Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 28.05.2003, Az.: 2 A 2219/01

Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung; Hauptfürsorgestelle; Kündigung; Kündigungsschutz; Prüfungsumfang; Schwerbehinderter; Zusammenhang

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
28.05.2003
Aktenzeichen
2 A 2219/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48551
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die Hauptfürsorgestelle hat nicht - gleichsam parallel zum Arbeitsgericht - über die Frage der Sozialwidrigkeit der Kündigung eines Schwerbehinderten zu befinden. Bei ihrer Entscheidung, ob Zustimmung erteilt oder versagt werden soll, können vielmehr nur solche Erwägungen eine Rolle spielen, die sich speziell aus dem Recht der Schwerbehindertenfürsorge herleiten. Rechtfertigen solche Erwägungen eine Versagung der Zustimmung nicht, so hat die behördliche Zustimmung dem Kündigenden diejenige Rechtsstellung zu geben, die er hätte, wenn es keinen besonderen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte gäbe.

Tenor:

Der Bescheid des Beklagten vom 18. September 2000 in Gestalt seines Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2001 wird aufgehoben.

Der Beklagte wird verpflichtet, über die mit Schreiben der Klägerin vom 4. September 2000 beantragte Zustimmung zu der beabsichtigten fristlosen, hilfsweise fristgemäßen Kündigung der den Schwerbehinderten gleichgestellten Beigeladenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden.

Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens; die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des gegen ihn festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die am U. geborene Beigeladene ist den Schwerbehinderten im Sinne von § 2 des bis zum 30. Juni 2001 geltenden Schwerbehindertengesetzes (SchwbG) gleichgestellt. Sie ist als seit dem 1. Februar 1996 als Leiterin der Wohnbereichsabteilung in dem von der Klägerin in V. betriebenen Seniorenzentrum beschäftigt. Die Beigeladene war im Jahr 2000 häufig und längerfristig erkrankt. Sie wurde deshalb am 3. August 2000 auf Veranlassung der Klägerin durch den medizinischen Dienst im Gesundheitsamt des Landkreises W. untersucht, wobei eine ausgedehnte Hauterkrankung an der Hand sowie ein krankhafter Befund im Bereich der Wirbelsäule festgestellt wurden. Nach dem ärztlichen Gutachten des medizinischen Dienstes ist sie als Abteilungsleiterin mit eingeschränkten Tätigkeiten und verstärkten Aufsichtsfunktionen sowie für administrative Arbeiten im Betrieb der Klägerin einsetzbar und insoweit nicht durch die festgestellten Krankheitsfelder eingeschränkt.

2

Am 18. August 2000 meldete sich die Beigeladene um 9:00 Uhr in der Betriebsstätte der Klägerin in V. bei der zuständigen Heimleiterin, um mitzuteilen, dass sie nach Ablauf der bis zu diesem Tage ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit zum Dienstantritt erscheinen werde. Die Beigeladene erschien sodann am 21. August 2000 um 6:30 Uhr in der Betriebsstätte in V., um den von ihr angekündigten "übergreifenden Dienst" zu verrichten. Die Beigeladene wurde darauf hingewiesen, dass sie dienstplanmäßig erst für den Spätdienst eingeteilt worden sei. Zu dem insoweit dienstplanmäßigen Arbeitsbeginn um 13:30 Uhr erschien die Beigeladenen nicht, sondern meldete sich kurz zuvor unter Vorlage eines ärztlichen Attestes arbeitsunfähig krank. Die Beigeladene wurde danach mit Schreiben vom 29. August 2000 aufgefordert, bis zum 1. September 2000 wieder zum Arbeitsantritt zu erscheinen. Sie wurde dabei darauf hingewiesen, dass das nachgereichte ärztliche Attest, mit dem ihre Arbeitsunfähigkeit vom 21. August bis zum 4. September 2000 bescheinigt worden sei, nicht anerkannt werden könne. Die Klägerin wertete die unter Attestvorlage am Nachmittag des 21. Augusts 2000 behauptete Erkrankung der Beigeladenen vor dem Hintergrund, dass sie noch am Morgen des selben Tages ihre Arbeitskraft für bestimmte Tätigkeiten angeboten habe und im Hinblick auf die amtsärztliche Untersuchung als vorgeschoben.

3

Mit Schreiben vom 4. September 2000 beantragte die Klägerin die Zustimmung der Hauptfürsorgestelle des Beklagten zu einer außerordentlichen, hilfsweise ordentlichen Kündigung des mit der Beigeladenen bestehenden Arbeitsverhältnisses; als Kündigungsgrund wurde "Arbeitsverweigerung" angegeben.

