Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 16.06.2010, Az.: 3 K 532/08
Anspruch eines deutschen Staatsangehörigen auf Kindergeld nach dem deutsch-türkischen Abkommen über soziale Sicherheit (SozSichAbk Türkei) für ein sich in der Türkei gewöhnlich aufhaltendes oder dort wohnhaftes Kind; Fortbestand des bisherigen Wohnsitzes bei Verlasseen des bisherigen Wohnsitzes zwecks Ausübung eines Studiums, Berufsausbildung oder zwecks Besuches einer Schule
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 16.06.2010
- Aktenzeichen
- 3 K 532/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 23167
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2010:0616.3K532.08.0A
Rechtsgrundlagen
- § 62 ff. EStG
- § 19 Abs. 1 S. 2 AO
- Art. 33 Abs. 2 SozSichAbk Türkei
Fundstelle
- EFG 2010, 1798-1799
Amtlicher Leitsatz
Ein deutscher Staatsangehöriger hat keinen Anspruch auf Kindergeld nach dem deutsch-türkischen Abkommen über soziale Sicherheit für ein sich in der Türkei gewöhnlich aufhaltendes oder dort wohnhaftes Kind
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für die Tochter der Klägerin für den Zeitraum August 2004 bis Juli 2006 (24 Monate) und für den Sohn der Klägerin für den Zeitraum August 2003 bis August 2007 (49 Monate) zu Recht aufgehoben hat und ob die Klägerin für den Zeitraum September 2007 bis Mai 2008 einen Anspruch auf Kindergeld für beide Kinder hatte.
Die Klägerin ist die Mutter einer Tochter, E1, und eines Sohnes E2. Der Klägerin und ihrem Ehemann sowie beiden Kindern wurde im Jahre 2001 die deutsche Staatsangehörigkeit verliehen. Nach Meldebescheinigungen der Stadt S sind beide Kinder jedenfalls seit Februar 2001 ununterbrochen ordnungsbehördlich in S gemeldet. In der Zeit von 1991 bis 15. Mai 2008 ist die Klägerin einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung mit einem Bruttogehalt von zuletzt etwa 440 EUR nachgegangen.
E2 besuchte bis Juli 2003 das Gymnasium S. Am 1. September 2003 setzte er die Schulausbildung an einer Privatschule in A (Türkei) fort. Nachdem er einen Versuch zur Notenverbesserung unternommen hatte, verließ er die Schule im Januar 2009. Während der Schulausbildung in A (Türkei) wohnte der Sohn der Klägerin bei seiner Großmutter in A (Türkei).
Die Tochter E1 besuchte bis Juli 2004 das Gymnasium in S und in der Zeit von September 2004 bis Juli 2006 die Privatschule in A (Türkei). Seit September 2006 ist E1 an der Universität I (Türkei) als Studentin eingeschrieben. In A wohnte die Tochter der Klägerin bei der Großmutter, nunmehr bewohnt sie ein Zimmer in einem Studentenwohnheim in I (Türkei).
Für beide Kinder wurde in der gesamten Zeit im Haushalt der Klägerin weiterhin jeweils ein Zimmer vorgehalten.
Die Klägerin beantragte im Juli 2007 die fortgesetzte Zahlung von Kindergeld für ihren inzwischen volljährig gewordenen Sohn und teilte im Antragsverfahren mit, dass dieser sich zur Schulausbildung in der Türkei aufhalte. Auf Nachfrage der Beklagten gab sie an, dass sich auch die Tochter in der Türkei befinde. Die Klägerin führte ferner aus, im Betrieb ihres Ehemannes gearbeitet zu haben, reichte aber zunächst trotz Aufforderung durch die Beklagte keine Nachweise über die gezahlten Arbeitgeberbeiträge zur Bundesagentur für Arbeit ein.
