Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 18.09.2019, Az.: L 15 AS 200/19 B ER
Kosten für die Neuanschaffung eines Pkw als Förderungsleistung nach dem SGB II; Zurücklegen von Wegstrecken bis zu 10 km mit dem Fahrrad
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 18.09.2019
- Aktenzeichen
- L 15 AS 200/19 B ER
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2019, 41908
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Bremen - 15.07.2019 - AZ: S 42 AS 1290/19 ER
Rechtsgrundlage
- § 16f SGB II
Fundstellen
- ZfSH/SGB 2019, 661 (Pressemitteilung)
- info also 2020, 140
- info also 2020, 239
Redaktioneller Leitsatz
Erwachsenen Leistungsempfängern ist es auch nach 20 Uhr zumutbar, in den Herbst- und Wintermonaten ein- bis zweimal am Tag eine Wegstrecke von weniger als 10 km mit dem Fahrrad zurückzulegen, sofern diese an keinen gravierenden gesundheitlichen Problemen leiden.
Tenor:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Bremen vom 15. Juli 2019 wird zurückgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Bremen vom 15. Juli 2019 ist nicht begründet. Das SG hat es zu Recht abgelehnt, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, vorläufig die Kosten für die Neuanschaffung eines Pkw i.H.v. 4.500 EUR als Förderungsleistung nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II) zu übernehmen bzw. hilfsweise ein entsprechendes Darlehen zu gewähren.
Nach § 86b Abs. 2 S. 1 SGG kann das Gericht - soweit ein Fall nach Absatz 1 nicht vorliegt - auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Nach Satz 2 der Vorschrift sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile notwendig erscheint. Die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes setzt in diesem Zusammenhang einen Anordnungsanspruch, also einen materiell-rechtlichen Anspruch auf die Leistung, zu der der Antragsgegner im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes verpflichtet werden soll, sowie einen Anordnungsgrund, nämlich einen Sachverhalt, der die Eilbedürftigkeit der Anordnung begründet, voraus. Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund sind gemäß § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung (ZPO) i.V.m. § 86b Abs. 2 S. 4 SGG glaubhaft zu machen. Der G. geborene, in H. (I.) mit seiner Ehefrau in einer Mietwohnung wohnende Antragsteller absolviert seit August 2018 bei der Fa. J. in K. /L. eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann. Er erhält hierfür eine monatliche Vergütung i.H.v 628,19 EUR netto. Am 27. März 2019 stellte er bei dem Antragsgegner einen Antrag auf Förderung aus dem Vermittlungsbudget gem. § 16 Abs. 1 SGB II i.V.m. § 44 Sozialgesetzbuch Drittes Buch - Arbeitsförderung - (SGB III) bzw. auf eine freie Förderung nach § 16f. SGB II in Form der Gewährung eines Darlehens i.H.v. 4.500 EUR für den Ankauf eines seiner Tante gehörenden, ca. ein Jahr alten Pkw der Marke Skoda. Er benötige den Pkw, da er an den Tagen, in denen er im rotierenden Schichtmodell bis 20 Uhr oder bei Sonderaktionstagen (Late-Night- oder Moonlight-Shopping) gar bis 22 Uhr arbeiten müsse, nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln von K. nach H. gelangen könne. Der letzte Bus auf dieser Strecke fahre um 19 Uhr. Bislang habe ihm sein Vater seinen Pkw zur Verfügung gestellt. Dieser sei nun selbst auf das Fahrzeug angewiesen. Ein Fahrzeugkauf mithilfe eines Ratenkredites sei nicht möglich, da er ein Privatinsolvenzverfahren durchlaufe. Der Antragsgegner hat den Antrag mit Bescheid vom 8. April 2019 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. April 2019 abgelehnt (die hierauf erhobene Klage S 42 AS 103/19 ist bei dem SG Bremen noch anhängig). Zur Begründung hat er ausgeführt, eine Förderung aus dem Vermittlungsbudget scheitere daran, dass der Antragsteller bei der Antragstellung bereits im Ausbildungsverhältnis gestanden habe. Hinsichtlich einer freien Förderung nach § 16f SGB II, die im Ermessenswege auch zur Abwendung eines drohenden Arbeitsplatzverlustes möglich sei, habe der Antragsteller nicht dargelegt, dass er die erforderliche Mobilität nur mit einem Pkw erlangen könne. Sofern ab 20 Uhr kein Bus mehr von K. nach H. fahre, bestehe die