Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 06.02.2015, Az.: 12 C 3151/14

Kapazitätsberechnung; Überbuchung; Verhältnismäßigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
06.02.2015
Aktenzeichen
12 C 3151/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45052
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Überbuchungen über die festgesetzte Zulassungszahl hinaus sind grundsätzlich zulässig, insbesondere wenn das Maß der Überbuchung auf der Grundlage einer auf den Erfahrungswerten der Vorjahre beruhenden Prognose beruht.

2. Wertet die Hochschule bei der Überbuchungsprognose den zugrunde liegenden Sachverhalt nicht richtig aus und/oder wendet sie keine geeignete Methode zur Kapazitätsauslastung an und ist eine nachvollziehbare Orientierung an den Erfahrungswerten der Vorjahre nicht erkennbar, ist die Überbuchung unzulässig und nicht als kapazitätszehrend anzuerkennen.

3. Eine tatsächliche Überbuchung, die rechtlich nicht als kapazitätszehrend anzuerkennen ist, geht zu Lasten der Hochschule, solange sie die Grenzen der Verhältnismäßigkeit (Aufrechterhaltung des Lehrbetriebes) nicht überschreitet.

Gründe

Der Antrag der Antragstellerinnen, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO zu verpflichten, sie vorläufig, beginnend mit dem 1. Fachsemester im Wintersemester 2014/2015 im Studiengang Soziale Arbeit zuzulassen, hat Erfolg.

Die nach § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO mögliche Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis kann nur ergehen, wenn sowohl ein Anordnungsgrund (die Eilbedürftigkeit der begehrten Regelung) als auch ein Anordnungsanspruch (der materielle rechtliche Anspruch auf die erstrebte Rechtsfolge) glaubhaft gemacht worden sind (§§ 123 Abs. 1 S. 2 und Abs. 3 VwGO, 920 Abs. 2, 294 ZPO).

Die Antragstellerinnen haben den erforderlichen Anordnungsgrund glaubhaft gemacht, da sie das angestrebte Studium im Wintersemester 2014/15 aufnehmen wollen und dieses Semester bereits begonnen hat.

Die Antragstellerinnen haben auch einen Anspruch auf Zulassung zum Studium außerhalb der bestehenden Kapazitäten glaubhaft gemacht.

Ihre Anträge sind fristgerecht vor Ablauf der Ausschlussfrist des § 2  Abs. 2 Ziffer 2 b, Abs. 4  der Hochschulvergabeverordnung bei der Antragsgegnerin eingegangen.

Die Anträge auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes haben ebenso in materiell-rechtlicher Hinsicht Erfolg.

Im Studiengang Soziale Arbeit bei der Antragsgegnerin stehen zum Wintersemester 2014/2015 laut Zulassungszahlenverordnung - ZZVO - vom 3. Juli 2014 (Nds. GVBl. 2014, S. 180) auf der Grundlage der Kapazitätsberechnung der Antragsgegnerin 165 Studienplätze zur Verfügung. Auf diese Studienplätze sind 1.546 Bewerbungen eingegangen. Davon wurden 825 Bewerberinnen und Bewerber zugelassen, von denen letztlich 337 (Stand 28. Oktober 2014) immatrikuliert wurden.