Daraufhin hob die Beklagte mit Bescheid vom 30. Mai 2008 das für beide Kinder für die Monate August 2003 bis Juli 2006 gezahlte Kindergeld in Höhe von 11.088,00 EUR (= 2 x 154,00 EUR x 36 Monate) und das für E2 im Zeitraum August 2006 bis August 2007 geleistete Kindergeld in Höhe von 2.002,00 EUR (= 154,00 EUR x 13 Monate) auf. Zugleich forderte die Beklagte die Summe von 13.090,00 EUR (= 11.088,00 EUR + 2.002,00 EUR) von der Klägerin zurück. Zur Begründung führte die Beklagte an, die Kinder seien beim Kindergeld nicht mehr zu berücksichtigen, weil sie weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland oder in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union hätten. Eine Berücksichtigung nach überstaatlichen Rechtsvorschriften könne nicht erfolgen, weil die Voraussetzungen hierfür (beitragspflichtige Beschäftigung bzw. Bezug von Lohnersatzleistungen) nicht nachgewiesen worden seien.
Hiergegen legte die Klägerin am 4. Juli 2008 Einspruch ein. Ihre beiden Kinder seien nach wie vor in der Bundesrepublik Deutschland gemeldet. Die Kinder befänden sich lediglich zu Ausbildungszwecken in der Türkei. Bei jeder Gelegenheit, die die Ausbildung zulasse, kehrten E2 und E1 nach Deutschland zurück. Bislang hätten sie die Bundesrepublik nicht für einen längeren Zeitraum als sechs Monate verlassen. Längere Aufenthalte seien allerdings nach den Ausbildungsordnungen nicht möglich. In der Wohnung ihrer Eltern verfügten beide Kinder über ein eigenes Zimmer, das nach wie vor nach deren Bedürfnissen eingerichtet sei.
Was ihre Aufenthalte in Deutschland angeht, gaben die Kinder der Klägerin gegenüber der Beklagten im außergerichtlichen Vorverfahren eidesstattlich versicherte Erklärungen ab. Zu ihren Aufenthalten in Deutschland seit August 2004 gab E1 u.a. an:
"(...) ab September 2004 immer dann nach Hause, nach S, zurückgekehrt zu sein, wann immer ich aufgrund von Ferien nicht mehr verpflichtet war, mich am Ausbildungsort aufzuhalten. (...) Bis 2006 habe ich dort mein internationales "Baccalaureate" abgeschlossen. In der Zeit habe ich etwa 7/8 Wochen Sommerferien gehabt. Im Sommer 2005 war ich an der "University of C" (USA) weshalb ich keine Zeit hatte, nach Deutschland zu kommen. Im Juni 2005 habe ich mit meiner Klasse Lübeck besucht (...) Des weiteren bin ich in den kürzeren Ferien nach Deutschland gekommen, um meine Freunde und Familienfreunde zu sehen.
Im Sommer 2006 musste ich mich um meine Unianmeldung kümmern. Als ich mich endlich für die Universität in I (Türkei) entschieden habe, war ich mit einem anderen Ferienplan als in Deutschland konfrontiert. Dies und die Zeit an denen auch meine Freunden Raum hatten für meine Besuche waren sehr schwer anzupassen.
Den Sommer 2007 habe ich teilweise in Holland teilweise in Deutschland verbracht da einer meiner Brüder geheiratet hat. Im darauf folgenden Sommer (2008) hat mein zweiter Bruder geheiratet. In den Weihnachtsferien in 2006 war ich wieder teils in Deutschland und in Holland, da meine erste Nichte geboren wurde. (...)"
E2 erklärte gegenüber der Beklagten:
"(...) mich in der Zeit ab August 2003 immer dann zu Hause, nach S, zurückgekehrt zu sein, wann immer ich aufgrund von Ferien nicht mehr verpflichtet war, mich am Ausbildungsort aufzuhalten.
(...)bestätige, dass ich mich
-
im Jahre 2004 in den Osterferien und in den Sommerferien in S aufgehalten habe, (...)-
im Jahre 2005 in den Osterferien in S aufgehalten habe, und in den Sommerferien habe ich für die 6 Wochen einen Strandurlaub in B (Türkei) gemacht (...),in den Herbstferien habe ich mich auch in S aufgehalten-
im Jahre 2006 in den Sommerferien nicht (...), aber in den Weihnachtsferien in S aufgehalten habe, (...)-
im Jahre 2007 in den Sommerferien in S nach meiner Sprachreise nach Spanien vom 02.08.2007 bis zum 25.08.2007 und der Hochzeit meines ältesten Bruders in S aufgehalten habe.-
Im Jahre 2008 in den Sommerferien in S sowie vor und nach der Hochzeit meines Bruders in S aufgehalten habe. (...)"
