Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 10.07.2019, Az.: 6 A 2610/17
Ausreise; Irak; religiöse Verfolgung; Sippenhaft; Sunnit; sunnitische Araber; Vorverfolgung; Zäsur
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 10.07.2019
- Aktenzeichen
- 6 A 2610/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 69781
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Zur Beurteilung der individuellen Verfolgungsgefahr eines männlichen Mitglieds einer sunnitisch-arabischen Familie in der Provinz Basra, welche innerhalb einer Zeitspanne von wenigen Monaten zahlreichen verbalen Bedrohungen und körperlichen Übergriffen schiitischer Extremisten ausgesetzt war.
2. Für eine politische oder religiöse Verfolgung ist es ausreichend, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch oder religiös missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer pauschal der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer oder religiöser Verfolgung ist.
3. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), hier: der Familie des Betroffenen.
4. Die in § 24 VwVfG verankerte Freiheit der Beweiswürdigung, der zufolge keine starren Regelungen für die Würdigung des entscheidungserheblichen Sachverhalts bestehen, darf nicht dahingehend verstanden werden, dass sie willkürlich erfolgen kann. Behördliche Entscheidungen dürfen nicht lediglich aufgrund eines Gefühls ergehen, sondern müssen nach Lage des Sachverhalts rational nachvollziehbar sein.
5. Der in § 3e Abs. 1 AsylG verankerte Kausalzusammenhang zwischen Vorverfolgung und Ausreise besteht fort, wenn sich der Betroffene aus Angst vor Verfolgung zunächst gezwungenermaßen in einen anderen Landesteil seines Heimatlandes begibt, in welchem er sich vor Verfolgung kurzfristig sicher wähnt, bevor er sein Heimatland von dort aus letztendlich verlässt.
6. Eine andere Sichtweise, d.h. die Annahme einer Zäsur zwischen Vorverfolgung und Ausreise, welche die Privilegierung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie aus-schließt, ist lediglich in denjenigen Konstellationen geboten, in welchen das Fluchtgeschehen dergestalt unterbrochen wurde, dass der Betroffene am vorübergehenden Zu-fluchtsort nicht nur verfolgungsfrei gelebt hat, sondern überdies in einer Weise sesshaft geworden ist, dass sich sein dortiger Aufenthalt nicht mehr als erzwungen darstellt, son-dern als freiwillig.
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Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. März 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und sunnitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Er reiste eigenen Angaben zufolge Ende Dezember 2015 aus dem Irak aus und Anfang Januar 2016 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) einen Asylantrag. In seiner Anhörung im Februar 2017 erklärte er, er habe den Irak verlassen, da unbekannte Extremisten seine Familie väterlicher- und großväterlicherseits mit dem Tode bedroht hätten.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er, er habe im Irak bis zu seiner Ausreise in der Provinz Basra in der Stadt Zubair gelebt. Er sei ohne seine Mutter aufgewachsen und habe gemeinsam mit seinem Onkel C. und seiner Tante D., die für ihn wie Geschwister gewesen seien, bei seinem Großvater gelebt, der als Taxifahrer gearbeitet habe. Sein Vater, der als Jurist u.a. Angehörige der irakischen Sicherheitskräfte ausgebildet habe, habe nur eine Straße weiter mit seiner neuen Familie gewohnt, d.h. der Stiefmutter des Klägers sowie seinen fünf Halbgeschwistern. Er, der Kläger, habe im Irak die Schule bis zur neunten Klasse besucht, diese jedoch wegen der Vorfälle, die zu seiner Ausreise geführt hätten, nicht abschließen können.
