mit Verdächtigen im Inland seit Anfang 2012 ausgewertet und kommt zu folgendem - für das erkennende Gericht ohne Weiteres nachvollziehbaren - Ergebnis:
Der Senat geht bei einer Gesamtschau davon aus, dass der syrische Staat infolge einer sämtliche Lebensbereiche umfassenden autoritären Struktur und seiner totalitären Ausrichtung in so hohem Maße unduldsam ist, dass er schon im Grunde belanglose Handlungen wie die illegale Ausreise, die Asylantragstellung und den langjährigen Aufenthalt im Ausland als Ausdruck einer von seiner Ideologie abweichenden illoyalen Gesinnung ansieht und zum Anlass von Verfolgungsmaßnahmen nimmt.
Zahlreiche Gerichte haben sich dem OVG Magdeburg - auch noch in jüngster Zeit - angeschlossen (etwa VG Kassel, Urteil vom 15.01.2013 - 5 K 145/11 -, VG Regensburg, Gerichtsbescheid vom 14.03.2013 - 6 K 12.30059 -, VG Stade, Urteil vom 15.04.2013 - 6 A 1811/12 -, VG Oldenburg, Urteil vom 18.04.2013 - 4 A 3481/12 -, VG Kassel, Urteil vom 02.07.2013 - 5 K 200/13 -, VG Hannover, Urteil vom 17.07.2013 - 1 A 5293/12 - im Verfahren eines Sohnes des Klägers).
Das erkennende Gericht vertritt diese Auffassung ebenfalls. Zwar gibt es wegen fehlender Rückführungen seit April 2002 (vgl. Erlasse des Nds. Ministeriums für Inneres und Sport vom 02.04.2012, 26.09.2012 und 19.03.2013 - A 11.12 - 12230/1-8 (§ 60 a) - keine Referenzberichte, die aus den Medien bekannte politische Lage in Syrien lässt jedoch nicht den Schluss zu, dass sich die Situation von Rückkehrern entscheidend verbessert hätte. Der Bürgerkrieg in Syrien tobt mit unveränderter Härte. Bereits im Herbst 2012 gab es mehr als 30.000 Tote und mehrere zehntausend Verhaftungen (vgl. spiegel-online vom 15. Oktober 2012 „Uno spricht von 30.000 Toten in Syrien“). Zudem berichtet die UNO davon, dass mindestens 28.000 Menschen bereits seit Beginn des Syrienkonflikts verschleppt und verschwunden sind (vgl. spiegel-online vom 18. Oktober 2012 „Menschenrechtler beklagen zehntausende Verschleppte“). Mittlerweile haben sich die USA und die Europäische Union deutlich gegen das syrische Regime gestellt und die Abdankung des Staatspräsidenten Assad und einen Systemwandel weg von der Einparteienherrschaft der Baath-Partei gefordert. Diese Haltung hat auch die Arabische Liga eingenommen (vgl. VG Kassel, Urteil vom 02.07.2013 - 5 K 200/13). Anhaltspunkte dafür, dass Syrien mittlerweile seine Fähigkeit zur politischen Verfolgung verloren hat, bestehen jedoch nicht (vgl. VG Magdeburg, Urteil vom 29.04.2013 - 9 A 164/12 -).
Der Kläger ist demnach in asylerheblicher Weise gefährdet, wenn er nach Syrien zurückkehren müsste. Er müsste ernsthaft um sein Leben fürchten, weil man ihn für einen Gegner des Assad-Regimes halten würde. Zwar ist er - wie er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert hat - legal aus Syrien ausgereist, ihm war aber nicht erlaubt, nach Deutschland zu reisen, und den ihn ausgestellten Reisepass könnte er bei einer Einreise nicht vorweisen, weil dieser in Algier von Bordpersonal kassiert wurde. Es müsste ein Passersatzpapier ausgestellt werden, was allein die Aufmerksamkeit der syrischen Geheimdienste wecken würde (vgl. VG Kassel, Urteil vom 02.07.2013 - 5 K 200/13). Er hat sich länger als zu Besuchszwecken üblich im Ausland aufgehalten (vgl. zu dieser Abgrenzung VGH Mannheim, Beschluss vom 19.06.2013 (A11 S 927713). Er hat in Deutschland einen Asylantrag gestellt und sich mindestens einmal an einer von der syrischen Opposition organisierten Demonstration beteiligt, was durch Vorlage von Fotos belegt worden ist. Dieser Umstand und seine kurdische Volks- und yezidische Glaubenszugehörigkeit lassen ihn in besonderer Weise gefährdet erscheinen (vgl. VG Oldenburg, Urteil vom 18.04.2013 - 4 A 3481/12 - und den Zeitungsartikel im Göttinger Tageblatt vom 05.01.2013 „Massenflucht aus jesidischen Dörfern Syriens“).
Da die Klage mit dem Hauptantrag Erfolg hat, ist über die Hilfsanträge nicht zu entscheiden.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.