Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 15.05.2003, Az.: 4 A 4130/02

Autismus; integrative Beschulung; sonderpädagogischer Förderbedarf; Sonderschule; Verfahrensfehler

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
15.05.2003
Aktenzeichen
4 A 4130/02
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48094
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Einzelfall einer Sonderschulüberweisung einer unter Autismus leidenden Schülerin; zur Frage der Beachtlichkeit von Verfahrensfehlern

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die am 06.07.1994 geborene Klägerin wehrt sich gegen ihre Überweisung an eine Sonderschule für Körperbehinderte durch die Beklagte [Bezirksregierung].

2

Die Klägerin leidet unter einer schweren autistischen Störung. Sie hat keine Sprache entwickelt und ist kaum in der Lage, zu anderen Menschen in eine Beziehung zu treten. Sie wurde im April 2001 für ein Jahr vom Schulbesuch zurückgestellt und befindet sich seitdem in einem von ihren Eltern organisierten Trainingsprogramm, das zwanzig Wochenstunden bei einer 1:1 - Betreuung durch ein aus mehreren Personen bestehendes Trainingsteam umfasst. Nach einem Bericht des Teamleiters vom 23.01.2002 hatte sie zu dieser Zeit gewisse Fortschritte erzielt, wobei sich Erfolge nur sehr langsam einstellten. Der Teamleiter empfahl für die Beschulung eine ständige 1:1 - Betreuung und die Bereitstellung eines gesonderten Raumes für Einzelfördermaßnahmen.

3

Am 05.03.2002 beantragten die Eltern der Klägerin die Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs. Am 06.03.2002 wurde eine Förderkommission eingerichtet.

4

Unter dem 19.03.2002 erstellten die Sonderschullehrerinnen [A] und [B], die die Klägerin in der Zeit vom 04. bis zum 06.03.2002 untersucht hatten, ein Beratungsgutachten. In diesem Gutachten kamen sie zu dem Ergebnis, Voraussetzung für die erfolgreiche Beschulung der Klägerin seien eine ständige 1:1 - Betreuung durch einen Einzelfallhelfer, die Erarbeitung eines individuellen Förderplans, die Betreuung des Einzelfallhelfers durch eine Sonderschullehrkraft, die Einbindung in eine kleine, überschaubare Gruppe sowie das Vorhandensein eines zusätzlichen Raumes für Einzelfördermaßnahmen. Die Sonderschullehrerinnen empfahlen eine Einschulung der Klägerin in die []-Schule, Sonderschule für Körperbehinderte, in []. Zwar lägen bei der Klägerin keine motorischen oder orthopädischen Auffälligkeiten vor. In der genannten Schule wären jedoch die nötigen Voraussetzungen für eine Beschulung gegeben. Um eine Fortführung des Trainingsprogramms zu Hause zu ermöglichen, solle die Klägerin nur halbtags beschult werden.

5

Am 15.05.2002 fand eine Sitzung der Förderkommission statt, an der die Schulleiterin der Grundschule [] (die Zeugin [C]), die Grundschullehrerin [D], die sachverständige Zeugin [B], die Eltern der Klägerin und weitere von diesen als Personen des Vertrauens hinzugezogene Personen teilnahmen. Die Förderkommission empfahl einstimmig festzustellen, dass bei der Klägerin sonderpädagogischer Förderbedarf vorliege. Sie empfahl mit der Mehrheit der Stimmen der teilnehmenden Lehrerinnen, die Klägerin in die []-Schule, Sonderschule für Körperbehinderte, einzuschulen. Die Eltern stimmten gegen diese Empfehlung und äußerten den Wunsch, die Klägerin integrativ beschulen zu lassen.

6

Mit Bescheid vom 20.06.2002 verpflichtete die Beklagte die Klägerin mit Wirkung zum 01.08.2002 zum Besuch der []-Schule, Schule für Körperbehinderte, in []. Sie stellte insbesondere darauf ab, dass die Klägerin über einen längeren Zeitraum hinweg umfassende Hilfen benötige, die ihr in den übrigen Schulformen nicht zuteil werden könnten.