Zu den Gründen seiner Flucht erklärte der Kläger, seine Familie sei wegen ihres sunnitischen Glaubens sowie der beruflichen Tätigkeit seines Vaters verfolgt worden. Sein Onkel E. sei im Jahr 2015 wegen seiner Religion bedroht worden und zunächst nach Samara geflohen. Nachdem einer der Freunde seines Onkels direkt vor seinen Augen erschossen worden sei, sei sein Onkel in die Türkei ausgereist. Seit diesem Zeitpunkt habe er, der Kläger, nicht mehr die Schule besucht, weil er befürchtet habe, dass die Gruppierung, die seinen Onkel E. bedrohte, ihn entführen und töten werde. Sein Onkel C., der ebenso wie er selbst langjährig Fußball gespielt habe, habe ebenfalls Drohungen von Unbekannten erhalten. Zunächst habe sein Onkel gedacht, es handele sich um rivalisierende Fußballer, aber nach einem Anruf beim Vater des Klägers habe er erfahren, dass dieser auch Drohungen erhalten habe. Mitte Oktober 2015 hätten Unbekannte dann Brandsätze an die Seite des Hauses geworfen, in dem er, der Kläger, mit der Familie seines Großvaters gelebt habe. Zudem hätten die Täter auf die Wand geschossen. Er habe sich gemeinsam mit seinen anderen Familienangehörigen im Haus versteckt, bis die Täter schließlich weggegangen seien. Die Familie habe dies auch bei der Polizei angezeigt. Polizisten hätten den Tatort untersucht und diverse Fragen gestellt, aber er habe den Eindruck gehabt, sie hätten kein richtiges Interesse an dem Vorfall besessen. Die Familie habe die schiitische Miliz Badr-Organisation im Verdacht gehabt, die schräg gegenüber von ihrem Haus eine Station unterhalten habe, sei sich aber nicht hundertprozentig sicher gewesen. Eines Tages hätten Bekannte aus ihrem Fußballverein angerufen und mitgeteilt, dass jemand seinen Onkel C. entführt habe. Sein Großvater habe Anzeige gegen Unbekannt erstattet, aber es sei nichts passiert. Etwa eine Woche später sei sein Onkel C. mit blutverschmiertem Gesicht nachhause zurückgekehrt und habe mitgeteilt, dass ihn eine unbekannte Gruppierung entführt habe, ferner, dass er im Irak nicht mehr sicher sei und nicht mehr im Land bleiben wolle. Sein Onkel sei dann nach Basra gegangen, habe einen Reisepass beantragt, u.a. in einem Hotel gelebt und auf den Rest der Familie gewartet. Der Kläger, seine Großeltern und seine Tante D. hätten ebenfalls ihre Reisepässe beantragt und seien etwa einen Monat später ebenfalls nach Basra gegangen. Ende Dezember seien sie dann gemeinsam mit C. in die Türkei geflogen.
Auf Nachfrage des Entscheiders ergänzte der Kläger, er wisse nicht, welche konkrete Gruppierung die Familie bedroht habe. Seine männlichen Verwandten hätten ihm allerdings erzählt, dass sie bedroht worden seien, weil sie Sunniten seien. Zudem ergänzte der Kläger, sein Vater sei seiner Meinung auch deshalb bedroht worden, weil er Polizisten bzw. Sicherheitskräfte ausgebildet habe. Im Falle einer Rückkehr, so der Kläger abschließend, befürchte er, dass die Mitglieder der Gruppe ihn wegen seines sunnitischen Glaubens gleich töten würden; alternativ, dass sie ihn entführen würden, um seine Familie unter Druck zu setzen, damit sie zurückkehren und ebenfalls getötet werden könnten.
Das Bundesamt erkannte dem Vater des Klägers, seiner Stiefmutter sowie seinen fünf Halbgeschwistern mit Bescheid vom 21. März 2017 die Flüchtlingseigenschaft zu. Zur Begründung führte es aus, die Furcht der Antragsteller vor Verfolgung sei begründet. Der Bescheid nahm dabei u.a. Bezug darauf, dass die Antragsteller diverse Probleme im Irak gehabt hätten. Der Halbbruder des Klägers sei wegen seines sunnitischen Namens der Schule verwiesen worden und auch an keiner anderen Schule mehr aufgenommen worden sei. Der Vater des Klägers habe Drohungen von Unbekannten erhalten, weil er mit ausländischen Streitkräften zusammengearbeitet habe. Am 1. Januar und 30. Oktober 2015 habe er Drohbriefe erhalten, am 15. November 2015 einen gezielten Beinschuss erlitten. Er habe die Drohbriefe bei der Polizei abgegeben, aber diese habe ihm keinen Schutz gewähren können. Die Polizisten hätten auch nicht ermitteln können, von wem die Bedrohungen ausgegangen seien. Nach der Ausreise habe ein befreundeter Kollege dem Vater des Klägers einen Haftbefehl zugeschickt, der gegen diesen ausgestellt worden sei. Das Schreiben legte der Vater des Klägers dem Bundesamt in Kopie vor.
Mit Bescheid vom 24. März 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter (Nr. 2) ab und erkannte ihm den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6).
Zur Begründung trug es u.a. vor, dem Kläger sei im Irak persönlich nichts passiert. Sein Onkel sei entführt und bedroht worden und eine Wand des Hauses der Familie sei aus einem unbekannten Grund mit einem Brandsatz und Schüssen beschädigt worden. In beiden Fällen habe die Familie des Antragstellers die Möglichkeit genutzt, die Polizei um Hilfe zu bitten und eine Anzeige erstattet. Betrachte man die Schilderungen im Zusammenhang, so lasse sich kein Grund erkennen, dass eine dieser Handlungen gegen den Kläger gerichtet gewesen sei. Der Onkel des Klägers sei nach seiner Freilassung zu Bekannten nach Basra gegangen. Die Familie sei ihm nach etwa einem weiteren Monat gefolgt. In der Zwischenzeit sei dem Kläger an seinem Wohnort persönlich weiterhin nichts passiert. Überdies böten sich keine Anhaltspunkte für eine religiöse Verfolgung des Klägers, denn dieser habe keinerlei Einschränkungen in der Ausübung des Glaubens vorgetragen. Augenscheinlich sei es dem Kläger möglich gewesen, im Heimatort zu leben und zur Schule zu gehen, ohne dass er persönlich beeinträchtigt oder bedroht worden sei. Der geäußerte Verdacht, die gegenüber seinem Wohnhaus stationierte schiitische Miliz sei für den Angriff auf das Haus der Familie verantwortlich, sei nicht nachzuvollziehen, denn trotz der räumlichen Nähe sei es nur zu einem Angriff auf das Haus gekommen und danach bis zur Ausreise einen Monat später ruhig geblieben. Von einer Verfolgung wegen der Glaubenszugehörigkeit sei auch deshalb nicht auszugehen, weil die Familie nach der Flucht des Onkels aus dem Heimatort dort noch über einen Monat haben leben können.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 28. März 2017 Klage erhoben.
Mit Bescheid vom 12. Dezember 2017 erkannte das Bundesamt den Großeltern des Klägers die Flüchtlingseigenschaft zu.
Zur Begründung seiner Klage wiederholt und vertieft der Kläger sein bisheriges Vorbringen. Entgegen den Ausführungen der Beklagten habe er nicht etwa aufgrund der allgemeinen politischen Lage sein Heimatland verlassen, sondern sei wegen begründeter Furcht vor Verfolgung aus dem Irak geflohen. Seine gesamte Familie sei aufgrund ihrer sunnitischen Glaubenszugehörigkeit bedroht und verfolgt worden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 24. März 2017 zu verpflichten,
1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
3. hilfsweise, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Begründung auf den Inhalt der angefochtenen Entscheidung. Eine Aufhebung des angefochtenen Bescheides sowie die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kämen nicht in Betracht. Ergänzend führt sie aus, der Verfolgung könne für die gesamte Familie keine flüchtlingsrechtlich relevante Intensität beigemessen werden. Für die ablehnende Entscheidung sei ausschlaggebend gewesen, dass der Kläger seinen eigenen Angaben zufolge einen Monat nach der Freilassung seines Onkels in Zubair habe leben können und anschließend mit seinen Großeltern nach Basra geflohen sei. Auch in der Stadt Basra, welche lediglich 20 km von Zubair entfernt liege, seien der Familie keinerlei Probleme widerfahren. Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes für die Großeltern des Klägers sei unerheblich. Beim Kläger sei der Tatbestand des § 3 AsylG nicht erfüllt, und ein Anspruch auf Gleichbehandlung bestehe nur im Rahmen, nicht jedoch entgegen der geltenden Gesetze. Schließlich lägen die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung von Sunniten im Irak nicht vor.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 28. November 2018 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom 10. Juli 2019 Prozesskostenhilfe bewilligt.
Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 9. Juli 2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Die Beklagte hat bereits mit Generaler-klärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
1.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 24. März 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers erfüllt.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 -, BVerwGE 146, 67, Rn. 19). Der danach maßgebliche Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 - 9 C 14.89 -, juris). Dabei entspricht die zunächst zum nationalen Recht entwickelte Rechtsdogmatik zur Frage der „beachtlichen Wahrscheinlichkeit“ auch dem neueren europäischen Recht (BVerwG, Urteil vom 01.06.2011 - 10 C 25.10 -, BVerwGE 140, 22; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 29).
Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Die für die Verfolgung des Klägers sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.
Bei der Beurteilung der Frage, ob ihm (weiterhin) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungsgefahren im Irak drohen (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 - 10 C 23.12 - juris Rn. 32; Urteil vom 01.03.2012 - 10 C 7.11 - juris Rn. 12), kommt dem Kläger die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) zugute. Danach ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Der Nachweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie liegt dabei der Gedanke zugrunde, dass es einem vor seiner Ausreise unmittelbar von Verfolgung bedrohten Ausländer grundsätzlich nicht zuzumuten ist, das Risiko einer Verfolgungswiederholung zu tragen (vgl. VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12 -, juris Rn. 26; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 08.03.2017 - 15a K 5929/16.A -, juris Rn. 38). Für die Anwendbarkeit des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie ist unerheblich, ob dem Ausländer vor der Ausreise eine interne Schutzmöglichkeit zur Verfügung gestanden hat. Die Beweiserleichterung greift vielmehr auch dann ein, wenn sich der Ausländer vor seiner Ausreise aus dem Heimatland nicht landesweit in einer ausweglosen Lage befunden hat (BVerwG, Urteil vom 24.11.2009 - 10 C 24.08, juris Rn. 18; VGH Mannheim, Urteil vom 07.03.2013 - A 9 S 1873/12, juris Rn. 27).
Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs ist der Kläger vorverfolgt aus dem Irak ausgereist. Das Gericht ist aufgrund der substantiierten Ausführungen des Klägers in seiner Anhörung beim Bundesamt, deren Glaubhaftigkeit die Beklagte nicht substantiiert in Frage gestellt hat, zu der Überzeugung gelangt, dass der Kläger im Irak aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sunnitisch-arabischen Familie unmittelbar von Verfolgungsmaßnahmen bedroht war, die nach § 3 Abs. 1 AsylG geeignet sind, Flüchtlingsschutz zu begründen.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme oder Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder einer Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Als Verfolgungen im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG gelten dabei gemäß § 3a Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2).
Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, welche der Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.1.2009 - 10 C 52.07 -, BVerwGE 133, 55, Rnr. 22, 24, Marx, AsylG, 2017, § 3a Rnr. 50 ff.; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Unerheblich ist, ob der Ausländer tatsächlich z.B. die religiösen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger nur zugeschrieben werden (§ 3b Abs. 2 AsylG). Für den Bereich des Asylrechts hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, dass es für eine politische Verfolgung ausreiche, wenn die Täter die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung politisch missliebiger Dritter einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung, d.h. weil sie den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung ist. In diesem Fall geschieht die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer besonderen sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), etwa der Familie des Betroffenen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 - 2 BvR 1753/96, juris Rn. 5; BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 - 1 B 63.17, 1 PKH 23.17, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, BeckRS 2017, 118678, Rn. 28). Diese Erwägungen gelten für die religiöse Verfolgung entsprechend.
Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle des Klägers die Vorausset-zungen einer religiösen Verfolgung sowie der Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Var. 2, 5 AsylG). Das Gericht ist aufgrund der aus der Anhörung beim Bundesamt gewonnenen Erkenntnisse sowie unter Berücksichtigung der ihm vorliegenden Erkenntnismittel zu der Überzeugung gelangt, dass eine unbekannte bewaffnete schiitische Gruppierung, mutmaßlich die Badr-Organisation, sämtliche Mitglieder der Kernfamilie des Klägers väterlicherseits und großväterlicherseits wegen ihres sunnitischen Glaubens bedrohte mit dem Ziel, die Familie aus ihrem Heimatort Zubair zu vertreiben.
