Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 21.01.2004, Az.: 6 B 2757/03
Bibliographie
- Gericht
- VG Oldenburg
- Datum
- 21.01.2004
- Aktenzeichen
- 6 B 2757/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2004, 43472
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGOLDBG:2004:0121.6B2757.03.0A
Amtlicher Leitsatz
Ohne eine Änderung der Sach- und Rechtslage ist die Anordnung des Sofortvollzugs in einem Beschwerdebescheid über eine Entlassungsverfügung nach § 55 Abs. 5 SG, gegen die die aufschiebende Wirkung der Beschwerde durch das Verwaltungsgericht angeordnet wurde, nicht statthaft.
Gründe
I.
Der Antragsteller wendet sich gegen seine fristlose Entlassung aus dem Dienst der Bundeswehr.
Der im ......................... geborene Antragsteller trat zum 1. Oktober 1999 in den Dienst der Bundeswehr ein und wurde später in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit übernommen, wobei als Dienstzeitende (Verpflichtungszeit 4 Jahre) der 30. September 2003 bestimmt wurde. Am Freitag, den 23. Mai 2003, versah der Antragsteller Dienst auf der Fregatte "...................." und er bemalte dort abends während seiner Freiwache in betrunkenem Zustand einem gleichrangigen Soldaten, der während seiner Freiwache in seiner Schiffskoje lag, mit einem Filzschreiber das Gesicht und teilweise den Nacken und die Arme. Die Gegenwehr und heftigen Proteste des anderen Obermaates wurden vom Antragsteller und einem anderen Soldaten dadurch unterdrückt, dass sie den Obermaat A. in der engen Koje an Armen und Beinen festhielten, so dass er sich nicht bewegen konnte. Der Vorgang dauerte etwa 10 Minuten.
Wegen dieses Vorfalls wurde der Antragsteller mit Bescheid der Stammdienststelle der Marine vom 10. Juni 2003 mit Ablauf des 13. Juni 2003 entlassen. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass der Antragsteller in verschiedener Hinsicht seine Dienstpflichten verletzt habe, insbesondere gegen grundlegende Pflichten und Werte des kameradschaftlichen Zusammenlebens und achtungswürdigen Verhaltens in der Bundeswehr im Allgemeinen und an Bord von seegehenden Einheiten im Besonderen verstoßen habe. Daher würde sein Verbleib in der Bundeswehr deren militärische Ordnung und Ansehen in der Öffentlichkeit ernstlich gefährden. Gegen diese Verfügung legte der Antragsteller am 12. Juni 2003 Beschwerde ein und wandte sich zugleich an das Verwaltungsgericht mit der Bitte um Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes. Mit Beschluss vom 1. Juli 2003 (Az: 6 B 2087/03) ordnete die Kammer die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen diese Entlassungsverfügung an. Zur Begründung wurde in diesem Beschluss u.a. ausgeführt, dass der Verbleib des Antragstellers im Dienst die militärische Ordnung der Bundeswehr nicht ernstlich gefährde, da eine Wiederholungsgefahr nicht bestehe und die Dienstpflichtverletzung nicht so schwerwiegend gewesen sei, als dass ihr nicht auch ohne eine andere Disziplinarmaßnahme als milderes Mittel begegnet werden könne. Auch erscheine eine Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr als nicht ernstlich gegeben, weil die Öffentlichkeit bei derartigen Disziplinlosigkeiten eine sofortige Entlassung erwarten würde.
Mit Beschwerdebescheid vom 22. Juli 2003 wies die Antragsgegnerin die Beschwerde des Antragstellers gegen die Entlassungsverfügung als unbegründet zurück und ordnete zugleich die sofortige Vollziehung an. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die Befürchtung bestehe, er werde wiederholt vergleichbare Dienstpflichtverletzungen begehen. Denn durch eine alkoholbedingte Enthemmung ausgelöste Exzesse könnten künftig wieder auftreten, wofür auch die in den Einlassungen des Antragstellers zum Ausdruck kommende verharmlosende Einstufung dieses Verhaltens als Scherz spreche. Auch sei die Misshandlung von Kameraden - wie im vorliegenden Falle - wie kein anderes Dienstvergehen geeignet, den Zusammenhalt der Truppe zu beeinträchtigen, so dass die fristlose Entlassung das geeignete Mittel sei, um solchen Disziplinlosigkeiten zu begegnen. Die militärische Ordnung sei durch den Vorfall dadurch ernstlich gefährdet worden, dass sowohl die Vorgesetzten als auch die Untergebenen des Antragstellers das Vertrauen in ihn verloren hätten. Denn der Vertrauensverlust führe dazu, eigentlich vorgesehene Aufgaben auf andere zu verlagern, die dadurch über Gebühr belastet und möglicherweise Fehler bei der Aufgabenerfüllung begehen würden. Ein milderes Mittel zur Ahndung des Fehlverhaltens des Antragstellers, etwa durch Disziplinarmaßnahmen, habe nicht wirksam zur Verfügung gestanden. Für eine Affekthandlung seinerseits bestünden keine Anhaltspunkte und vor Ablauf seiner regulären Dienstzeit zum 30. September 2003 wäre mit einer abschließenden Durchführung des Disziplinarverfahrens nicht zu rechnen gewesen. Die sofortige Vollziehung der Entlassungsverfügung sei im öffentlichen Interesse deswegen dringend geboten, weil es mit dem Verteidigungsauftrag der Bundeswehr nicht vereinbar sei, einen Soldaten auf Zeit und Vorgesetzten, dessen Verbleib im Dienstverhältnis die militärische Ordnung ernstlich gefährden würde, auch nur vorübergehend in der Bundeswehr zu belassen. Potentielle Nachahmungstäter müssten abgeschreckt werden, um den inneren Zusammenhalt der Truppe nicht zu beeinträchtigen. Das persönliche Interesse des Antragstellers müsse demgegenüber zurücktreten, weil er keinen dauernden Nachteil erleiden würde, falls das verwaltungsgerichtliche Verfahren zu seinen Gunsten ausgehen sollte. Denn er würde im Falle des Obsiegens so gestellt, als ob seine Entlassung nicht verfügt worden wäre.