7

Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin am 09.07.2002 Widerspruch ein. Am 03.08.2002 wurde sie in die Grundschule [] eingeschult. Bis zum 09.08.2002 nahm sie am Unterricht in drei verschiedenen Klassen des ersten Schuljahrgangs teil.

8

Durch Widerspruchsbescheid vom 08.08.2002 wies die Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung führte sie aus, der umfängliche sonderpädagogische Förderbedarf der Klägerin könne nur an einer Sonderschule für Körperbehinderte gedeckt werden. Eine integrative Beschulung in der Grundschule [] sei nicht möglich. Die Klägerin könne auch nicht in einer der beiden in [] bestehenden Integrationsklassen beschult werden, da diese nicht in der Lage seien, ein weiteres Kind aufzunehmen. Sie habe auch keinen Anspruch auf Einrichtung einer weiteren Integrationsklasse. Die Beklagte ordnete die sofortige Vollziehung des Bescheides vom 20.06.2002 an.

9

Am 16.08.2002 hat die Klägerin Klage erhoben und einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung dieser Klage gestellt. Sie wendet sich nicht gegen die Feststellung des sonderpädagogischen Förderbedarfs, sondern ausschließlich gegen die Anordnung ihrer Beschulung in der Sonderschule. Sie beruft sich auf Verfahrensmängel und rügt, der notwendige Bericht der künftigen Klassenlehrerin sei nicht erstellt worden, die Förderkommission sei nicht ordnungsgemäß besetzt gewesen und das Votum der Personen ihres Vertrauens sei bei der Abstimmung nicht berücksichtigt worden. Der Bescheid sei auch materiell rechtswidrig. Eine Umschulung würde die in [] geknüpften Kontakte unterbinden, was zu einer erheblichen Gefährdung ihrer psychischen und physischen Unversehrtheit führen würde. Die [Sonder]-Schule sei nicht in der Lage, eine gezielte und umfassende Betreuung zu leisten. Autismusspezifische Förderansätze bzw. eine entsprechende Förderplanung gebe es dort nicht. Die Tagesplanung beim Besuch der [Sonder]-Schule lasse eine Weiterführung der dringend notwendigen Therapie nicht zu. Demgegenüber biete der Besuch der Grundschule [] die besten Voraussetzungen dafür, Schule und außerschulische Förderung zu verknüpfen und die notwendige Zusammenarbeit zwischen den Therapeuten, dem Einzelfallhelfer, dem Elternhaus und der Schule zu organisieren. Die Grundschule [] verfüge auch über einen Betreuungsraum, der während des Unterrichts leer stehe. Die Beklagte habe die Entscheidung für eine Sonderschule nicht hinreichend begründet und die Interessen der Klägerin und ihrer Eltern nicht abgewogen. Sie habe gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz verstoßen, weil andere Kinder mit autistischer Behinderung integrativ beschult würden. Es sei durchaus möglich, sie als weiteres Kind in eine der in [] bestehenden Integrationsklassen aufzunehmen.

10

Das erkennende Gericht hat den Antrag der Klägerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes durch Beschluss vom 19.11.2002 (4 B 4131/02) mit der Maßgabe abgelehnt, dass der Beklagten aufgegeben wurde zu veranlassen, dass die Klägerin an der []-Schule, Sonderschule für Körperbehinderte, in [] nur halbtags beschult wird. Das Nds. Oberverwaltungsgericht hat die gegen diesen Beschluss erhobene Beschwerde der Klägerin durch Beschluss vom 10.01.2003 (13 ME 334/02) zurückgewiesen. Wegen des Inhalts der genannten Beschlüsse wird auf Blatt 82 ff. und Blatt 115 ff. der Gerichtsakte Bezug genommen.

11

Die Klägerin verfolgt ihr Begehren weiter. Sie beantragt,

12

den Bescheid der Beklagten vom 20.06.2002 und deren Widerspruchsbescheid vom 08.08.2002 aufzuheben.

13

Die Beklagte beantragt,

14

die Klage abzuweisen.