Die Konflikte zwischen schiitischen und sunnitischen Arabern im Irak beschreibt das Verwaltungsgericht Berlin in seinem Urteil vom 22. November 2017 (Az.: 25 K 3.17 A –, juris Rn. 29) wie folgt:
„Die Sunniten im Irak bilden im Unterschied zum weltweiten Verhältnis von Sunniten und Schiiten die Minderheit. Während die arabischen Schiiten 60 bis 65 % ausmachen, stellen arabische Sunniten hingegen nur 17 bis 22 % der Bevölkerung (sonstige: sunnitische Kurden 15 bis 20 % und Turkmenen, vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 7; hierzu gibt es nur begrenzte genaue Daten; die letzte vollständige irakische Volkszählung erfolgte im Jahr 1987, vgl. Home Office UK, Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Juni 2017, S. 9). Die damit in der Minderheit im Irak lebenden arabischen Sunniten sind im irakischen Alltag auch Anfeindungen ausgesetzt. Sie haben sich im Wesentlichen in den Tälern der Flüsse Euphrat und Tigris nördlich und nordöstlich von Bagdad angesiedelt. Ganz im Unterschied zur schiitischen Mehrheit, die vorwiegend die Flussebenen südlich von Bagdad sowie große Teile der irakischen Hauptstadt selbst bewohnt. Seit der Staatsgründung (1912) kontrollierten – ungeachtet der genannten Mehrheitsverhältnisse – zunächst die sunnitischen Araber den Irak. Insbesondere während der Herrschaft der Baath-Partei bzw. Saddam Husseins war die schiitische Mehrheit regelmäßig staatlicher Verfolgung ausgesetzt (vgl. UNHCR, Auskunft an VG Köln zur Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten, 8. Oktober 2007, S. 2 ff). Nach dem Sturz des Baath-Regimes (2003) und dem Wahlsieg eines Bündnisses verschiedener schiitischen Parteien (Ministerpräsident Al-Maliki) und der Verdrängung von sunnitischen Arabern aus öffentlichen Positionen (vgl. Auswärtiges Amt, Auskunft an BAMF zu Sunniten in gehobener Position in Bagdad, 29. November 2016, S. 2) kam es zu starken gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen sunnitischen Arabern und Schiiten (vgl. EZKS, Gutachten an VG Köln zur Lage der schiitischen und sunnitischen Bevölkerung, insb. in Bagdad, 12. Mai 2007, S. 2 ff m. w. N.). Nach dem Abzug der US-Truppen im Jahr 2011 blieb insbesondere die humanitäre Lage dort prekär und die Sicherheitslage trotz signifikanter Verbesserung weiter kritisch (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 26. März 2012, S. 6). Diese verschlechterte sich mit dem Vormarsch des sogenannten „Islamischen Staates“ (im Folgenden: IS) ab Mitte 2014 wieder. Neben den Gebietseroberungen kamen insbesondere terroristische Anschläge auch in Bagdad hinzu (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, 7. Februar 2017, S. 16).“
Die zielgerichtete Gewalt gegen sunnitische Araber hat in Bagdad ebenso wie in anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten des Irak seit 2014 zugenommen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 84 f.). Arabische Sunniten sind aufgrund ihrer ethno-religiösen Herkunft verstärkt der Gefahr politischer Verfolgung ausgesetzt, weil sie oftmals unter dem Pauschalverdacht leiden, mit dem IS zu sympathisieren (BFA, a.a.O., S. 116, 157). Die Behörden des Irak sowie der Kurdischen Regionalregierung schränken die Bewegungsfreiheit vertriebener arabischer Sunniten willkürlich und in diskriminierender Weise ein (BFA, a.a.O., S. 150). An Orte zurückzukehren, an denen Sunniten in Nachbarschaft mit Schiiten oder Kurden gelebt hatten, ist für Sunniten besonders schwierig. Hunderttausenden war dies nicht möglich, obwohl der IS dort bereits verdrängt wurde (BFA, a.a.O., S. 157). Allgemein gibt es Berichte internationaler Menschenrechtsgruppen, die den Regierungskräften und den schiitischen Popular Mobilization Forces (PMF) vorwerfen, Gefangene und Untersuchungshäftlinge - vorwiegend Sunniten – zu misshandeln (BFA, a.a.O., S. 123). Die große Zahl der Binnenvertriebenen im Irak und die weitverbreitete Pauschal-Auffassung, dass sunnitische Araber IS-Mitglieder sind oder mit dem IS sympathisieren, hat Berichten zufolge dazu geführt, dass immer mehr sunnitische Araber und sunnitische Turkmenen, die nicht vertrieben wurden und in Bagdad und anderen von der Regierung kontrollierten Gebieten leben, nach dem Anti-Terror-Gesetz von 2005 verhaftet werden. Diese wurden in behelfsmäßige Hafteinrichtungen oder provisorische Auffanglager gebracht, in denen sie Tage oder sogar Monate ausharren mussten, häufig unter extrem harten Bedingungen. Terrorverdächtige wurden an Sicherheitsbehörden wie die Abteilung für Verbrechensbekämpfung, die Abteilung für Terrorismusbekämpfung oder die Geheimdienstabteilung des Innenministeriums überstellt, wo ihnen Folter und andere Misshandlungen drohten. Regelmäßig wurde ihnen der Kontakt zu ihren Familien oder Rechtsbeiständen verwehrt. Sicherheitskräfte und Milizen nahmen mutmaßliche Terrorverdächtige ohne Haftbefehl in ihren Wohnungen, an Kontrollpunkten und in Lagern für Binnenvertriebene fest und informierten weder die Betroffenen noch deren Angehörige über die Gründe für die Festnahme. Zwar werden manche Personen nach einigen Tagen wieder entlassen, andere werden jedoch Berichten zufolge wochen- oder gar monatelang festgehalten, bis sie schließlich freigelassen oder in die Obhut der zuständigen Sicherheitsbehörden überstellt werden (BFA, a.a.O., S. 108 f.).
