Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 11.11.2008, Az.: 2 A 62/07
Ausbildungsförderung; Ausbildungsstätte, zumutbare; Wohnung der Eltern
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 11.11.2008
- Aktenzeichen
- 2 A 62/07
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2008, 45339
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2008:1111.2A62.07.0A
Rechtsgrundlagen
- 12 II 2 BAföG
- 2 Ia 1 BAföG
- 2 Ia 2 BAföG
Amtlicher Leitsatz
Soziale Gründe sind im Rahmen des § 2 Abs. 1a Satz 1 BAföG zu berücksichtigen, wenn sie den Ausbildungerfolg gefährden.
Tatbestand:
Die am ... geborene Klägerin begehrt vom Beklagten höhere Ausbildungsförderungsleistungen.
Sie begann am 5. November 2004 eine dreijährige Ausbildung zur Medizinisch-Technischen-Radiologieassistentin am Universitätsklinikum in E.. Seinerzeit lebte sie mit ihrer Mutter und weiteren sechs Geschwistern im Landkreis G.. Die Klägerin ist das älteste der Geschwister, das Jüngste, wie ein weiteres aus der zweiten Ehe der Mutter stammendes Kind, ist im Dezember 1999 geboren. Ihr von ihrer Mutter geschiedener Vater lebte ebenfalls im Landkreis G.. Die Klägerin erhielt vom Landkreis G. zunächst für diese Ausbildung Ausbildungsförderungsleistungen unter Zugrundelegung eines Grundbedarfs in Höhe von 348,00 Euro.
Bereits im Jahre 2005 machten sich bei der Klägerin psychische Probleme bemerkbar, deren Ursachen sie sich zunächst nicht erklären konnte; sie begab sich in psychiatrische Behandlung zunächst bei Frau H. von der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Georg-August-Universität E.. In der Zeit von Juni bis Dezember 2006 war sie infolge ihrer Erkrankung stationär in Heiligenhafen untergebracht. Seit Anfang 2007 wird sie vom sachverständigen Zeugen I. psychiatrisch betreut. Wegen dieser Erkrankung musste die Klägerin ihre Ausbildung unterbrechen und nahm sie erst am 8. Januar 2007 wieder auf. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und Anhörung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung steht unbestritten und zur Überzeugung des Gerichts folgendes fest:
Die Klägerin leidet an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit psychosenahen bis psychotischen Zuständen. Ursache hierfür sind sexuelle Misshandlungen sowohl durch den leiblichen Vater als auch durch den zweiten Ehemann der Mutter der Klägerin beginnend mit dem zweiten Lebensjahr der Klägerin. Die Klägerin litt, was die Vergewaltigungserlebnisse betrifft unter Amnesie. Ohne genau zu wissen warum, versuchte sie die innerlich empfundenen Defizite durch dissoziales Verhalten zu kompensieren. Dieser Verdrängungsmechanismus erklärt, weshalb sie zunächst eine Ursache für ihre psychischen Beschwerden, insbesondere Depressionen nicht zu finden vermochte. Die Mutter der Klägerin wusste von den Misshandlungen ihrer Tochter, unternahm dagegen indes nichts. Vielmehr betrachtete sie, die in ihrer Kindheit ein ähnliches Schicksal hatte, ihre Tochter als Konkurrentin in ihren Beziehungen zu Männern und setzte sie gegenüber den übrigen Geschwistern stets herab. Die Mutter der Klägerin ist zu regelmäßigen und verlässlichen Interaktionsmustern im Verhältnis zu ihren Kindern nicht in der Lage und selbst depressiv.
Im April 2006 verließ die Mutter der Klägerin ihre Familie und verzog nach J., um dort mit einem männlichen Bekannten zusammen zu leben, den sie über das Internet kennen gelernt hatte. Die Klägerin brachte ihre jüngste Schwester der Mutter hinterher, nachdem sie deren Aufenthaltsort erfahren hatte und forderte ihre Mutter auf, das Kind bei sich aufzunehmen; die Übrigen noch minderjährigen Kinder wurden bei einer volljährigen Schwester der Klägerin untergebracht. Die Mutter lebt mit der kleinen Schwester der Klägerin in J. in einer Zwei-Zimmer-Wohnung.