Rechtsgrundlage des geltend gemachten außerkapazitären Zulassungsanspruches ist das sich aus Art. 12 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 Abs. 1 und Art. 20 Abs. 1 GG ergebende Kapazitätserschöpfungsgebot. Danach hat ein hochschulreifer Studienbewerber grundsätzlich einen Anspruch auf Zulassung zum gewünschten Studiengang am Studienort seiner Wahl (BVerfG, Urteil vom 18. Juli 1972 - 1 BvL 32/70 und 25/71 -, BVerfGE 33, 303 = NJW 1972, S. 1561; BVerwG, Urteil vom 23. März 2011 - 6 CN 3/10 -, NVwZ 2011, S. 1135 und juris). Dieses grundrechtliche Teilhaberrecht des Studienbewerbers ergibt sich einfachgesetzlich aus § 18 Niedersächsisches Hochschulgesetz - NHG - in der Fassung vom 26. Februar 2007 (Nds. GVBl. 2007, S. 69) und § 27 Hochschulrahmengesetz - HRG - in der Neufassung vom 19. Januar 1999 (BGBl. 1999, S. 18) und findet seine Schranke in der Kapazität in der Hochschule. Zulassungsbeschränkungen bedürfen einer gesetzlichen Grundlage. Für Niedersachsen liegen diese in Gestalt des Niedersächsischen Hochschulzulassungsgesetzes - NHZG - vom 29. Januar 1998 (Nds. GVBl. 1998, S. 51), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes vom 11. Dezember 2013 (Nds. GVBl. 2013, S. 287), der Niedersächsischen Verordnung über die Vergabe von Studienplätzen durch die Hochschulen (Hochschulvergabeverordnung)  vom 22. Juni 2005 (Nds. GVBl. 2005, S. 215), zuletzt geändert durch Verordnung vom 19. Juni 2014 (Nds. GVBl. 2014, S. 158) und die Verordnung über die Kapazitätsermittlung zur Vergabe von Studienplätzen (Kapazitätsverordnung - KapVO -) vom 23. Juni 2003 (Nds. GVBl. 2003, S. 222), zuletzt geändert durch Verordnung vom 23. Mai 2014 (Nds. GVBl. 2014, S. 145) in Verbindung mit der jeweiligen Zulassungszahlenverordnung vor. Ein Anspruch auf außerkapazitäre Zulassung kann sich danach nur ergeben, wenn die Kapazität fehlerhaft festgesetzt wurde und sich dieser Fehler auch zugunsten des Studienbewerbers auswirkt.

Dies haben die Antragstellerinnen vorliegend glaubhaft gemacht.

1) Überbuchung

Dabei ist zunächst der Umstand zu berücksichtigen, dass die Antragsgegnerin die festgesetzte Zulassungszahl im Studiengang  Soziale Arbeit (Bachelor) von 165 Studienplätzen weit, nämlich um 172 Studienbewerber überschritten hat. Diese Überbuchung ist rechtswidrig.

Überbuchungen über die festgesetzte Zulassungszahl hinaus finden ihre rechtliche Grundlage in § 5 Abs. 4 Hochschulvergabeverordnung, wenn sie vorgenommen werden, um voraussichtliche Nichtannahmen von Studienplätzen auszugleichen und dadurch nach Möglichkeit Nachrückverfahren zu vermeiden. Sie bezwecken in diesen Fällen die Ausschöpfung der Kapazität und sind daher grundsätzlich zulässig, insbesondere wenn das Maß der Überbuchung auf der Grundlage einer auf den Erfahrungswerten der Vorjahre beruhenden Prognose beruht (Nds. OVG, Beschluss vom 29. Juni 2004 - 2 NB 859/04 - und Beschluss vom 20. Februar 2013 - 2 NB 386/12 -, beide juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15. Juni 2011 - 13 C 55/11 -, juris; Hess. VGH, Beschluss vom 18. Januar 2001 - 8 GM 3131/00.SO.T -, juris; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 18. Juni 2008 - 1 N 1/07 - juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 14. April 2009 - OVG 5 NC 174.08 - juris; OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 18. August 2009 - 3 M 18/09 - juris, OVG Rheinland-Pfalz, Beschluss vom 27. September 2005 - 6 D 11152/09 - juris; im Ergebnis auch Zimmerling/Brehm: Hochschulkapazitätsrecht, Band 1, Der Kapazitätsprozess, Köln 2011, Rn 217 ff). Selbst wenn die vorgenommene Prognose das Annahmeverhalten im jeweiligen Semester um einiges verfehlt, so ist dies für eine Übergangszeit hinzunehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, a.a.O.). Dies gilt insbesondere, wenn im Vergleich zu den Semestern der Vorjahre eine genauere wirklichkeitsnähere Einschätzung erfolgt ist oder wegen besonderer Umstände der Rückgriff auf die Erfahrungswerte der Vorjahre nur bedingt tauglich ist (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 20. Februar 2013, a.a.O.). Andererseits darf die festgesetzte Zulassungszahl aber nicht als bloße variable Größe behandelt werden (OVG NRW, Beschluss vom 26. Januar 2011 - 13 B 1640/10 -, juris).