Dagegen hat der Antragsteller am 28. Juli 2003 Klage erhoben, über die noch nicht entschieden wurde (Az: 6 A 2756/03). Zugleich hat er bei Gericht erneut um die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nachgesucht. Er macht geltend, dass die Entlassungsverfügung in der Sache nicht gerechtfertigt sei, weil es an einer ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung oder des Ansehens der Bundeswehr fehle. Darüber hinaus beschränke sich die gegebene Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung auf formelhafte Wendungen ohne Eingehen auf den konkreten Einzelfall.
Die Antragsgegnerin ist dem Begehren entgegengetreten und vertritt die Auffassung, dass durch den Erlass ihres Beschwerdebescheides vom 22. Juli 2003 der Streitgegenstand der ursprünglichen Entlassungsverfügung eine Veränderung erfahren habe, die es rechtfertige, dass sie erneut die sofortige Vollziehung entgegen dem Beschluss der Kammer vom 1. Juli 2003 anordnen dürfe. Hilfsweise beantrage sie nach § 80 Abs. 7 VwGO den Beschluss des Gerichts vom 1. Juli 2003 abzuändern und den Antrag des Antragstellers auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen. Denn in der Sache bestehe ohne die sofortige Entlassung des Antragstellers die Gefahr, dass bei den Soldaten seiner Einheit der Eindruck erweckt werde, die körperliche Misshandlung von Kameraden würde als sozialadäquates Verhalten innerhalb der Marine geduldet werden. Wenn ein Kamerad unter Anwendung körperlicher Gewalt gegen seinen Willen ca. 10 Minuten festgehalten und mit einem Filzschreiber angemalt werde, so erfülle dies den strafrechtlichen Tatbestand der Nötigung und der Körperverletzung und könne nicht mehr als derber Scherz unter Seeleuten angesehen werden. Angesichts der Schwere dieses Dienstvergehens hätte ein sonst einzuleitendes gerichtliches Disziplinarverfahren nach §§ 58 ff der Wehrdisziplinarordnung wahrscheinlich erst nach Ablauf der regulären Dienstzeit des Antragstellers zu einer abschließenden Entscheidung geführt, so dass zur Abwendung der Gefahr für die militärische Ordnung die sofortige Entlassung des Antragstellers geboten gewesen sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, der Gerichtsakte zum Aktenzeichen 6 B 2887/03 und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin ergänzend Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag zur Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat Erfolg.
Das Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers ist nicht dadurch entfallen, dass seine reguläre Dienstzeit mit dem Ablauf des 30. September 2003 endete. Zwar hat er nach diesem Tag nunmehr keinen Anspruch darauf, in den Dienst zurückzukehren und bei der Bundeswehr tätig zu sein. Indessen entfaltet die in Streit stehende sofortige Entlassung aus dem Dienst der Bundeswehr nach § 55 Abs. 5 SG gegenwärtig für den Antragsteller noch in dieser Form besondere Folgen, so dass der Vollzug der Entlassung für den Antragsteller noch nachteilige Wirkungen zeitigt. Denn gemäß § 56 Abs. 3 SG verliert der Soldat sonst durch die Entlassung seinen Anspruch auf Dienstbezüge und Versorgung. Zur Versorgung gehören aber auch die Maßnahmen der Berufsförderung und Dienstzeitversorgung der Soldaten auf Zeit, wie sie sonst gemäß § 3 SVG denjenigen Soldaten auf Zeit gewährt werden, die ohne vorzeitige Entlassung ihr Dienstzeitende erreichen. Auch kann - entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin - nicht davon ausgegangen werden, dem Antragsteller werde durch ein Hauptsacheverfahren ausreichender effektiver Rechtsschutz zur Seite gestellt. Denn bei der zu erwartenden Dauer eines Hauptsacheverfahrens von mehreren Jahren wären die dann später dem Antragsteller zu gewährenden Berufsförderungsmaßnahmen oder Dienstzeitversorgungsgelder - sein Obsiegen im Hauptsacheverfahren unterstellt - praktisch sinnlos. Denn die Berufsförderung und Dienstzeitversorgung stellt gerade darauf ab, zeitnah dem jungen Soldaten den Übergang ins normale Berufsleben zu erleichtern und ihn nach der mehrjährigen Dienstzeit in das zivile Leben einzugliedern. Dieser Erfolg kann durch Geldleistungen Jahre später nicht mehr erreicht werden.