15

Sie ist der Auffassung, die Frage eines Formfehlers sei unerheblich, da nach Meinung aller Beteiligten sonderpädagogischer Förderbedarf der Klägerin bestehe. Im Übrigen wiederholt sie die Ausführungen in den angefochtenen Bescheiden.

16

Die Klägerin, die zuvor über längere Zeit hinweg erkrankt war, besucht seit der 15. Kalenderwoche des laufenden Jahres die [Sonder]-Schule in [].

17

Das Gericht hat über die Erfordernisse bei der Beschulung der Klägerin in der mündlichen Verhandlung Beweis durch Vernehmung der Sonderschullehrerinnen [A] und [B] als sachverständige Zeuginnen sowie der Rektorin der Grundschule [] [C] und der Einzelfallhelferin [E] als Zeuginnen erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt des Sitzungsprotokolls Bezug genommen.

18

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

19

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig.

20

Gemäß § 68 Abs. 1 Satz 1 NSchG sind Schülerinnen und Schüler, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen (§ 14 Abs. 2 Satz 1 NSchG) zum Besuch der für sie geeigneten Sonderschule und des für sie geeigneten Sonderunterrichts verpflichtet. Ein sonderpädagogischer Förderbedarf ist gemäß §§ 14 Abs. 2, 60 Abs. 1 Nr. 4 NSchG i. V. m. § 1 Abs. 1 der Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs vom 01.11.1997 (Nds. GVBl. S. 458; VO-SF) festzustellen, wenn aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung oder einer Beeinträchtigung des sozialen Verhaltens das Erreichen der Bildungsziele der betreffenden allgemeinbildenden Schule nicht oder nur durch sonderpädagogische Förderung möglich erscheint.

21

Gegenstand der Klage ist - wie der Prozessbevollmächtigte der Klägerin in der mündlichen Verhandlung nochmals klargestellt hat - nicht die von der Beklagten in den angefochtenen Bescheiden getroffene Feststellung, die Klägerin bedürfe einer sonderpädagogischen Förderung. Ein entsprechender Bedarf wird vielmehr von den Beteiligten einhellig bejaht. Das Gericht folgt dieser Auffassung unter Berücksichtigung des Inhalts der Akten der Beklagten und des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks. Die Klägerin setzt sich mit der Klage ausschließlich gegen die als weitere Regelung im Bescheid vom 20.06.2002 enthaltene Überweisung an eine Sonderschule für Körperbehinderte zur Wehr und strebt eine integrative Beschulung an einer Grundschule an.

22

Zur Begründung ihrer Anfechtungsklage beruft sich die Klägerin unter anderem darauf, das Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs sei fehlerhaft durchgeführt worden. Das Gericht bejaht einen Verfahrensfehler, hält ihn jedoch für unbeachtlich, so dass er die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Bescheide letztlich nicht berührt.

23

Das Verfahren bestimmt sich nach den Vorgaben der Verordnung zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs (a.a.O.) sowie der zu dieser Verordnung ergangenen Ergänzenden Bestimmungen (Erl. d. MK v. 06.11.1997, SVBl. 1997, S. 385). Gemäß § 2 Abs. 2 VO-SF beauftragt die Leiterin oder der Leiter der zuständigen Schule eine Lehrkraft, die die betreffende Schülerin oder den betreffenden Schüler unterrichtet oder voraussichtlich unterrichten wird, mit der Erstellung eines Berichts und holt ein Beratungsgutachten einer Sonderschule ein. Bericht und Beratungsgutachten sind gemäß § 3 VO-SF bei der Entscheidung der Schulbehörde zu berücksichtigen. Während im Fall der Klägerin ein Beratungsgutachten erstellt wurde, unterblieb die Anforderung eines Berichts der zukünftigen Klassenlehrerin der Klägerin.

24

Dieses Versäumnis begründet einen Verfahrensfehler, der jedoch weder zur Nichtigkeit noch zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide führt.