Von der Wohnung der Mutter aus ist in zumutbarer Entfernung eine der von der Klägerin in E. besuchte vergleichbare Ausbildungsstelle zu erreichen.
Nachdem die Klägerin ihre Ausbildung wieder aufgenommen hatte, beantragte sie beim Beklagten Ausbildungsförderungsleistungen.
Mit Bescheid vom 28. Februar 2007 bewilligte der Beklagte der Klägerin für den Bewilligungszeitraum Januar bis Dezember 2007 monatliche Leistungen in Höhe von 178,00 Euro. Dem lag ein Grundbedarf von 192,00 Euro zugrunde.
Am 28. März 2007 hat die Klägerin zunächst einen Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt und am 5. Februar 2008 nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe durch Beschluss vom 28. Januar 2008 sodann gegen den Bescheid vom 28. Februar 2007 Klage erhoben.
Zu deren Begründung macht sie im Wesentlichen geltend, sie könne ausbildungsförderungsrechtlich nicht auf die Wohnung ihrer Mutter verwiesen werden. Dies sei ihr in Anbetracht ihrer Lebensgeschichte und ihrer Erkrankung nicht zuzumuten. Sie verweist auf zwei ärztliche Atteste des sachverständigen Zeugen Dr. I.. In der ärztlichen Bescheinigung der Ausbildungsfähigkeit vom 13. Februar 2007 führt der Zeuge aus, er unterstütze den Wunsch der Klägerin, zunächst ihre Ausbildung in E. fortsetzen zu können, um durch einen Wohn- und Arbeitsortwechsel keine Belastungen hervorzurufen, die zu einer Verschlechterung des psychischen Befindens der Klägerin beitragen könnten. In der ärztlichen Bescheinigung vom 12. November 2007 heißt es, es sei aufgrund einer psychischen Erkrankung, die einer Fortführung einer Behandlung bedarf, abzuraten, an der aktuellen beruflichen Situation Änderungen vorzunehmen. Um einer Gefährdung der Berufsfähigkeit momentan keinen Vorschub zu leisten, wäre ein Arbeitsplatzwechsel in der jetzigen Lage unvorteilhaft.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter entsprechender Aufhebung seines Bescheides vom 28. Februar 2007 zu verpflichten, der Klägerin im Bewilligungszeitraum Januar 2007 bis Dezember 2007 weitere 156,00 Euro monatliche Ausbildungsförderung zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Berufung zuzulassen.
Er ist der Ansicht, die Klägerin müsse sich ausbildungsförderungsrechtlich auf die Wohnung ihrer Mutter in J. verweisen lassen, von der aus in angemessener Zeit eine ihrer E. Ausbildungsstelle vergleichbare zu erreichen sei. Soziale Gründe wie sie die Klägerin geltend mache, seien für die Anwendung des § 12 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. § 2 Abs. 1a Satz 1 BAföG unbeachtlich. Eine Verordnung nach § 2 Abs. 1a Satz 2 BAföG, die gedacht sei, Fälle wie den der Klägerin zu regeln, existiere nicht.
Das Gericht hat zu der Erkrankung der Klägerin und ihren Ursachen Beweis erhoben durch Vernehmung des Dr. med. K.I. als sachverständigen Zeugen. Es hat zudem die Klägerin informatorisch angehört. Wegen der Aussagen im Einzelnen wird auf die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet.
Die Klägerin hat gegen den Beklagten Anspruch darauf, dass er ihr im Bewilligungszeitraum Januar bis Dezember 2007 Ausbildungsförderung unter Berücksichtigung eines Grundbedarfs in Höhe von 348,00 Euro, d.h. im Umfang von monatlich weiteren 156,00 Euro gewährt (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Daneben besteht ein nicht klagegegenständlicher Anspruch auf Zuschuss zu den Mietkosten in Höhe von maximal monatlich 64,00 Euro.
Der Anspruch ergibt sich aus § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 BAföG. Die Klägerin besucht eine dreijährige Berufsfachschule, deren Besuch eine abgeschlossene Berufsausbildung nicht voraussetzt und wohnt nicht bei ihren Eltern. Der Anspruch ist nicht nach § 2 Abs. 1a Satz 1 BAföG ausgeschlossen.
Gemäß § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1a Nr. 1 BAföG wird Ausbildungsförderung mit dem erhöhten Bedarf nur geleistet, wenn der Auszubildende, wie die Klägerin, nicht bei seinen Eltern wohnt und von der Wohnung der Eltern aus eine entsprechende zumutbare Ausbildungsstelle nicht erreichbar ist. Insofern kommt es entscheidungserheblich darauf an, ob von der Wohnung der Mutter aus eine solche Erreichbarkeit für die Klägerin gegeben ist. Tatsächlich ist dies nach den substantiiert nicht angegriffenen Feststellungen des Beklagten der Fall. Indes ist die Ausbildungsstelle in J. nicht zumutbar in diesem Sinne.
Das Gesetz knüpft in § 2 Abs. 1a Nr. 1 BAföG als Ausgangspunkt für die hier maßgebende Regelung an den typischen Lebenssachverhalt an, dass die Eltern ihren Kindern regelmäßig in den Räumen, die ihnen selbst als Wohnung zur Verfügung stehen, im Wege des Naturalunterhalts Unterkunft gewähren. Ein derart typischer Lebenssachverhalt liegt indes nicht vor, wenn entweder die Eltern oder das Ausbildungsförderung begehrende Kind aus zwingenden persönlichen Gründen nicht mehr die Möglichkeit haben, über ihre Wohnverhältnisse frei zu bestimmen. Dies ist regelmäßig der Fall bei einem Aufenthalt in einem Pflegeheim oder einer vergleichbaren Lage, aber auch dann, wenn das Wohnen des Auszubildenden bei seinen Eltern an anderen rechtlichen Hindernissen scheitert ( BVerwG, Urteil vom 27.2.1992 -5 C 68/88 -, NVwZ 1992, 887, 888 = FamRZ 1992, 1360). Eine lediglich fehlende Eltern-Kind-Beziehung, beengte Wohnverhältnisse oder andere schwerwiegende soziale Gründe machen den Verweis auf die Wohnung der Eltern im ausbildungsförderungsrechtlichen Sinne nicht unzumutbar, wie sich aus der - nicht ausgeschöpften - Verordnungsermächtigung in § 2 Abs. 1a Satz 2 BAföG ergibt (vgl. neben der zitierten Entscheidung auch OVG Lüneburg, Beschluss vom 24.09.1998 -10 O 3624/98 -, Beschluss vom 17.6.2008-4 PA 750/07 -). Der Sinn der gesetzlichen Regelung besteht darin, sicherzustellen, dass erhöhte Förderungsleistungen nur dann erbracht werden, wenn der Auszubildende ausschließlich aus Gründen, die in einem wesensmäßigen Zusammenhang mit der Ausbildung selbst stehen, außerhalb der elterlichen Wohnung untergebracht ist BVerwG, Urteil vom 12.6.1986 -5 C 48.84 -, FamRZ 1986, 1157). So hat das Gericht bereits früher ausgeurteilt, dass der Besuch einer Ausbildungsstelle von der Wohnung der Eltern aus dann nicht zumutbar ist, wenn der Wechsel der Ausbildungsstelle mit einer wesentlichen Beeinträchtigung der Ausbildung selbst verbunden wäre. Eine wesentliche Beeinträchtigung der Ausbildung kann dann angenommen werden, wenn durch den Wechsel der Ausbildungsstätte das Erreichen des Ausbildungszieles gefährdet erscheint ( BVerwG, Urteil vom 14.12.1978 -V C 49/77 -, FamRZ 1979, 540). Die Kammer hat mit nicht rechtskräftigem Urteil vom 22. Januar 2007 (2 A 58/06) eine solche Situation im Fall einer Auszubildenden angenommen, die aufgrund der vom Vater erfahrenen, religiös und traditionell bedingten Behandlung in erheblicher Weise traumatisiert und deswegen in psychiatrischer Behandlung war. Der Verweis auf die elterliche Wohnung ist auch dann unzumutbar, wenn soziale Gründe (wie eine schwere psychische Erkrankung) auf die Ausbildung in dem Sinne durchschlagen, dass diese im Falle eines Umzugs zu einem Elternteil gefährdet erscheint. Soweit soziale Gründe in diesem Sinne ausbildungsrelevant sind, ist deren Berücksichtigung nicht durch die in § 2 Abs. 1a BAföG enthaltene, aber bisher nicht ausgefüllte, Ermächtigung zum Erlass einer Rechtsverordnung ausgeschlossen. Würde eine derartige Auslegung nicht vorgenommen und an der vom Gesetzgeber vorgegebenen und vom Bundesverwaltungsgericht in ständiger Rechtsprechung weitgehend gebilligten Typisierung auch bei Vorliegen solcher sozialen Gründe festgehalten, die auf die Ausbildung durchschlagen, würde der Auszubildende zum bloßen Objekt staatlichen Handelns. Dies entspricht verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht.
Nach Auswertung der von der Klägerin vorgelegten ärztlichen Atteste und Würdigung der Zeugenaussage sowie der Einlassungen der Klägerin selbst in der mündlichen Verhandlung, wäre ihre Ausbildung im Falle eines Umzugs nach J. hochgradig gefährdet. Das Gericht geht sogar davon aus, dass sie dort zum Scheitern verurteilt wäre.
So steht ausweislich des ärztlichen Attestes des sachverständigen Zeugen Dr. med. I. vom 13. Februar 2007 die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit der Klägerin Anfang 2007 in untrennbarem Zusammenhang mit einer Ausbildung in E.. Ein Wechsel des Wohn- und Arbeitsortes würde eine Verschlechterung des Befindens der Klägerin bedeuten. Hieraus lässt sich in Anbetracht der Krankheitsgeschichte der Klägerin nur der Schluss ziehen, dass sie wieder arbeitsunfähig erkranken würde. Nicht nur weil sie bei einem Umzug nach J. mit ihrer Mutter zusammenleben müsste, die ersichtlich einen erheblichen Anteil an den psychischen Beeinträchtigungen der Klägerin hat, sondern auch deshalb, weil die in E. mit Erfolg unternommene Behandlung abgebrochen werden müsste. Auch in seiner ärztlichen Bescheinigung vom 12. November 2007 führte der sachverständige Zeuge aus, eine Änderung der beruflichen Situation würde einer Berufsunfähigkeit der Klägerin Vorschub leisten. Diese Atteste hat der Zeuge im Rahmen seiner Befragung inhaltlich fundiert untermauert. Aus seiner medizinischen Fachsicht, sollte die Klägerin aus dieser Situation nicht herausgenommen werden. Die Befragung der Klägerin selbst hat dasselbe Ergebnis erbracht. Ihr erscheint ein Wohnen bei ihrer Mutter unvorstellbar, einem Menschen, der ihr gegenüber nie die Mutterrolle ausgefüllt und zudem tatenlos mit zugesehen hat, wie ihr in jungen Jahren größtes Unrecht angetan worden ist. Ein Wohnen bei der Mutter bedeutete für die Klägerin eine permanente Erinnerung an die kindheitlichen Traumata; die Auswirkungen auf die Ausbildung der Klägerin liegen auf der Hand und bedürfen keiner weiteren Ausführungen.
Findet damit § 12 Abs. 2 Nr. 1 BAföG auf die Klägerin Anwendung, hat sie auch einen Anspruch auf Übernahme der Mietkosten nach § 12 Abs. 3 BAföG bis zu einem Betrag von 64,00 Euro monatlich. Da dieser vom Klageantrag nicht umfasst ist (§ 88 VwGO), kann der Beklagte allerdings nicht entsprechend verpflichtet werden. Insoweit bietet sich für die Klägerin ein Antrag nach § 44 SGB X an.
Die Berufung ist nicht zuzulassen, weil die Voraussetzungen des § 124 Abs. 2 Nr. 3 und 4 VwGO nicht vorliegen. Das Gericht wendet in diesem Einzelfall die vom Bundesverwaltungsgericht zu § 2 Abs. 1a BAföG entwickelten Anwendungskriterien an. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch weicht das Gericht von der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts oder des Bundesverwaltungsgerichts ab.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.