Möglichkeit, mit dem Fahrrad oder mit Arbeitskollegen den 5,5 km entfernten Bahnhof M. zu erreichen und von dort auch zu später Stunde mit dem Zug nach N. zu gelangen. In Frage komme auch die Vereinbarung einer Abweichung von den Arbeitszeiten nach 18:30 Uhr bzw. von der Ausbildung im Schichtsystem mit dem Ausbildungsbetrieb. Am 8. Mai 2019 hat die bislang eine geringfügige Erwerbstätigkeit ausübende Ehefrau des Antragstellers dem Antragsgegner per E-Mail mitgeteilt, dass sie und der Antragsteller ab Juli 2019 auf SGB II-Leistungen verzichten, da auch sie eine Ausbildung beginnen werde. Ab dem 1. September 2019 erhält der Antragsteller von dem Antragsgegner wieder vorläufig Arbeitslosengeld II. Der Antragsgegner hat ihn aufgefordert, bei der Bundesagentur für Arbeit einen Antrag auf Leistungen der Ausbildungsförderung zu beantragen. Hinsichtlich der von ihm begehrten Förderungsleistung hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch nicht glaubhaft gemacht. Ein solcher Anspruch ergibt sich, unabhängig davon, dass seine Ehefrau nach Beantragung der streitgegenständlichen Förderung für die Bedarfsgemeinschaft auf SGB II-Leistungen verzichtet hat, weder aus § 16 Abs. 1 S. 2 SGB II i.V.m. § 44 SGB III (vgl. hierzu Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 27. Mai 2019 - L 15 AS 74/19 B ER -: zumutbar ist eine mehrmals täglich mit dem Fahrrad zurückzulegende Fahrtstrecke von 5,84 km bzw. nötigenfalls auch von 8,7 km) noch aus § 16f Abs. 1 SGB II (vgl. hierzu LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13. Mai 2015 - L 11 AS 676/15 B ER - juris). In beiden Fällen hat der Antragsgegner, sofern die beantragte Förderung den Zielen und Grundsätzen des SGB II entspricht und ein hierdurch zu erzielender Verbleib des Antragstellers in der Ausbildung mit hinreichender Sicherheit prognostiziert werden kann, sowohl über das "Ob" als auch über das "Wie" der Leistung eine Ermessensentscheidung zu treffen (vgl. Stölting in: Eicher/Luik, SGB II, 4. Auflage 2017, § 16f Rn. 14). Der Erlass einer dem Begehren auf vorläufige Gewährung der Förderungsleistung stattgebenden einstweiligen Anordnung ist insofern nur dann zulässig, wenn eine sog. Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (vgl. Keller in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 12. Auflage 2017, § 86b Rn. 30a). Hiervon ist vorliegend nicht auszugehen. Stichhaltige Gesichtspunkte dafür, dass nur die Gewährung eines Zuschusses zum Ankauf eines Pkw bzw. die Gewährung eines hierzu dienenden Darlehens den Erhalt des Ausbildungsplatzes des Antragstellers sichert, sind gegenwärtig nicht ersichtlich. Zutreffend hat bereits der Antragsgegner darauf verwiesen, dass es dem Antragsteller durchaus möglich und zumutbar ist, an den Tagen, an denen er bis 20 Uhr oder in Einzelfällen sogar bis 22 Uhr arbeiten muss, die 5,5 km betragende Fahrtstrecke auf dem Radweg entlang der N. von seiner Ausbildungsstelle in K. zum Bahnhof in M., von dem eine umfassende Nahverkehrsanbindung nach H. im Stundentakt und mit einer Fahrtzeit von lediglich 19 Minuten auch in den Abend- und Nachtstunden besteht, mit dem Fahrrad zurückzulegen. Gründe, die der Bewältigung einer solchen, keine nennenswerten Steigungen und Gefahren aufweisenden Strecke entgegenstehen könnten, hat der Antragsteller nicht vorgetragen. Soweit er in der Beschwerdebegründung die Ansicht vertritt, Empfänger von SGB II-Leistungen könnten generell in zumutbarer Weise lediglich auf die Benutzung des öffentlichen Nachverkehr verwiesen werden, so folgt der Senat dem nicht. Auch in den Wintermonaten und nach 20 Uhr ist es erwachsenen Leistungsempfängern, die wie der Antragsteller nicht an gravierenden gesundheitlichen Problemen leiden, möglich und zumutbar, auch in den Herbst- und Wintermonaten ein- bis zweimal am Tag eine Wegstrecke von weniger als 10 km mit dem Fahrrad zurückzulegen (die Zumutbarkeit für den Fall dauerhaft viermal täglich erforderlicher Fahrten verneinend: LSG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 23. April 2018 - L 4 AS 609/14 -, juris Rn. 33). Die Kostenentscheidung beruht auf entsprechender Anwendung des § 193 SGG. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).