4

Mit Bescheid vom 18. September 2000 verweigerte die Hauptfürsorgestelle der Klägerin die beantragte Zustimmung sowohl zur außerordentlichen als auch zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses. Zur Begründung wurde im Wesentlichen auf Folgendes abgestellt: Zwar sei ein Zusammenhang zwischen vorgetragenem Kündigungsgrund und der bei der Beigeladenen vorliegenden Behinderung weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich. Auch lägen keine Anhaltspunkte für die Annahme eines sogenannten "atypischen Falles" vor. Jedoch sei das der Beigeladenen vorgeworfene Verhalten kein wichtiger Grund zur fristlosen Kündigung im Sinne des § 626 BGB; dies sei bei der Zustimmungsentscheidung der Hauptfürsorgestelle im Rahmen der Offensichtlichkeitsprüfung (Evidenzkontrolle) der beabsichtigten Kündigung zu kontrollieren. Die Beigeladene habe sich ordnungsgemäß arbeitsunfähig krank gemeldet, so dass von einem unentschuldigten Fehlen bzw. einer Arbeitsverweigerung nicht die Rede sein könne. Dem vorgelegten ärztlichen Attest komme ein hoher Beweiswert zu, denn es sei der gesetzlich vorgesehene und wichtigste Beweis für die Tatsache der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit. Den Gegenbeweis habe die Klägerin nicht führen können. Hinsichtlich der beantragten Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses gelte nichts anderes. Die Beigeladene sei seit dem 21. August 2000 krank geschrieben. Daher könne von Arbeitsverweigerung nicht ausgegangen werden, zumal sich die Beigeladene in der Einigungsverhandlung bereiterklärt habe, auch Spätdienst zu verrichten.

5

Den hiergegen von der Klägerin eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. Juni 2001 zurück, wobei tragend für die Entscheidung das Ergebnis der Evidenzkontrolle gewesen sei. Der Beklagte vertrat die Ansicht, dass die Notwendigkeit der Vornahme einer Evidenzkontrolle durch Aspekte der Verfahrensökonomie gerechtfertigt werde. Lehne nämlich die Hauptfürsorgestelle die Erteilung der Zustimmung zu Kündigung ab, weil ein wichtiger Grund offensichtlich nicht vorliege, so erübrige sich das Kündigungsschutzverfahren vor den Arbeitsgerichten. Dadurch werde auch die Zeit der Ungewissheit der Beteiligten über die rechtmäßige Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgekürzt. Von einer offensichtlichen Unwirksamkeit der beabsichtigten Kündigung könne dann ausgegangen werden, wenn sie ohne vernünftigen Zweifel in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht offen zu Tage liege, sich also jedem Kundigen geradezu aufdränge. So liege es hier. Die behauptete krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit sei ärztlich attestiert worden; dass sie nicht vorliege, habe von der Klägerin nicht bewiesen werden können. Auch der Umstand, dass die Amtsärztin beim Landkreis W. noch am 9. August 2000 festgestellt habe, dass die Beigeladene grundsätzlich arbeitsfähig sei, spreche nicht gegen die Richtigkeit des ärztlichen Attestes. Denn dieses sei zwei Wochen nach der Untersuchung im Gesundheitsamt, am 21. August 2000, erstellt worden, als wiederum Arbeitsunfähigkeit eingetreten sei. Da ein unentschuldigtes Fehlen bzw. eine Arbeitsverweigerung der Beigeladenen tatsächlich nicht vorlägen, sei ein wichtiger Grund im Sinne des § 626 BGB offensichtlich nicht gegeben.

6

Die Klägerin hat am 25. Juli 2001 Klage erhoben.

7

Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, dass der Beklagte zumindest die Grenzen einer etwaigen Befugnis zur Evidenzkontrolle der beabsichtigten Kündigung verkannt habe. Das Amt habe sich nicht darauf beschränkt, den angegebenen Kündigungsgrund auf seine Schlüssigkeit zu prüfen. Vielmehr habe es eine unzulässige vorweggenommene Beweiswürdigung des ärztlichen Attestes vorgenommen. Damit habe der Beklagte seine Kontrollgrenzen überschritten.

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Die Klägerin beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 18. September 2000 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. Juni 2001 aufzuheben;

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den Beklagten zu verpflichten, die beantragte Zustimmung zu der beabsichtigten Kündigung der den Schwerbehinderten gleichgestellten Beigeladenen unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu bescheiden.

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Das beklagte Amt beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Es nimmt Bezug auf die angefochtenen Bescheide und verteidigt diese.

14

Die Beigeladene hat sich zur Sache nicht geäußert und auch keinen Antrag gestellt.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf die gewechselten Schriftsätze sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Beiakten A und B) Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige Klage, über die das Gericht mit Zustimmung der Beteiligten gem. § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist begründet.

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Die angefochtenen Bescheide sind - mit der Folge, dass über den Zustimmungsantrag vom Beklagten erneut zu entscheiden ist - rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, § 114 VwGO). Sie sind aufzuheben, weil die Hauptfürsorgestelle und der Widerspruchsausschuss des Beklagten den Umfang der ihm eingeräumten Entscheidungskompetenz verkannt haben.