25

Gemäß § 44 Abs. 1 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) ist ein Verwaltungsakt nichtig, soweit er an einem besonders schwer wiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offensichtlich ist. Fehler im genannten Sinne sind solche, die in einem so schwer wiegenden Widerspruch zur geltenden Rechtsordnung und den ihr zugrunde liegenden Wertvorstellungen der Gemeinschaft stehen, dass es unerträglich wäre, wenn der Verwaltungsakt die mit ihm intendierten Rechtsfolgen hätte (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 7. Aufl. 2000, § 44 Rn. 8 m.w.N.). Im Unterlassen der Einholung eines Berichts der Klassenlehrerin liegt ein solch schwerwiegender Fehler nicht. Der Sachverhalt ähnelt vielmehr demjenigen des Unterbleibens der erforderlichen Mitwirkung einer anderen Behörde, für den die Rechtsfolge der Nichtigkeit gemäß § 44 Abs. 3 Nr. 4 VwVfG gerade nicht eintreten soll.

26

Der Verfahrensfehler führt auch nicht zur Rechtswidrigkeit der angefochtenen Bescheide. Allerdings ist eine Heilung im Sinne von § 45 VwVfG nicht dadurch eingetreten, dass die an der Grundschule [] tätigen Lehrerinnen, die die Klägerin im August 2002 nach ihrer Einschulung einige Tage lang unterrichtet haben, im November 2002 Berichte über diese Beschulung vorgelegt haben. Die Stellungnahmen äußern sich ausschließlich zu den Ereignissen während der insgesamt sechs Schultage und entsprechen inhaltlich nicht den Vorgaben gemäß Nr. 5 der Ergänzenden Bestimmungen zur VO-SF. Sie erfüllen daher nicht die Voraussetzungen, die an den durch die Verordnung vorgeschriebenen Bericht zu stellen sind, und sind nicht geeignet, diesen Bericht zu ersetzen.

27

Eine Aufhebung der Bescheide wegen des festgestellten Verfahrensfehlers kommt jedoch nicht in Betracht, denn es ist offensichtlich, dass die Verletzung der Verfahrensvorschrift des § 2 Abs. 2 VO-SF die Entscheidung der Beklagten in der Sache nicht beeinflusst hat (§ 46 VwVfG). Das Verfahren zur Feststellung sonderpädagogischen Förderbedarfs der Klägerin ist längere Zeit vor der geplanten Einschulung eingeleitet worden. Der notwendige Bericht der Lehrkraft wäre daher bei korrektem Verlauf des Verfahrens gleichfalls vor der Einschulung der Klägerin erstellt worden. Im Fall eines noch nicht eingeschulten Kindes sieht Nr. 5 der Ergänzenden Bestimmungen zur VO-SF einen nur eingeschränkten Inhalt des Berichts vor. Dieser soll lediglich eine Begründung des Vorschlages bzw. der Stellungnahme der Klassenkonferenz sowie Angaben zu den Rahmenbedingungen der Schule, den Vorstellungen und Wünschen der Erziehungsberechtigten und den familiären Gegebenheiten enthalten. Diese Umstände ergeben sich jedoch aus den Akten der Beklagten, so dass sie ihr bei ihrer Entscheidung über die zwischen den Beteiligten im vorliegenden Verfahren allein streitige Frage, wie die Beschulung der unzweifelhaft förderbedürftigen Klägerin zu erfolgen hat, bekannt waren. So existiert ein ausführlich begründeter, einstimmig gefasster Beschluss der Gesamtkonferenz der Grundschule [] vom 13.05.2002, dem sich die Gründe entnehmen lassen, aus denen sich die Schule nicht in der Lage sah, die Klägerin aufzunehmen. Zugleich sind die schulischen Rahmenbedingungen in diesem Beschluss dargelegt worden. Der Wunsch der Eltern der Klägerin, diese integrativ beschulen zu lassen, wird im Protokoll der Zeuginnen [A] und [B] über ein Gespräch mit den Eltern vom 06.03.2002 (Beiakte A Bl. 23) und im Protokoll der Sitzung der Förderkommission vom 15.05.2002 (Beiakte A Bl. 28) genannt. Auch die familiären Rahmenbedingungen lassen sich den Akten hinreichend deutlich entnehmen und waren der Beklagten bei ihrer Entscheidung bekannt. Es ist für das Gericht nicht denkbar, dass zusätzliche Äußerungen einer Lehrkraft der Grundschule [] zu diesen Punkten die Entscheidung, die Klägerin zum Besuch einer Sonderschule zu verpflichten, beeinflusst hätten. Das Fehlen des Berichts war daher für das Zustandekommen dieser Entscheidung nicht von Belang.

28

Der Umstand, dass eine Lehrkraft, die den Bericht gemäß § 2 Abs. 2 VO-SF erstellt hat, nicht existiert und daher der Förderkommission entgegen § 2 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 VO-SF nicht angehören konnte, führt zu einem Folgefehler, den die Kammer ebenfalls für unbeachtlich hält. Gemäß § 2 Abs. 3 S. 2 VO-SF i.V.m. Nr. 10 der Ergänzenden Bestimmungen zur VO-SF gibt die Förderkommission der Schulbehörde Empfehlungen zur Feststellung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs und zum weiteren Schulbesuch. Sofern es nicht zu einer einvernehmlichen Empfehlung kommt, sind der Schulbehörde die verschiedenen Auffassungen gemäß § 2 Abs. 4 S. 2 VO-SF mitzuteilen. Abgesehen davon, dass die Schulbehörde an die Empfehlung nicht gebunden ist, sondern sie gemäß § 3 VO-SF lediglich zu berücksichtigen hat, wäre es auch bei vorschriftsmäßiger Besetzung der Förderkommission mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht zu einer einvernehmlichen Empfehlung gekommen. Hierfür spricht entscheidend, dass die Zeuginnen [C] und [B], die an der Sitzung teilgenommen haben, dem Wunsch der Eltern der Klägerin nach deren integrativer Beschulung nicht folgen konnten, sondern die Überweisung in eine Sonderschule für Körperbehinderte befürwortet haben. Im Übrigen hat die Gesamtkonferenz der Grundschule [] die Möglichkeit einer integrativen Beschulung der Klägerin einstimmig verneint, so dass davon auszugehen ist, dass sich auch jede andere Lehrkraft der Schule in der Förderkommission für eine Überweisung in eine Sonderschule ausgesprochen hätte. Die Situation hätte somit derjenigen entsprochen, die auch die Beklagte im Zeitpunkt ihrer Entscheidung vorgefunden hat, und es erscheint offensichtlich, dass der Fehler bei der Besetzung der Förderkommission diese Entscheidung in der Sache nicht beeinflusst hat.

29

Entgegen der Auffassung der Klägerin liegt ein Verfahrensfehler nicht darin, dass die von ihren Eltern als Personen des Vertrauens zur Sitzung der Förderkommission hinzugezogenen Personen nicht in eine Abstimmung einbezogen worden sind. Diese Personen gehören der Förderkommission, die für die Erarbeitung einer Stellungnahme für die Schulbehörde zuständig ist, nicht an, sondern dürfen lediglich an ihren Sitzungen teilnehmen. Zudem kommt es auf das Ergebnis einer Abstimmung nur insoweit an, als bei Einstimmigkeit eine Empfehlung formuliert wird. Sind die Mitglieder unterschiedlicher Auffassung, so werden die jeweiligen Auffassungen - wie bereits angemerkt - der Schulbehörde mitgeteilt, ohne für sie im Sinne einer Mehrheitsentscheidung bindend zu sein.

30

Die nach den eingangs genannten Vorschriften grundsätzlich bestehende Verpflichtung der Klägerin zum Besuch der Sonderschule entfällt nicht gemäß § 68 Abs. 2 NSchG deshalb, weil die notwendige Förderung in einer Schule einer anderen Schulform gewährleistet ist (vgl. auch § 14 Abs. 2 Satz 1 NSchG). Zwar bestimmt § 4 NSchG, dass Schülerinnen und Schüler, die einer sonderpädagogischen Förderung bedürfen, an allen Schulen gemeinsam mit anderen Schülern erzogen und unterrichtet werden sollen. Integrationsmaßnahmen aller Art stehen jedoch in § 4 NSchG unter dem Vorbehalt, dass sie nur getroffen werden sollen und können, wenn auf diese Weise dem individuellen Förderbedarf entsprochen werden kann und soweit es die organisatorischen, personellen und sächlichen Gegebenheiten erlauben, für deren Schaffung das Land und der jeweilige Schulträger zuständig sind (vgl. OVG Lüneburg, Urt. v. 21.07.1999 - 13 L 2468/99 -, UA S. 11 f.; Schippmann in: Seyderhelm/Nagel/Brockmann, NSchG, Stand: September 2002, § 23 Anm. 6). Nach ihrem eindeutigen Wortlaut und ihrer systematischen Stellung enthält die Vorschrift nur eine Zielvorgabe und gibt allgemein die Richtung an, in der das Schulwesen im Land Niedersachsen weiter zu entwickeln ist. § 4 NSchG bildet demgegenüber keine Rechtsgrundlage für einzelne konkrete Maßnahmen und gewährt insbesondere keine individuellen Rechtsansprüche auf bestimmte Integrationsmaßnahmen wie z. B. einen integrativen Schulbesuch kombiniert mit einer gezielten Einzelförderung.

31

Vor diesem Hintergrund hat die Klägerin keinen Anspruch darauf, an der Grundschule [] integrativ beschult zu werden. Die Kammer ist nach dem Inhalt der Akten der Beklagten und aufgrund des Ergebnisses der Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der individuelle sonderpädagogische Förderbedarf der Klägerin an einer Grundschule nicht im notwendigen Umfang befriedigt werden kann. Nach dem von den sachverständigen Zeuginnen [A] und [B] erstellten Beratungsgutachten und deren Aussage in der mündlichen Verhandlung sind als Rahmenbedingungen für die erfolgreiche Beschulung der Klägerin angesichts der Schwere ihrer autistischen Störung u. a. eine ständige 1:1 - Betreuung durch einen Einzelfallhelfer im Rahmen sozialhilferechtlicher Eingliederungshilfe, die Erarbeitung eines individuellen Förderplans, die Betreuung des Einzelfallhelfers durch eine Sonderschullehrkraft sowie die Einbindung in eine kleine, überschaubare Gruppe notwendig. Das Gericht folgt dieser Einschätzung, aus der sich ergibt, dass die Grundschule [] unter den dort vorhandenen Bedingungen nicht in der Lage wäre, die im Fall der Klägerin notwendige besondere Förderung zu leisten.

32

Angesichts der Ausprägung der autistischen Störung ist die Kammer der Auffassung, dass es nicht ausreichen würde, der Klägerin im Unterricht eine Einzelfallhelferin oder einen Einzelfallhelfer zur Seite zu stellen. Wie die sachverständigen Zeuginnen [B] und [A] betont haben, ist eine Betreuung dieses Helfers durch eine Sonderschullehrkraft unerlässlich. Zur Erfüllung dieser Aufgabe wäre es erforderlich, aus einer der vorhandenen Sonderschulen eine Lehrkraft in nicht unerheblichem Umfang abzuziehen. Hierauf hat die Klägerin jedoch wegen der Unterversorgung aller fünf Sonderschulen im Bereich des Landkreises [] mit Lehrpersonal - der Grad der Unterrichtsversorgung beträgt nach den Angaben der Beklagten zwischen 92,0 % und 93,0 % - keinen Anspruch. Im Hinblick auf die Notwendigkeit einer Sicherstellung des Unterrichtsangebots in den Sonderschulen kann sie nicht mit Erfolg verlangen, dass in ihrem Interesse und zum Nachteil der Schülerinnen und Schüler der Sonderschulen dort pädagogische Fachkräfte zugunsten ihrer eigenen integrativen Beschulung abgezogen werden. Der mit einer integrativen Beschulung verbundene Aufwand darf nicht zu Lasten der Kinder gehen, deren Teilnahme an einem gemeinsamen Unterricht in einer Regelschule aufgrund der Art und des Grades ihrer Förderungsbedürftigkeit ausgeschlossen ist und die deshalb auf eine der besonderen Aufgabe entsprechend personell und sächlich angemessen ausgestattete Sonderschule angewiesen sind (BVerfG, Beschl. v. 08.10.1997 - 1 BvR 9/97 -, BVerfGE 96, 288; OVG Lüneburg, a.a.O., UA S. 16).

33

Hinzu kommt, dass nach der glaubhaften Aussage der Zeugin [C] in der Grundschule [] der erforderliche Rückzugsraum nicht vorhanden ist. Wie die als sachverständige Zeuginnen vernommenen Sonderschullehrerinnen hält auch das Gericht einen solchen Raum für unabdingbar. Er liegt im Interesse der Klägerin, die auf ihn angewiesen ist, um außerhalb des Klassenverbandes individuell gefördert zu werden, und ist wegen der motorischen Unruhe der Klägerin und des nahezu ununterbrochenen Äußerns von Lauten auch im Interesse eines geordneten Unterrichts für die übrigen Kinder der Klasse zwingend erforderlich.

34

Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf den Besuch einer Integrationsklasse. Im Bereich des Landkreises [] gibt es lediglich an zwei Schulen, der []- und der []-Schule in [], jeweils eine Integrationsklasse, deren Klassenstärke jeweils bei ca. 20 Schülerinnen bzw. Schülern liegt und in denen je drei bis vier behinderte Kinder beschult werden. Die Beklagte hat im gerichtlichen Verfahren und zuletzt in der mündlichen Verhandlung ausgeführt, eine integrative Beschulung der Antragstellerin als weiteres Integrationskind in einer dieser Klassen sei angesichts der personellen und räumlichen Gegebenheiten und der bereits bestehenden Zusammensetzung der Klassen aus schulfachlicher Sicht nicht durchführbar und nicht zu verantworten. Das Gericht hat keinen Anlass, an dieser Darstellung zu zweifeln, die unter Berücksichtigung des zwischen nicht behinderten und behinderten Kindern bestehenden Zahlenverhältnisses und des Behinderungsbildes der Schülerinnen und Schüler (Autismus, Down-Syndrom, Mehrfachbehinderung) nachvollziehbar und plausibel erscheint.

35

Ein subjektiv-öffentliches Recht auf Einrichtung einer weiteren Integrationsklasse steht der Klägerin gleichfalls nicht zu, denn der Anspruch auf Teilnahme an Integrationsmaßnahmen wird - wie bereits dargelegt - auch unter Berücksichtung des Gleichheitssatzes nur im Rahmen der vorhandenen Ressourcen gewährleistet, die vorliegend ausgeschöpft sind.

36

Schließlich erscheint dem Gericht die []-Schule, Sonderschule für Körperbehinderte, in [] auch die zur Beschulung der Klägerin geeignete Sonderschule. Die Sonderschulen verfügen über fachlich ausgebildetes Lehrpersonal für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Die Klägerin wird dort im Sinne der Empfehlungen ihres Therapeuten und der sachverständigen Zeuginnen [A] und [B] nach einem individuellen Förderplan beschult. Während die Klassenstärke der ersten Klassen an der Grundschule [] ca. 25 Schülerinnen und Schüler beträgt, wird die Klägerin an der Sonderschule für Körperbehinderte in einer Einzelklasse mit 6 Schülern bzw. in einer Doppelklasse mit bis zu 12 Schülern beschult, wobei die Doppelklasse von zwei Sonderschullehrkräften unterrichtet wird. Der erforderliche gesonderte Raum für die individuelle Förderung der Klägerin steht zur Verfügung. Die Beklagte hat in der mündlichen Verhandlung klargestellt, dass die angefochtenen Bescheide auch eine halbtags erfolgende Beschulung an der [Sonder]-Schule in [] erlauben. Die Klägerin findet an dieser Schule daher diejenigen Lern- und Förderbedingungen vor, die von ihrem eigenen Therapeuten und von den Sonderschullehrerinnen [A] und [B] als wünschenswert bezeichnet worden sind.

37

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

38

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.