Das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom 20. Februar 2013, a.a.O.) hat zur Rechtmäßigkeit einer Überbuchung weiter ausgeführt: Rechtlich zu beanstanden sei eine Überbuchung erst dann, wenn sie rechtsmissbräuchlich gehandhabt werde, etwa um tatsächlich vorhandene Kapazitäten zu verschleiern oder um Prozesse, die eine verwaltungsgerichtliche Überprüfung festgesetzter Zulassungszahlen ermöglichen, zu verhindern; ein Hinweis darauf könne in der wiederholten deutlichen Überschreitung der Zulassungszahlen liegen. Die gerichtliche Überprüfung von Überbuchungsprognosen sei auf die Frage zu beschränken, ob der Sachverhalt zutreffend ermittelt und der Prognose eine geeignete Methode zugrunde gelegt worden sei. Dabei sei kein enger Maßstab anzulegen, da eine großzügige Überbuchung „kapazitätsfreundlich“ sei. Sie verliere diese aus der Sicht der Studierwilligen positive Eigenschaft auch nicht dadurch, dass sie zu Verschiebungen der Zulassungsquoten zwischen der Gruppe der Bewerber „zulassungsnaher Qualifikationen“ einerseits und der Gruppe der Eilantragsteller andererseits führe. Bei der Einschätzung des Annahmeverhaltens der zugelassenen Bewerber dürfe deshalb Raum gelassen werden für Prognosefehler zugunsten von Studienbewerbern mit „zulassungsnaher Qualifikation“. Für eine Argumentation mit mathematischer Scheingenauigkeit sei in diesem Zusammenhang deshalb von vornherein kein Raum.

Gemessen an diesen Vorgaben ist die deutliche Überbuchung der Antragsgegnerin rechtswidrig. Allein aus der Tatsache, dass eine Überbuchung von mehr als 100% vorliegt, lässt sich zwar nicht ableiten, dass die Antragsgegnerin Kapazitäten bewusst verschleiern oder gerichtliche Kapazitätsprozesse absichtlich verhindern wollte. Eine vor dem Hintergrund der Rechte aus Art. 12 Abs. 1 GG rechtswidrige Überbuchung liegt jedoch nicht erst bei einer absichtlichen, diese Ziele anstrebenden Außerachtlassung der festgesetzten Kapazität seitens der Hochschule vor. Eine solche Absicht lässt sich bei insoweit im Regelfall fehlenden Äußerungen nur schwerlich nachweisen. Deshalb muss die Hochschule gerade bei deutlichen Überbuchungen die Erwägungen und Prognosen, die dem Maß der Überbuchung zugrunde gelegen haben, näher darlegen. Von einer unzulässigen und damit nicht mehr als kapazitätszehrend anzuerkennenden Überbuchung ist danach dann auszugehen, wenn - wie ausgeführt - der der Prognose zugrundeliegende Sachverhalt nicht richtig ausgewertet und/oder keine geeignete Methode zur Kapazitätsauslastung angewendet wurde und eine nachvollziehbare Orientierung an den Erfahrungswerten der Vorjahre nicht erkennbar ist. Die Behauptungen der Antragsgegnerin, dass die Zahl der Zulassungen auf der Grundlage einer Schätzung anhand der Werte der Vorjahre beruhe, die Annahmebereitschaft der Studienbewerber dem Trend der Vorjahre widersprochen habe, die Hochschule ein zeitaufwändiges Nachrückverfahren habe vermeiden wollen und die weiteren Erläuterungen in den Schriftsätzen vom 16. Oktober, 17. und 19. November 2014 rechtfertigen die Überbuchung nicht. Ihnen liegen fehlerhafte Sachverhaltsannahmen zugrunde.

Die von der Antragsgegnerin vorgelegten Daten ergeben folgendes Bild:

Zulassungszahl

Bewerbungen

Zulassungen im Haupt-/Nachrückverfahren
(Zulassungsfaktor)

Immatrikulationen

Überbuchung in %

Verhältnis der Zulassungen zu den Immatrikulationen in %

WS 09/10

98    

843     

147/100 = 247  (2,5204)

171     

74,49 

69,23 

WS 10/11

88    

915     

176/100 = 276  (3,1364)

92    

4,55   

33,33 

WS 11/12

105     

1124   

290/42 = 332  (3,1619)

190     

80,95 

57,29 

WS 12/13

124     

1285   

372  (3)

144     

16,13 

38,71 

WS 13/14

147     

1247   

442/160 = 602  (4,0952)