Diese Erkenntnismittellage findet ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Schilderungen des Klägers bei seiner Anhörung beim Bundesamt. Die im Anhörungsprotokoll des Bundesamts im Einzelnen dokumentierte Aussage des Klägers enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines real erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Eine zusätzliche Bestätigung erfahren die Angaben des Klägers durch die im Bescheid des Bundesamts vom 21. März 2017 dokumentierten Aussagen seines Vaters, auf deren Basis das Bundesamt diesem und sämtlichen Angehörigen seiner Kernfamilie die Flüchtlingseigenschaft zuerkannte.
Es steht hiernach insbesondere zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus dem Irak unmittelbar von Verfolgung bedroht war (Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie), weil jedem Mitglied seiner sunnitisch-arabischen (Kern-)Familie großväterlicherseits und väterlicherseits religiöse Verfolgung durch eine unbekannte schiitische Gruppierung drohte. Nach den glaubhaften Angaben des Klägers wurden im Jahr 2015 sowohl sein Onkel E. als auch sein Onkel C. als auch sein Vater mit dem Tode bedroht; das Haus seiner Familie großväterlicherseits wurde beschossen und mit Brandsätzen bombardiert. Besondere Bedeutung ist dabei dem Umstand beizumessen, dass sich die Verfolgungshandlungen, welche sich gegen Personen aus dem unmittelbaren familiären und räumlichen Umfeld des Klägers richteten, im Laufe des Jahres 2015 in zeitlicher Hinsicht verdichteten und intensivierten.
Ausweislich der Feststellungen des Bundesamts im Verfahren des Vaters des Klägers wurde dieser bereits Anfang 2015 schriftlich bedroht. Im weiteren Verlauf des Jahres reiste ein Onkel des Klägers, E., wegen des Erhalts von Todesdrohungen aus dem Irak aus. Mitte Oktober 2015 beschossen Unbekannte das Haus, in dem der Kläger u.a. mit seinen Großeltern und seinem Onkel C. lebte, und bewarfen dieses mit Brandsätzen. Am 30. Oktober 2015 erhielt der nur eine Straße vom Kläger entfernt lebende Vater des Klägers abermals einen Drohbrief, am 15. November 2015 wurde dieser durch einen gezielten Schuss ins Bein getroffen. Sein Onkel C. wurde zudem im unmittelbaren Zeitraum nach dem Überfall auf das Haus für eine Woche von einer unbekannten Gruppierung entführt und erst nach massiver körperlicher Gewaltanwendung wieder freigelassen, woraufhin er unverzüglich die Stadt verließ. All diese Handlungen knüpften nach Aussage des Klägers, der sich auf Informationen seiner männlichen Verwandten berief, an ihre sunnitische Konfession an, wobei die (schiitischen) Verfolger auf den Vaters des Klägers auch deshalb aufmerksam wurden, weil er als Jurist irakische Sicherheitskräfte ausgebildet und in dieser Funktion auch mit Angehörigen ausländischer Streitkräfte zusammengearbeitet hatte (siehe zu der insofern bestehenden Gefährdungslage ausführlich: VG Hannover, Urteil vom 21.3.2018 – 6 A 6714/16, juris LS, Urteil vom 2.7.2018 – 6 A 7926/16, LS; Urteil vom 9.7.2018 – 6 A 5325/17, juris LS, Rn. 31).
Zwar lässt sich aus der Verfolgung eines Familienmitglieds nicht in jedem Fall zwangsläufig darauf schließen, dass auch anderen Mitgliedern der Familie Verfolgung droht. Die in § 24 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) verankerte Freiheit der Beweiswürdigung bedeutet nämlich, dass grundsätzlich keine starren Regelungen für die Würdigung des Sachverhalts bestehen, sondern die Behörde den jeweiligen besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen hat (Engel/Pfau, in: Mann/Sennekamp/Uechtritz, Verwaltungsverfahrensgesetz, 2. Auflage 2019, § 24 VwVfG, Rn. 26). Die Freiheit der Beweiswürdigung darf indessen nicht dahingehend verstanden werden, dass sie willkürlich erfolgen kann. Behördliche Entscheidungen dürfen nicht lediglich aufgrund eines Gefühls ergehen, sondern müssen nach Lage des Sachverhalts rational nachvollziehbar sein (Engel/Pfau, a.a.O., § 24 VwVfG, Rn. 27 m.w.N.). Diesem Maßstab wird die angefochtene Entscheidung nicht gerecht. Weshalb angesichts der Fülle und Frequenz der Übergriffe ausgerechnet der Kläger hätte subjektiv davon ausgehen dürften, dass ihm im Falle eines Verbleibs im bzw. einer Rückkehr in den Irak keine religiöse Verfolgung drohen sollte, obwohl er in einem unmittelbaren familiären und räumlichen Näheverhältnis zu sämtlichen Betroffenen stand, ist rational nicht erklärbar und wird vom Bundesamt auch nicht substantiiert dargetan.