Im Übrigen wird auf die vorgenannten Erklärungen Bezug genommen.
Die Beklagte erteilte am 9. Dezember 2008 unter Hinweis auf § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 a AO einen geänderten Bescheid, durch den der Aufhebungsbescheid, soweit er die Tochter E1 betrifft, im Hinblick auf die Monate August 2003 bis Juli 2004 aufgehoben wurde. Der zurückgeforderte Betrag verminderte sich dadurch um 1.848,00 EUR (= 12 Monate x 154,00 EUR) auf 11.242,00 EUR.
Hiergegen legte die Klägerin am 19. Dezember 2008 Klage ein. Erst mit Einspruchsbescheid vom 29. Januar 2009 wies die Beklagte den Einspruch im Übrigen als unbegründet zurück. Auf die Gründe dieser Entscheidung wird verwiesen.
Die Klägerin hat am 19. Dezember 2008 Klage erhoben. Zur Begründung nimmt sie im Wesentlichen auf ihr Vorbringen im Einspruchsverfahren Bezug. Es sei davon auszugehen, dass ihre Kinder nach Abschluss der (universitären) Ausbildung in der Türkei nach Deutschland zurückkehrten. Die Klägerin hat in die deutsche Sprache übersetzte Bescheinigungen der türkischen Behörden über die Ein- und Ausreisen ihrer beiden Kinder vorgelegt, aus denen folgende (nicht abschließend aufgezählte) Ein- bzw. Ausreisedaten hervorgehen:
E2:
- - 27.03, 14.04.2002;
- - 05.01., 14.07., 22.11., 29.11.2003;
- - 02.04., 16.04., 09.09.2004;
- - 02.04., 24.12.2005;
- - 07.01.2006;
- - 23.06., 05.08., 17.06., 02.09.2007;
- - 19.07., 31.07.2008;
E1:
- - 27.03., 23.12.2002;
- - 05.01., 14.07., 11.10., 26.10., 24.12.2003;
- - 06.01., 10.07., 16.08., 09.09.2004;
- - 18.03., 02.04., 26.04., 01.05., 07.08., 24.12.2005;
- - 07.01.2006;
- - 19.01., 02.02., 25.08., 02.09.2007;
- - 21.07., 31.07.2008;
- - 22.01., 08.02.2009.
Ergänzend macht die Klägerin geltend, dass zumindest die Voraussetzungen für die Festsetzung von Kindergeld nach Art. 33 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (BGBl. II 1965, 1169 - im Folgenden: SozSichAbk Türkei) vorlägen.
Die Klägerin beantragt,
den Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 30. Mai 2008, geändert durch Bescheid vom 9. Dezember 2008, in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29. Januar 2009 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie ist der Auffassung, dass die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld für die im Ausland befindlichen Kinder nicht gegeben seien. Ein Kind, das sich zum Zwecke des Studiums für mehrere Jahre ins Ausland begebe, behalte seinen Wohnsitz in der elterlichen Wohnung nur dann bei, wenn es diese Wohnung zum zwischenzeitlichen Wohnen in der ausbildungsfreien Zeit nutze. Kurzzeitige Besuche reichten nicht aus, um die Aufrechterhaltung des Inlandswohnsitzes anzunehmen. Ein Wohnsitz könne jedoch dann gegeben sein, wenn das Kind sich im Jahr fünf Monate in der im Inland belegenen Wohnung der Eltern aufhalte. Das SozSichAbk Türkei sei nicht anwendbar, weil für ausschließlich deutsche Staatsangehörige kein Anspruch auf Kindergeld für in der Türkei lebende Kinder bestehe. Im Übrigen nimmt die Beklagte im Wesentlichen auf die Einspruchsentscheidung Bezug.
Mit Beschluss vom 7. August 2009 3 V 247/09 ist der Antrag der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung (im Folgenden:AdV ) als unbegründet zurückgewiesen worden.
Im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 14. August 2009 sind die von der Klägerin sistierten Zeuginnen A, C und E1 über die Aufenthaltszeiten von E1 und E2 im Streitzeitraum vernommen worden. Für das Ergebnis der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.
Dem Gericht lag zur Entscheidung ein Band Kindergeldakten vor.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.
I.
Zwar war im Streitfall die Einspruchsentscheidung über den gegen den Rückforderungsbescheid der Beklagten eingelegten Einspruch noch nicht ergangen. Dieser Mangel ist jedoch dadurch geheilt worden, dass die Beklagte während des finanzgerichtlichen Verfahrens über den Einspruch durch zurückweisende Einspruchsentscheidung vom 29. Januar 2009 entschieden und die Klägerin die Klage aufrecht erhalten hat (BFH v. 17.5.1985 - III R 312/82, BStBl. II 1985, 521; v. 29.3.2001 - III R 1/99, BStBl. II 2001, 432).
II.
Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Kindergeld nach §§ 62 ff. EStG noch nach Art. 33 Abs. 1 Satz 1 SozSichAbk Türkei. Die Familienkasse war daher berechtigt, die Festsetzung des Kindergeldes für den Zeitraum August 2003 bis August 2007 aufzuheben.
1.
Die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Kindergeldbescheide nach § 70 Abs. 2 EStG liegen vor. Soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten, ist danach die Festsetzung des Kindergelds mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben oder zu ändern.
a.
Eine Änderung der Verhältnisse, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, ist mit dem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes der Kinder E2 und E1 eingetreten, als diese zur Aufnahme einer Schuldausbildung bzw. eines Studiums in die Türkei verzogen sind. Die Kinder der Klägerin hatten damit ab August 2003 bzw. ab August 2004 weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in S, so dass der Klägerin kein Anspruch auf (Inlands-)Kindergeld nach § 62 Abs. 1, 66 EStG mehr zustand.
Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Abs. 1 Satz 3 EStG hat derjenige, der im Inland über einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt verfügt, einen Kindergeldanspruch für diejenigen Kinder, die ebenfalls im Inland, in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt innehaben.
(1)
Die Kinder der Klägerin hatten im streitbefangenen Zeitraum keinen Wohnsitz im Inland inne. Der Wohnsitzbegriff im Sinne von§ 8 AO setzt neben zum dauerhaften Wohnen geeigneten Räumlichkeiten das Innehaben der Wohnung in dem Sinne voraus, dass der Steuerpflichtige tatsächlich über sie verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit - wenn auch in größeren Zeitabständen - aufsucht. Ein nur gelegentliches Verweilen während unregelmäßig aufeinander folgender kurzer Zeiträume zu Erholungszwecken reicht nicht aus (vgl. BFH v. 23.11.1988 - II R 139/87, BStBl II 1989, 182, m.w.N.; v. 22.4.1994 - III R 22/92, BStBl II 1994, 887). Außer dem Innehaben einer Wohnung setzt der Wohnsitzbegriff zunächst Umstände voraus, die darauf schließen lassen, dass die Wohnung durch den Inhaber beibehalten und als solche genutzt werden soll. Das Wesen eines Wohnsitzes im steuerrechtlichen Sinne besteht somit darin, dass objektiv die Wohnung ihrem Inhaber jederzeit (wann immer er es wünscht) als Bleibe zur Verfügung steht und von ihm subjektiv zu entsprechender Nutzung auch bestimmt ist. In dieser zur objektiven Eignung hinzutretenden subjektiven Bestimmung liegt der Unterschied zwischen dem bloßen Aufenthaltnehmen in einer Wohnung und dem Wohnsitz (BFH v. 26. Februar 1986 - II R 200/82, BFH/NV 1987, 301).
Das Innehaben der Wohnung muss unter Umständen erfolgen, die darauf schließen lassen, dass die Person die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Die gesetzliche Regelung geht dahin, aus äußeren objektiven Tatsachen Schlüsse auf das zukünftige tatsächliche Verhalten einer Person zu ziehen (vgl. BFH v. 17.5.1995 - I R 8/94, BStBl II 1996, 2). Es handelt sich deshalb um eine Prognoseentscheidung.
Im Einzelfall können auch zwei Wohnsitze nebeneinander bestehen (vgl. auch § 19 Abs. 1 Satz 2 AO), wenn nach den äußeren Umständen der Lebensmittelpunkt zeitlich und örtlich zwei Wohnungen in verschiedenen Orten zuzuordnen ist und so zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse gebildet worden sind (vgl. BFH v. 10.8.1983 - I R 241/82, BStBl II 1984, 11, 12; v. 19.3.1997 - I R 69/96, BStBl II 1997, 447).
Eine vorübergehende räumliche Trennung vom Wohnort steht der Beibehaltung eines Wohnsitzes nicht entgegen. Allein die mit einer Unterbringung in einer studentischen Wohngemeinschaft verbundene räumliche Trennung von den Eltern bedingt keine Auflösung der familiären Bindungen und bringt keine Verlagerung des Schwerpunkts der Lebensverhältnisse an den Ort des Studiums mit sich. Am Studienort oder in der Nähe des Studienortes in einem möblierten Zimmer oder Studentenheim wohnende Studenten behalten ihren Wohnsitz bei den Eltern, soweit durch die auswärtige Unterbringung ihre Bindung zum Elternhaus bestehen bleibt. Dabei sind von der Rechtsprechung Zeiträume von drei und auch von fünf Jahren als unbedenklich angesehen worden.
Dient ein Auslandsaufenthalt - wie es bei den Kindern der Klägerin der Fall ist - ausschließlich der Durchführung einer bestimmten Maßnahme (wie z.B. der Schul- oder Berufsausbildung), ist er deshalb von vornherein zeitlich beschränkt, und hat der Betroffene die Absicht, nach dem Abschluss der Maßnahme wieder an den bisherigen Wohnort oder gar in die elterliche Wohnung zurückzukehren, reicht dies allein jedoch nicht dafür aus, um vom Fortbestand des bisherigen Wohnsitzes während des Auslandsaufenthalts auszugehen. Die Feststellung der Rückkehrabsicht besagt grundsätzlich nichts darüber, ob der Inlandswohnsitz während des vorübergehenden Auslandsaufenthaltes beibehalten oder aber aufgegeben und nach der Rückkehr neu begründet wird. Der Inlandswohnsitz wird in solchen Fällen nur dann beibehalten, wenn der Betroffene entweder seinen Lebensmittelpunkt weiterhin am bisherigen Wohnort hat (keine Wohnsitzbegründung am Orte des Auslandsaufenthalts) oder er zwar keinen einheitlichen Lebensmittelpunkt mehr hat, er aber nunmehr über zwei Schwerpunkte der Lebensverhältnisse (zwei Wohnsitze) verfügt, von denen einer am bisherigen Wohnort liegt (vgl. BFH v. 23.11.2000 - VI R 107/99, BStBl II 2001, 294, m.w.N.).
Bei von vornherein auf mehr als einem Jahr angelegten Auslandsaufenthalten reichen kurzzeitige Besuche und sonstige kurzfristige Aufenthalte zu Urlaubs-, Berufs- oder familiären Zwecken, die nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleichkommen und daher nicht "zwischenzeitliches Wohnen" in der bisherigen Wohnung bedeuten, nicht dazu aus, um die Aufrechterhaltung des Inlandswohnsitzes anzunehmen. Zum einen müssen die objektiven Wohnverhältnisse so geartet sein, dass sie die Möglichkeit eines längeren Wohnens des Kindes in der Wohnung der Eltern bieten. Zum anderen darf die Anwesenheit des Kindes in der elterlichen Wohnung nicht nur Besuchscharakter haben, wie das bei Aufenthalten von jeweils zwei bis drei Wochen pro Jahr der Fall ist. Auch bei langjährigen Auslandsaufenthalten kann ein Wohnsitz des Kindes jedenfalls dann gegeben sein, wenn es sich im Jahr fünf Monate im Inland in der Wohnung der Eltern aufhält (vgl. BFH v. 23.11.2000 - VI R 107/99, BStBl II 2001, 294, m.w.N., unter II. 7. b).
Werden diese Grundsätze auf den Streitfall übertragen, hatten E2 und E1 im Streitzeitraum ihren Wohnsitz nicht im Inland. Die Aufenthaltszeiten in Deutschland waren zu kurz, um nach Beendigung der Schulausbildung in S den Lebensmittelpunkt im Inland beizubehalten. So hat E1 etwa zeugenschaftlich bekundet, sie und ihr Bruder seien in den Streitjahren zwar mehrfach zu den Eltern nach Deutschland gefahren, die einzelnen Aufenthalte seien in der Summe jedoch nicht länger als zwei Monate pro Jahr gewesen. Anlass, die Glaubwürdigkeit der Zeugin oder die Richtigkeit der Aussagen der Tochter der Klägerin anzuzweifeln, besteht für das Gericht nicht.
Die Anzahl und die Dauer der Besuche waren überdies nicht geeignet, einen zweiten Schwerpunkt der Lebensverhältnisse am bisherigen Wohnort beizubehalten. So hat etwa E2 im Jahre 2004 nur die Oster- und Sommerferien, im Jahre 2005 lediglich die Osterferien und die Woche ab 24. Dezember 2005 sowie im Jahre 2006 nur die erste und die letzte Woche des Jahres bei seinen Eltern verbracht. Auch die Zeiten, in denen E1 ihre Eltern in S besucht hat, können für die Begründung eines (weiteren) Wohnsitzes nicht als ausreichend angesehen werden. So geht etwa aus den im Einspruchsverfahren vorgelegten "Ferienordnungen" der Privatschule in A (Türkei) hervor, dass die Dauer der einzelnen Ferienabschnitte auch in der Summe bei Weitem nicht fünf Monate beträgt.
(2)
Die Kinder der Klägerin hatten auch nicht ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland. Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich der AO ist stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen; kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt (§ 9 Sätze 1 und 2 AO). § 9 Satz 2 AO gilt nicht, wenn der Aufenthalt ausschließlich zu Besuchs-, Erholungs- Kur- oder ähnlichen privaten Zwecken genommen wird und nicht länger als ein Jahr dauert (§ 9 Satz 3 AO).
Die Umstände, unter denen sich E2 und E1 im Streitzeitraum in Deutschland aufhielten, ließen nicht erkennen, dass sie bei ihren Eltern nicht nur vorübergehend verweilten. Es handelte sich regelmäßig um von vornherein zeitlich begrenzte, vergleichsweise kurze Aufenthalte zu Besuchszwecken. Auch greift die Vermutungsregel des § 9 Satz 2 AO im Streitfall nicht Platz, weil die Aufenthalte der Kinder der Antragstellerin in S jeweils erheblich kürzer als sechs Monate waren.
(3)
Die Kinder hatten somit ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Türkei. Die Türkei zählt nicht zu den in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG genannten Staaten, da sie weder ein Mitgliedsstaat der Europäischen Union noch ein Staat ist, auf den dasAbkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet.
b.
Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf (Abkommens-)Kindergeld nach §§ 62, 63 Abs. 1 EStG in Verbindung mit Art. 33 Abs. 1 Satz 1 des SozSichAbk Türkei.
Das Abkommen ist nicht persönlich auf die Klägerin anwendbar.
(1)
Nach Art. 33 Abs. 1 SozSichAbk Türkei hat eine Person, die im Gebiet der einen Vertragspartei beschäftigt ist, für Kinder, die sich im Gebiet der anderen Vertragspartei gewöhnlich aufhalten, Anspruch auf Kindergeld, als hielten sich die Kinder gewöhnlich im Gebiet der ersten Vertragspartei auf. Personen sind nach Art. 3 a) in Verbindung mit Art. 1 Nr. 1 des Abkommens Staatsangehörige beider Vertragsparteien, also sowohl türkische als auch deutsche Staatsangehörige. Deutsche Staatsangehörige sind damit nach dem Wortlaut zwar grundsätzlich durch das SozSichAbk erfasst, Systematik sowie Sinn und Zweck des Abkommens schließen aber aus, dass ein deutscher Staatsangehöriger hiernach Kindergeld für seine im Ausland ansässigen Kinder beanspruchen kann (so aber ohne weitere BegründungHelmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, II. Kommentierung Abkommen, Abk. mit der Türkei Art. 33 Rz. 6; FG Münster v. 17.8.2009 - 2 K 4826/08 Kg, [...]; derBFH v. 23.11.2000 - VI R 165/99, BStBl. II 2001, 279 lehnt dagegen einen Kindergeldanspruch in dieser Konstellation ab, ohne überhaupt auf das SozSichAbk einzugehen).
(2)
Art. 33 Abs. 2 SozSichAbk Türkei bestimmt für den Fall, dass die Voraussetzungen für eine Gewährung von (Abkommens-)Kindergeld durch den Vertragsstaat Deutschland nach Art. 33 Abs. 1 erfüllt sind, in welcher Höhe dieses Kindergeld zu gewähren ist. Der deutsche (Kindergeld-)Träger wird danach verpflichtet, "den in der Bundesrepublik Deutschland beschäftigten türkischen Arbeitnehmern für ihre im Heimatland lebenden Kinder, Kindergeld zu den höchsten Sätzen zu gewähren, die die Bundesrepublik Deutschland für Kinder in einem anderen Anwerbeland vereinbarungsgemäß ab 1. Januar 1975 zahlt". Ausdrücklich sind nur türkische Arbeitnehmer, also türkische Staatsangehörige, erwähnt. Die Höhe eines (Abkommens-)Kindergeldes, das an deutsche Arbeitnehmer für deren in der Türkei befindlichen Kinder zu zahlen ist, wird nicht geregelt. Wenn das SozSichAbk Türkei diese Konstellation hätte erfassen sollen, wäre sie ebenfalls in dieser Vorschrift bestimmt worden. Durch die Beschränkung der Bestimmung auf türkische Arbeitnehmer lässt sich aber schließen, dass deutsche Staatsangehörige gerade nicht erfasst sein sollten.
(3)
Diese Auslegung wird auch durch den Sinn und Zweck des Abkommens gestützt. Dieser bestand darin, den in den 60er Jahren als Gastarbeitern angeworbenen türkischen Arbeitnehmern einen Anspruch auf das deutsche Kindergeld für ihre in der Türkei lebenden Kinder zu verschaffen (vgl. Helmke / Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, II. Kommentierung Abkommen, Abk. mit der Türkei Art. 33 Rz. 4). Es ist nicht ersichtlich, dass über diesen Regelungszweck hinaus auch deutschen Staatsangehörigen für ihre in der Türkei lebenden Kindern Kindergeld gewährt werden soll, das ihnen lediglich nach den Vorschriften der §§ 62 ff EStG nicht zustünde.
(4)
Diese Auslegung begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes nach Art. 3 Abs. 1 GG. Deutschen Staatsangehörigen steht in der Regel kein Kindergeld zu, wenn ihre Kinder ihren gewöhnlichen Aufenthalt in einem nicht in § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG genannten Staat haben (vgl. BFH v. 26.2.2002 - VIII R 85/98, BFH/NV 2002, 912). Die Bevorzugung türkischer Staatsangehöriger gegenüber Deutschen hinsichtlich ihrer in der Türkei lebenden Kinder ist vor dem Hintergrund des Regelungszweck des SozSichAbk Türkei zu sehen, dass in den 60er Jahren einen Anreiz für türkische Staatsangehörige schaffen wollte als Gastarbeiter in der Bundesrepublik Deutschland zu arbeiten, was als sachlicher Grund anzusehen ist. Selbst wenn man diesen Regelungszweck aktuell in Frage stellte, bestünde für die Klägerin keine Möglichkeit, den Kreis der Leistungsbezieher auf sie unter Berufung auf die Gleichheitswidrigkeit auszudehnen (vgl. BFH v. 25.5.1977 - I R 249/74, BStBl. II 1977, 670), sondern allenfalls eine Beseitigung der gleichheitswidrigen Regelung zu erreichen (vgl. z.B. BVerfG v. 27.6.1991 - 2 BvR 1493/89, BVerfGE 84, 239).
2.
Die Beklagte war nach § 37 Abs. 2 Satz 1 AO berechtigt, das für E2 und E1 für den Streitzeitraum gezahlte Kindergeld von der Klägerin zurückzufordern.
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
IV.
Die Revision wird nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO hinsichtlich der Frage zugelassen, ob deutschen Staatsangehörigen nach Art. 33 SozSichAbk Türkei ein Anspruch auf Kindergeld für ihre sich gewöhnlich in der Türkei aufhaltenden Kinder zusteht. Diese Frage wurde bisher noch nicht höchstrichterlich entschieden und in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung sowie in der Kommentarliteratur unterschiedlich beantwortet (vgl. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach D, II. Kommentierung Abkommen, Abk. mit der Türkei Art. 33 Rz. 6; FG Münster v. 17.8.2009 - 2 K 4826/08 Kg, [...]).