172     

17,01 

28,57 

WS 14/15

165     

1546   

825  (5)

337     

104,24

40,85 

Die Zahlen belegen eine mehrfache deutliche Überschreitung der Zulassungszahlen. Dem Zahlenmaterial ist weiterhin für das laufende Semester weder die Anwendung einer geeigneten Zulassungsmethode noch die Orientierung an den Erfahrungswerten der Vorjahre zur Erreichung einer der festgesetzten Zulassungszahl sich annähernden Kapazitätsauslastung zu entnehmen. Obwohl es in den vergangenen Jahren immer wieder zu Überbuchungen in zum Teil ganz erheblichem Umfang gekommen ist (insbesondere im WS 09/10: 74,49 % und im WS 11/12: 80,95 %), hat die Antragsgegnerin im Verhältnis zur festgesetzten Zulassungszahl mit steigender Tendenz Zulassungen ausgesprochen. Während sie im WS 09/10 2,5 mal so viele Studienbewerber, wie festgesetzte Studienplätze vorhanden waren, zuließ, erhöhte sie diesen Faktor trotz der Überbuchung von 74,49 % in diesem Studiendurchgang in den folgenden Jahren auf 3,1364 (WS 10/11), 3,1619 (WS 11/12) und schließlich auf 4,0952 (WS 13/14) und 5 (WS 14/15). Dass es dabei nicht zu kontinuierlich immer weiter ansteigenden Überbuchungen kam, ist Folge des schwankenden Annahmeverhaltens der Studienbewerber in diesen Jahren. Das Annahmeverhalten (Gesamtbetrachtung des Hauptzulassungs- und Nachrückverfahrens eines jeden Zulassungsjahres) wies jedoch - entgegen der Darstellung der Antragsgegnerin - nicht in eine bestimmte Richtung, war insbesondere nicht stetig abnehmend, sodass es den von der Antragsgegnerin vorgenommenen starken Anstieg der Zulassungen im Verhältnis zur festgesetzten Zulassungszahl nicht zu rechtfertigen vermag. Wie der Aufstellung zu entnehmen ist, schwankte das Annahmeverhalten vielmehr von Jahr zu Jahr in verschiedene Richtungen und in verschiedenem Maße (von 69,23 bis 28,57 %). Dieser Umstand hätte einen zurückhaltenden prognostischen Umgang mit der Veränderung des Zulassungsfaktors nahegelegt und erfordert, wie er in den Wintersemestern 10/11, 11/12 und 12/13 auch erfolgte. Dies gilt umso mehr vor dem Hintergrund, als dass in diesen Jahren, trotz jeweils ca. 3-facher Zulassungen im Verhältnis zur festgesetzten Zulassungszahl wegen sehr unterschiedlichen Annahmeverhaltens auch sehr unterschiedlich hohe Überbuchungen (von 4,55 bis 80,95 %) zu verzeichnen waren. Die tatsächliche Vorgehensweise lässt eine ausreichende Umsetzung der Erfahrungen aus den Vorjahren somit nicht erkennen.

Die Begründung des diesjährig hohen Zulassungsfaktors 5 durch die Antragsgegnerin, man habe in jedem Fall ein langwieriges Nachrückverfahren vermeiden wollen, trägt demgegenüber nicht. Bis zum WS 13/14 haben bei einer Gesamtbetrachtung von Haupt- und Nachrückverfahren Zulassungen bis zum 4-fachen Umfang der festgesetzten Zulassungszahl jeweils zu erheblichen, zum Teil ganz außerordentlich hohen Überbuchungen geführt. Selbst bei einer großzügigen Prognose wären daher zur Vermeidung eines Nachrückverfahrens bei angemessener Berücksichtigung der Werte aus den vergangenen Jahre Zulassungen im Umfang von bis zum maximal 4-fachen der festgesetzten Zulassungszahl angemessen gewesen, denn Anhaltspunkte dafür, dass das Annahmeverhalten gerade im vorliegenden Jahr erneut gegenüber den Vorjahren abnehmen werde, hat die Antragsgegnerin nicht benannt und sind auch sonst nicht erkennbar. Einen ihr Vorgehen rechtfertigenden methodischen Ansatz hat die Antragsgegnerin darüber hinaus  nicht dargelegt. Die von der Antragsgegnerin vorgenommene Überbuchung ist daher nicht als kapazitätszehrend anzuerkennen.

 2) Kapazitätsberechnung

Zu prüfen ist daher, ob im von der Antragstellerin angestrebten Studiengang unter Außerachtlassung der Überbuchung eine über die festgesetzte Zulassungszahl hinausgehende Kapazität gegeben ist. Davon ist vorliegend auszugehen.

Bei der Ermittlung der jährlichen Aufnahmekapazität ist im ersten Verfahrensschritt unter Zugrundelegung der verfügbaren Stellen und Berücksichtigung von Lehrdeputatskürzungen und Lehrauftragsstunden das sog. unbereinigte Lehrangebot und weiter unter Abzug des Dienstleistungsexports das sog. bereinigte Lehrangebot der Lehreinheit Soziale Arbeit zu bestimmen. Daraus ist dann unter Ermittlung der Lehrnachfrage auf der Grundlage des für den zu berechnenden Studiengang Soziale Arbeit Bachelor bestehenden Curricularnormwertes unter Berücksichtigung des Dienstleistungsimports, der Anteilquoten der der Lehreinheit zugehörigen Studiengänge und des Schwundausgleichs die jährliche Aufnahmekapazität zu errechnen.

Anlass zur Annahme weiterer Kapazitäten in einem Umfang, der die vorläufige Zulassung der drei Antragstellerinnen rechtfertigt, bieten allein schon folgende ins Auge fallende Unstimmigkeiten bzw. fehlenden Begründungen im Bereich der Berechnung des Lehrangebotes, nämlich bei den Parametern der Lehrdeputatskürzungen und des Dienstleistungsexports, die die Antragsgegnerin nicht auszuräumen bzw. nachzuholen vermochte.

In der Stellenübersicht (Band I, Ziffer 4.1) sind die Lehrveranstaltungsstunden abzüglich der Deputatsreduzierungen angegeben (172). Diese sind in die Kapazitätsberechnung (WinKap-Aufstellung) übernommen worden. Zumindest zwei der dort ausgewiesenen Lehrdeputatskürzungen (Band II, Ziffer 3.1, Blatt D) stimmen jedoch nicht mit den per Präsidiumsbeschlüssen (Bd.I, Ziffer 4.4) verfügten Kürzungen überein. Bei den Mitarbeiterinnen Frau W. und Frau K. sind in den Erläuterungen (Bd. I Ziffer 4.4) Deputatskürzungen im Umfang von 8 LVS und 5,5 LVS angegeben, diese finden sich auch in der Berechnung wieder (Bd. II, Ziffer 3.1, Blatt D). Im Präsidiumsbeschluss vom 5. Februar 2013 wird für Frau W. eine Kürzung um 6 LVS (Bd. I Ziffer 4. 4.3) und im Präsidiumsbeschluss vom 15. Juli 2014 für Frau K. eine solche von 4 LVS (Bd. I Ziffer 4.4.2) beschlossen. Insgesamt sind damit Kürzungen im Umfang von 3,5 Lehrveranstaltungsstunden in die Berechnung eingeflossen, die nicht von den zugrundliegenden Beschlüssen gedeckt sind.

Die Antragsgegnerin hat hierzu ausgeführt, die Differenzen hätten sich aus systembedingten Eingabeschwierigkeiten ergeben. Für Frau W. und Frau K. seien die Beschlussmitteilungen des Präsidiums „unsauber formuliert“, weil bei den beschlossenen Deputatskürzungen noch von der ursprünglichen Lehrverpflichtung in Höhe von 16 LVS für Lehrkräfte für besondere Aufgaben und nicht von der Anhebung auf 18 LVS zum 2. August 2007 ausgegangen worden sei. Für das Ergebnis bzw. den Willen des Präsidiums sei dies aber nicht relevant, weil das Ziel bzw. die beabsichtigte Lehrverpflichtung eindeutig dargestellt werde.