Für eine eingehende, nicht lediglich formelhafte Begründung einer fehlenden Verfolgungsgefahr hätte auch deshalb die Notwendigkeit bestanden, weil das Bundesamt sowohl beim Vater des Klägers als auch bei seiner Stiefmutter, seinen Halbgeschwistern und schließlich seinen Großeltern davon ausging, dass ihre Furcht vor Verfolgung begründet war. Im Übrigen übergeht der streitgegenständliche Bescheid wesentliche Teile des Sachvortrages des Klägers, etwa den Umstand, dass der Kläger angegeben hatte, bereits nach den Drohungen gegenüber seinem Onkel E. aus Todesangst nicht mehr die Schule besucht zu haben. Auch die Feststellung im streitgegenständlichen Bescheid, dem Kläger sei persönlich nichts passiert, lässt sich nicht mit seiner unbestrittenen Angabe im Einklang bringen, er habe sich gemeinsam mit seinen Großeltern im Haus versteckt, als dieses beschossen und mit Brandsätzen beworfen worden sei. Ebenso wenig lässt sich die Feststellung des zuständigen Entscheiders nachvollziehen, es sei unwahrscheinlich, dass die gegenüber dem Wohnhaus des Klägers stationierte Abteilung der Badr-Organisation für den Feuerüberfall verantwortlich gewesen sei, denn trotz der räumlichen Nähe sei es nur zu einem Angriff auf das Haus gekommen und danach bis zur Ausreise einen Monat später ruhig geblieben. Zum einen ist gerade die schiitische Badr-Organisation dafür bekannt, dass sie sunnitische Araber aus ihren Wohnvierteln vertreibt (siehe beispielsweise: UK Home Office, Country Policy and Information Note. Iraq: Sunni (Arab) Muslims, Version 2.0, June 2017, Rn. 7.2.1; generell zur Badr-Organisation: VG Hannover, Urteil vom 17.10.2018 – 6 A 5213/17, juris Rn. 35). Zum anderen kam es auch nach dem Überfall auf das Haus zu weiteren Übergriffen gegen die Familie des Klägers, weil sein Onkel C. für mehrere Tage entführt und sein nur eine Straße entfernt lebender Vater angeschossen wurde. Dass die Familie großväterlicherseits nicht unmittelbar nach der Freilassung des Onkels erneut in ihrem Haus überfallen wurde, lässt angesichts der dargestellten Vorgeschichte bei lebensnaher Betrachtung nicht den Rückschluss zu, dass dies nicht geschehen wäre, hätten sie ihren Wohnort nicht zeitnah verlassen.
Der für die Annahme einer Vorverfolgung erforderliche, gesetzlich in § 3 Abs. 1 AsylG verankerte Kausalzusammenhang ("[...] wenn er sich [...] aus begründeter Furcht vor Verfolgung [...] außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet [...]" - Hervorhebung durch das Gericht) wurde – entgegen der Auffassung des Bundesamts im streitgegenständlichen Bescheid – außerdem nicht dadurch unterbrochen, dass sich der Kläger vor der endgültigen Ausreise aus dem Irak noch ca. einen Monat in seinem Heimatwort bzw. in Basra aufgehalten hat.
Der in § 3e Abs. 1 AsylG verankerte Kausalzusammenhang besteht fort, wenn sich der Betroffene aus Angst vor Verfolgung zunächst gezwungenermaßen in einen anderen Landesteil seines Heimatlandes begibt, in welchem er sich vor Verfolgung kurzfristig sicher wähnt, bevor er sein Heimatland von dort aus letztendlich verlässt (VG Hannover, Urteil vom 6.11.2018 - 6 A 5053/17 -, juris, Rn. 25; VG Düsseldorf, Urteil vom 26.4.2019 – 13 K 11/18.A, juris Rn. 38). Jede andere Sichtweise würde zu einer nicht gerechtfertigten Benachteiligung von Personen führen, denen etwa mangels finanzieller Mittel oder persönlicher Beziehungen eine direkte Flucht in den Zielstaat nicht möglich gewesen ist (VG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 40). In diesem Zusammenhang berücksichtigt der Einzelrichter überdies, dass das Bundesamt in zahlreichen anderen, vor dem erkennenden Gericht anhängigen Verfahren aus dem Umstand, dass Asylbewerber unmittelbar nach der von ihnen geltend gemachten Verfolgung ausgereist waren, auf die fehlende Glaubhaftigkeit des vorgetragenen Verfolgungsschicksals geschlossen und zur Begründung ausgeführt hat, innerhalb einer derart kurzen Zeit ließe sich eine Ausreise nicht realistisch bewerkstelligen, vielmehr sei die Ausreise „von langer Hand geplant“ gewesen und die Verfolgungsgeschichte frei erfunden. Wertet das Bundesamt jedoch die beiden einzig denkbaren Alternativen, d.h. sowohl die sofortige Ausreise als auch die verzögerte Ausreise, wahlweise jeweils als ein gegen eine Vorverfolgung sprechendes Indiz, so bleibt für die rechtliche Privilegierungswirkung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie kein Raum mehr.
Eine andere Sichtweise, d.h. die Annahme einer Zäsur zwischen Vorverfolgung und Ausreise, welche die Privilegierung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie ausschließt, ist lediglich in denjenigen Konstellationen geboten, in welchen das Fluchtgeschehen dergestalt unterbrochen wurde, dass der Betroffene am vorübergehenden Zufluchtsort nicht nur verfolgungsfrei gelebt hat, sondern überdies in einer Weise sesshaft geworden ist, dass sich sein dortiger Aufenthalt nicht mehr als erzwungen darstellt, sondern als freiwillig (so zutreffend: VG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 40; BVerfG, Beschluss vom 12.2.2008 - 2 BvR 2141/06, juris, Rn. 20). Ein derartiger Fall, in dem sich eine kausale Verbindung zwischen ursprünglich erlebter Verfolgung und Flucht nach Deutschland nicht mehr feststellen lässt, liegt jedoch ersichtlich nicht vor. Der einmonatige Aufenthalt des Klägers in Basra diente der Ausreisevorbereitung.
Die dem Kläger drohende Verfolgung ist auch flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Dies gilt auch dann, wenn man zu Ungunsten des Klägers davon ausgeht, dass nicht die Badr-Organisation für die Verfolgungshandlungen verantwortlich war, welche als PMF-Miliz bzw. seit Juli 2019 als Teil der regulären irakischen Armee eine staatliche Organisation im Sinne des § 3c Nr. 1 AsylG darstellt (siehe hierzu: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris LS 1, Rn. 41; (Spiegel Online, Artikel vom 3. Juli 2019, „Teherans trojanisches Pferd“). Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann die Verfolgung nämlich auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. So liegt es hier. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl, die sich zudem mit den glaubhaften Schilderungen des Klägers betreffend seine Anzeigeerstattung decken, ist die irakische Polizei nämlich nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung, mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2076), 12. Februar 2018, S. 9; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 24. August 2017 (letzte Kurzinformation eingefügt am 23. November 2017), S. 70). Ohnehin existiert kein Polizeigesetz, womit die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten zum (Nicht-)Handeln sehr weitgehend sind. Die Schwäche der irakischen Sicherheitskräfte hat es darüber hinaus vornehmlich schiitischen Milizen erlaubt – etwa den vom Iran unterstützten Badr-Brigaden, Asa’ib Ahl a-Haq und Kata’ib Hisbollah – Parallelstrukturen im Zentralirak und im Süden des Landes aufzubauen (AA, a.a.O., S. 9). Nach Angaben örtlicher Vertrauenspersonen ist es vor allem in dicht besiedelten Gebieten wie Bagdad außerdem besonders schwierig, zufriedenstellende Polizeiarbeit zu leisten (Landinfo/Migrationsverket – Joint Norwegian-Swedish Fact Finding Mission to Iraq, Iraq: Rule of Law in the Security and Legal system, November 2013, S. 23).
Dem Kläger steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/18, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien, wobei im Falle der Stadt Bagdad zusätzlich die schlechte Sicherheitslage und der erhebliche Einfluss schiitischer PMF-Milizen zu berücksichtigen sei (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2; ebenso: Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beschluss A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).
Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.
2.
Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsan-drohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07 - BVerwGE 129, 251).
Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Auf-enthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
3.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.