18

Nach § 21 Abs. 4 SchwbG ist die Zustimmung zu einer beabsichtigten Kündigung zu erteilen, wenn die Kündigung aus einem Grunde erfolgen soll, der nicht im Zusammenhang mit der Behinderung des Schwerbehinderten bzw. eines Gleichgestellten steht, und eine atypische Fallgestaltung nicht vorliegt (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 2. Juli 1992 - 5 C 31.91 -, DVBl 1992, 1486 f [BVerwG 04.06.1992 - BVerwG 5 C 22/87]; daran anschließend OVG Lüneburg, Urteil vom 28. Oktober 1992 - 4 L 2706/92 - und Urteil vom 9. März 1994 - 4 L 3927/92 -, Nds. Ministerialblatt 1994, 150 - LS -). Von den vorgenannten Gerichten, denen die erkennende Kammer insoweit folgt, ist geklärt, dass die Hauptfürsorgestelle bei ihrer Entscheidung grundsätzlich den vom Arbeitgeber genannten Kündigungsgrund zugrunde zu legen und nicht, auch nicht im Wege einer "Schlüssigkeitskontrolle", zu prüfen hat, ob die Kündigung arbeitsrechtlich gerechtfertigt ist. Etwas anderes kommt nur dann ausnahmsweise in Betracht, wenn der Kündigungsgrund offensichtlich nur vorgeschoben ist. Davon kann im hier zu entscheidenden Fall nicht die Rede sein; die von der Klägerin zur Stützung der fristlosen Kündigung vorgebrachten Tatsachenbehauptungen sind nämlich nicht offensichtlich aus der Luft gegriffen. Denn wenn es zutreffen sollte, dass die Beigeladene am 21. August 2000 nicht arbeitsunfähig erkrankt war, wäre ihr Fernbleiben vom Dienst tatsächlich als Arbeitsverweigerung einzustufen, was grundsätzlich eine fristlose, mindestens aber fristgerechte Kündigung rechtfertigen könnte. Die Antwort auf diese Frage liegt entgegen der Ansicht der Klägerin nicht auf der Hand; durchaus denkbar ist es, im Wege der (vor dem Arbeitsgericht durchzuführenden) Beweisaufnahme den die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellenden Arzt als Zeugen zu hören. Demgegenüber steht dem Beklagten nicht die Befugnis zu, die inhaltliche Richtigkeit die er vom Arbeitgeber vorgebrachten Kündigungstatsachen selbst zu überprüfen, insbesondere eine (vorweg genommene) Beweiswürdigung vorzunehmen. Sähe man dies anders, liefe es darauf hinaus, dass wesentliche Teile des arbeitsgerichtlichen Streitverfahrens in das Verwaltungsverfahren vor der Hauptfürsorgestelle - und daran anschließend - in das verwaltungsgerichtliche Verfahren überführt würden. Für eine solche Verfahrensweise gibt es weder eine gesetzliche Grundlage noch entspräche sie dem gesetzgeberischen Willen bezüglich des Schwerbehindertenschutzes. Der besondere (Kündigungs-)Schutz des § 15 SchwbG ist den Schwerbehinderten nämlich zusätzlich zum allgemeinen arbeitsrechtlichen Schutz gegeben. Die bedeutet, dass der Schwerbehinderte, wenn die Hauptfürsorgestelle der Kündigung zugestimmt hat, zusätzlich noch die Arbeitnehmerrechte aus dem Kündigungsschutzgesetz in Anspruch nehmen und eine arbeitsgerichtliche Nachprüfung der Kündigung herbeiführen kann; etwa, ob sie sozial gerechtfertigt ist. Deshalb hat die Hauptfürsorgestelle nicht - gleichsam parallel zum Arbeitsgericht - über die Frage der Sozialwidrigkeit der Kündigung zu befinden. Bei der Entscheidung, ob Zustimmung erteilt oder versagt werden soll, können vielmehr nur solche Erwägungen eine Rolle spielen, die sich speziell aus dem Recht der Schwerbehindertenfürsorge herleiten. Rechtfertigen solche Erwägungen eine Versagung der Zustimmung nicht, so hat die behördliche Zustimmung dem Kündigenden diejenigen Rechtsstellung zu geben, die er hätte, wenn es keinen besonderen Kündigungsschutz für Schwerbehinderte gäbe. Dieser eindeutigen gesetzlichen Kompetenzregelung widerspräche es, wenn man - etwa aus dem Gedanken der Verfahrensbeschleunigung - zivilrechtliche Tatsachenbehauptungen des Arbeitgebers im Verfahren nach § 15 ff. Schwerbehindertengesetz einer Richtigkeitskontrolle unterzöge.

19

Auch wenn nach dem Vorstehenden alles dafür spricht, dass das beklagte Amt ermessensfehlerfrei nur die Zustimmung zur beabsichtigten Kündigung wird erteilen können, durfte kein entsprechender Ausspruch im Urteil erfolgen. Denn das Gericht ist an das eindeutig geäußerte Klagebegehren der Klägerin - Verpflichtung zur Neubescheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichtes - gebunden (§ 88 VwGO).

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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 und 188 Satz 2 VwGO. Da die Beigeladenen keinen Antrag gestellt hat und sich somit keinem Kostenrisiko ausgesetzt hat, entspricht es der Billigkeit, dass sie ihre eigenen Kosten selbst trägt.

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Die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, 711 ZPO: