Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 20.05.2003, Az.: 2 B 194/03
Antrag auf einstweilige Anordnung der Gewährung von Lebensunterhalt; Voraussetzungen einer Einstellung einer Hilfe zum Lebensunterhalt; Mitwirkungspflichten des Leistungsempfängers; Notwendigkeit einer amtsärztlichen Untersuchung für eine Entscheidung über die Gewährung von Lebensunterhalt
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 20.05.2003
- Aktenzeichen
- 2 B 194/03
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2003, 30105
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2003:0520.2B194.03.0A
Rechtsgrundlagen
- § 66 Abs. 1 SGB I
- § 62 SGB I
- § 123 Abs. 3 VwGO
Fundstelle
- info also 2003, 272-273 (Volltext)
Verfahrensgegenstand
Hilfe zum Lebensunterhalt
hier: Antrag nach § 123 VwGO
Prozessführer
A.
Rechtsanwalt B.
Prozessgegner
Landkreis Göttingen,
vertreten durch den Landrat, Reinhäuser Landstraße 4, 37070 Göttingen,
vertreten durch Stadt Göttingen,
vertreten durch den Oberbürgermeister, Hiroshimaplatz 1-4, 37083 Göttingen
Das Verwaltungsgericht Göttingen - 2. Kammer - hat
am 20. Mai 2003
beschlossen:
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, dem Antragsteller vorläufig ab dem 01. Mai 2003 Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu bewilligen.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Dem Antragsteller wird Prozesskostenhilfe ab Antragstellung bewilligt und Rechtsanwalt C. aus D. beigeordnet.
Gründe
Der Antrag des Antragstellers auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes hat Erfolg, da er sowohl einen Anordnungsgrund als auch einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht hat (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO).
Die Namens und im Auftrage des Antragsgegners handelnde Stadt Göttingen hat die bis dahin dem Antragsteller bewilligte laufende Hilfe zum Lebensunterhalt zu Unrecht ab Mai 2003 eingestellt, denn die Voraussetzungen des § 66 Abs. 1 SGB I, auf den die Stadt Göttingen diese Maßnahme stützt, liegen voraussichtlich nicht vor.
Gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen, wenn derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nachkommt und hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert. Die Stadt Göttingen beruft sich voraussichtlich zu Unrecht darauf, der Antragsteller sei seiner Mitwirkungspflicht nach § 62 SGB I dadurch nicht nachgekommen, dass er mehrfachen Aufforderungen - zuletzt mit Verfügung vom 14. April 2003-, sich einer Untersuchung durch den Fachbereich Gesundheit der Stadt Göttingen und des Antragsgegners zu unterziehen, nicht Folge geleistet habe.
Nach § 62 SGB I soll sich derjenige, der Sozialleistungen beantragt oder erhält auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers ärztlichen und psychologischen Untersuchungsmaßnahmen unterziehen, soweit dies für die Entscheidung über die Leistung erforderlich ist. Diese Voraussetzungen liegen nach der in diesem auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gerichteten Verfahren gebotenen summarischen Prüfung nicht vor. Denn die amtsärztliche Untersuchung ist nicht erforderlich, um über die Hilfe zum Lebensunterhalt für den Antragsteller zu entscheiden.
Aus dieser, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung tragende Formulierung folgt, dass eine Pflicht zur Untersuchung dort nicht besteht, wo auch einfachere, weniger belastende Maßnahmen eine Feststellung der maßgeblichen gesundheitlichen Verhältnisse erlauben. So erübrigt sich eine Untersuchung z.B. dann, wenn die erforderlichen Feststellungen durch die Beiziehung oder Vorlage eines ärztlichen Attestes getroffen werden können (Hauck/Haines, SGB I, § 62 RN 9). So ist es hier.
Der Antragsteller hat dem Antragsgegner eine ärztliche Bescheinigung der Fachärztin für Neurologie, Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalyse E. vom 27. Februar 2003 vorgelegt, aus der sich die gesundheitlichen Verhältnisse des Antragstellers ergeben. Die Kammer sieht keinen Grund, die Aussagen dieses Attestes anzuzweifeln.
Ausweislich des Attestes leidet der Antragsteller seit mindestens drei Jahren unter depressiven Episoden, z.T. mit psychotischen Merkmalen. Es sei deshalb eine kombinierte psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung eingeleitet worden. Seit Anfang November 2002 finde wegen Depression eine hoch dosierte antidepressive und neuroleptische Behandlung statt, an die sich eine tiefenpsychologisch fundierte hoch frequente Langzeittherapie anschloss. Der Antragsteller sei infolge der psychotischen Depression und der medikamentösen Nebenwirkungen in seiner Belastbarkeit erheblich eingeschränkt und bis auf weiteres nicht arbeitsfähig.
Inhaltliche Einwände erhebt die Stadt Göttingen gegen diese ärztliche Diagnose nicht. Solche sind auch für die Kammer nicht ersichtlich. Zu Unrecht leitet die Stadt Göttingen Zweifel an dem Attest daraus ab, dass dem Antragsteller bis auf weiteres eine Arbeitsunfähigkeit bescheinigt wird, er sich jedoch ausweislich der Akten regelmäßig auf freie Arbeitsstellen bewirbt, was die Arbeitsfähigkeit voraussetze.
Zum einen verkennt die Stadt Göttingen, dass die letzte derartige Bewerbung auf den 17. Februar 2003 datiert, das ärztliche Attest indes vom 27. Februar 2003 stammt, sodass die Bewerbung nicht notwendig in die Zeit der Arbeitsunfähigkeit des Antragstellers fällt.
Selbst wenn man annehmen wollte, der Antragsteller sei auch schon zu Zeiten arbeitsunfähig gewesen, in denen er sich um einen Arbeitsplatz bemüht hat, ist der Schluss von einer solchen Bewerbung auf vorhandene Arbeitsfähigkeit nicht statthaft.
Aus dem Attest ergibt sich nicht, dass der Antragsteller gesundheitlich nicht in der Lage wäre, Bewerbungen zu schreiben
Auch vermag die Selbsteinschätzung eines medizinischen Laien in die eigene Arbeitsfähigkeit gerade bei dem für den Antragsteller diagnostizierten Krankheitsbild schon für sich die Aussagen eines fachärztlichen Attestes nicht zu entkräften.
Ferner ist der Antragsteller nach §§ 18, 25 BSHG rechtlich gehalten, sich selbst auf dem freien Arbeitsmarkt um Arbeit zu bemühen, um eine Leistungskürzung zu vermeiden. Hierzu ist er von der Stadt Göttingen auch mehrfach aufgefordert worden, sodass ihm dieses Verhalten nach den Grundsätzen von Treu und Glauben von ihr nun nicht nachteilig vorgehalten werden darf. Es macht aus Sicht des Antragstellers auch durchaus Sinn, sich aktuell um einen Arbeitsplatz zu bemühen, denn ausweislich des ärztlichen Attests vom 27. Februar 2003 besteht, wie sich aus der Formulierung "bis auf Weiteres" ergibt, die Möglichkeit, dass der Antragsteller in absehbarer Zeit wieder arbeitsfähig wird.
Die angeordnete Untersuchung ist auch nicht deshalb im Sinne von § 62 SGB I erforderlich, weil festgestellt werden muss, ob der Antragsteller erwerbsunfähig im Sinne des Rentenversicherungsrechts ist und ihm möglicherweise Leistungen nach dem Grundsicherungsgesetz -GSiG- zustehen, die den Sozialhilfeleistungen vorgehen könnten. Zwar erlaubt § 62 SGB I auch Untersuchungen mit dem Ziel, die Möglichkeit einer anderen Sozialleistung zu prüfen. Dies gilt indes nicht für die Prüfung der Frage, ob dem Antragsteller Leistungen nach dem GSiG zustehen. Denn diese Feststellung hat voraussichtlich nicht der Sozialhilfe- bzw. Grundsicherungsträger in eigener Kompetenz zu treffen, sodass die Untersuchung insoweit schon aus Rechtsgründen nicht erforderlich ist.
Der Antragsteller bezieht keine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Ob er einen derartigen Rentenanspruch hat und damit zum Kreis der nach § 1 Nr. 2 GSiG Leistungsberechtigten zählt, hat gemäß § 5 Abs. 2 Satz 1 GSiG der nach § 109a Abs. 2 Satz 2 SGB VI zuständige Rentenversicherungsträger auf Ersuchen und auf Kosten des zuständigen Trägers der Grundsicherung zu prüfen (so auch die für den Antragsgegner verbindliche Regelung in Abschnitt 2 d) des Runderlasses des MFAS vom 23.12.2002 zur Ausführung des Gesetzes über die bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, Nds. MinBI. 2003,159). Dem Antragsgegner ist deshalb jedenfalls nach der für ihn verbindlichen Erlasslage eine eigene Prüfungskompetenz hinsichtlich des Vorliegens der Anspruchsvoraussetzungen nach dem GSiG verwehrt (in der Sache a.A. Schoch, Info also 2002, 217).
Da der Antragsteller derzeit keine Sozialhilfeleistungen erhält, auf diese für die Existenzsicherung aber angewiesen ist, hat er auch einen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1,188 Satz 2 VwGO.
Da die Rechtsverfolgung aus den vorstehenden Gründen hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet, ist dem Antragsteller für sein Begehren Prozesskostenhilfe ab Antragstellung zu bewilligen (§ 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO).
Rühling
Dr. Wenderoth