Die Antragsgegnerin war nicht befugt, mit ihrem Beschwerdebescheid vom 22. Juli 2003 die sofortige Vollziehung dieses Bescheides bzw. der Entlassungsverfügung anzuordnen. Denn dem steht die Bindungswirkung des Beschlusses der Kammer vom 1. Juli 2003 (Az: 6 B 2087/03) entgegen, mit dem die aufschiebende Wirkung der Beschwerde des Antragstellers gegen die Entlassungsverfügung angeordnet wurde. Allein wegen der Nichtbeachtung der Bindungswirkung dieses Gerichtsbeschlusses ist die aufschiebende Wirkung von Beschwerde und Klage wieder herzustellen bzw. ist festzustellen, dass insoweit eine aufschiebende Wirkung weiterhin besteht. Denn es ist in Rechtsprechung und Lehre anerkannt, dass ohne eine inhaltliche Änderung des betreffenden Verwaltungsaktes die Behörde daran gehindert ist, erneut seine sofortige Vollziehung anzuordnen, wenn zuvor das Gericht seine Vollziehung ausgesetzt hat (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., § 80 Rdn. 172 und § 121 Rdn. 4 m.w.N.; OVG Lüneburg, Beschluss vom 22. Juli 2003 - 7 ME 104/03 - zit. nach der homepage). Im vorliegenden Fall hat die Antragsgegnerin nichts anderes gemacht, als mit der Anordnung der sofortigen Vollziehung im Beschwerdebescheid wieder die Situation herzustellen, wie sie vor dem Beschluss des Gerichts vom 1. Juli 2003 bestand. Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin kann auch nicht davon ausgegangen werden, ein neuer Streitgegenstand sei durch die Beschwerdeentscheidung gegeben. In der Beschwerdeentscheidung werden lediglich die Umstände, die bereits Gegenstand des Beschlusses der Kammer vom 1. Juli 2003 waren, anders gewichtet und bewertet. Weder sind im Sachverhalt neue Erkenntnisse gewonnen worden noch sind in rechtlicher Hinsicht irgendwelche Änderungen eingetreten. Allein der Umstand, dass die Antragsgegnerin durch den Beschluss des Gerichts vom 1. Juli 2003 nicht überzeugt wurde, führt nicht zur Annahme eines neuen Streitgegenstandes.
Selbst wenn man zugunsten der Antragsgegnerin annimmt, sie habe durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung und ihrer Gegenerklärung im vorliegenden Verfahren einen Antrag auf Änderung des Beschlusses der Kammer vom 1. Juli 2003 nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO stellen wollen, ergibt sich keine andere Beurteilung. Denn veränderte oder im ursprünglichen Verfahren nicht geltend gemachte Umstände im Sinne dieser Vorschrift sind weder vorgetragen noch ersichtlich.
Auch bei einer erneuten Überprüfung von Amts wegen besteht für die Kammer kein Anlass, vom Beschluss vom 1. Juli 2003 abzurücken. Nicht jedes Dienstvergehen eines Zeitsoldaten, bei dem Kameraden beeinträchtigt werden, führt zur Annahme einer ernstlichen Gefährdung der militärischen Ordnung oder des Ansehens der Bundeswehr. Im vorliegenden Falle hat die Kammer im Beschluss vom 1. Juli 2003 die Ernstlichkeit der Gefährdung verneint. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf diesen den Beteiligten bekannten Beschluss verwiesen. Soweit nunmehr erstmals im Beschwerdebescheid vom 22. Juli 2003 ausgeführt wird, der Gefährdung der militärischen Ordnung hätte durch eine disziplinare Ahndung nicht wirksam begegnet werden können, weil das Disziplinarverfahren nicht vor Ablauf der regulären Dienstzeit hätte abgeschlossen werden können, überzeugt dies nicht. Denn die disziplinare Entscheidung über den Vorfall vom 23. Mai 2003 wurde bis zur Entscheidung über das Entlassungsverfahren ausgesetzt (vgl. Bl. 27 Beiakte A); auch hätten in den verbleibenden etwa 4 Monaten der Dienstzeit des Antragstellers ohne weiteres einfache Disziplinarmaßnahmen nach §§ 22 ff WDO ergriffen werden können.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. ...