Diese Begründung trägt nicht. Inhalt der Überlegungen und Entscheidungen des Präsidiums einer Hochschule zum Umfang einer zu bewilligenden Deputatskürzung ist die Frage, welches Gewicht bzw. welchen Umfang eine anderweitige Beschäftigung oder eine gegebene Belastung der jeweiligen Lehrkraft hat und welche Reduzierung ihrer Lehrverpflichtung - im Verhältnis hierzu - gerechtfertigt bzw. angemessen ist. Bei dieser Bewertung ist auch die Gesamtlehrverpflichtung der Lehrkraft ein wesentlicher Faktor. Eine entsprechende Abwägung hat das Präsidium in den Beschlüssen vom 5. Februar 2013 und 15. Juli 2014 aber bzgl. der genannten Mitarbeiterinnen nicht vorgenommen, weil es von  unzutreffenden Lehrverpflichtungen ausging. Die Beschlüsse beruhen daher auf einer falschen Tatsachengrundlage und sind nicht lediglich „unsauber formuliert“. Der Argumentation der Antragsgegnerin ist nicht zu folgen, weil sie diesen Umstand außer Acht lässt und gleichsam vom Ergebnis einer „Solllehrverpflichtung“ ausgeht statt nach dem  berechtigten Umfang der Deputatsreduzierung zu fragen. Die Reduzierung kann damit schon aus diesen Gründen nicht auf § 7 Abs. 2 LVVO gestützt werden, so dass auch insoweit nicht zu klären ist, ob den weiteren in der LVVO genannten Anforderungen Genüge getan ist.

Das unbereinigte Lehrangebot ist um die Dienstleistungen (Lehrveranstaltungen, die die Lehreinheit für nicht zugeordnete, also fremde Studiengänge zu erbringen hat, sog. Dienstleistungsexport) gemessen in Lehrveranstaltungsstunden zu reduzieren, § 11 KapVO. Hierzu wird der Bedarf der fremden Studiengänge an diesen Dienstleistungen berechnet. Der Berechnung werden die bisherigen Studienanfängerzahlen oder die voraussichtlichen Zulassungszahlen dieser fremden Studiengänge sowie die Anteile an der Lehrnachfrage, d.h. die Anteile am Curricularnormwert des jeweiligen fremden Studienganges, auf die die Dienstleistungen entfallen (Curricularfremdanteil = CAq, gem. § 13 Abs. 4 KapVO) zugrunde gelegt (§ 11 Abs. 1, Anlage 1, Formel 2 KapVO). Dabei ist auf die SWS, die die Lehreinheit für nicht zugeordnete Studiengänge erbringt, den Anrechnungsfaktor der jeweiligen Veranstaltungsart sowie auf die Gruppengröße der Veranstaltung abzustellen. Die Berechnung erfolgt nach der Formel

CAq = .

Vorliegend bestehen erhebliche Zweifel daran, dass die Antragsgegnerin diesen Vorgaben gerecht wurde, weil nicht erkennbar ist, ob sie dem dargestellten Berechnungsweg gefolgt ist.

Sie hat für die Berechnung des Abzugs für den Dienstleistungsexport im Umfang von 14 Semesterwochenstunden (Band II, Ziffer 1, Erl. 2.3.3) einen Wert von 5,9465 (Band II, Ziffer 3, Blatt B) in die Berechnung eingestellt. Hierzu hat sie vorgetragen, im Verhältnis zur Aufnahmekapazität dieses Studienganges ergebe sich ein CAq von 0,2308 (124/2 x 0,2308 = 14 SWS). In der WinKap-Berechnung (Soziale Arbeit) werden unter Anwendung eines Aq von 51,53 5,9465 SWS für den Dienstleistungsexport abgezogen. Die Benennung der Werte reicht nicht aus, um den Berechnungsweg nachzuvollziehen und noch weniger um ihn zu überprüfen. Es ist nicht erkennbar, ob die Antragsgegnerin dem rechtlich anerkannten Weg zur Bestimmung des Curricularfremdanteils des Studienganges, in den exportiert wird, gefolgt ist. Weitere Erläuterungen hat die Antragsgegnerin auf Nachfrage des Gerichts nicht vorgelegt bzw. vorlegen können. Ist der Nachweis für einen Dienstleistungsexport mithin nicht geführt, kann er für die Berechnung nicht anerkannt werden.

Unter Berücksichtigung der genannten zwei Mängel ergibt sich bei Unterstellung der Richtigkeit der übrigen Parameter auf der Lehrangebotsseite folgendes bereinigtes Lehrangebot:

verfügbare Stellen

18,0167

Lehrangebot

222,5006

Deputatskürzungen

- 47,00 (50,5 - 3,5)

Lehrauftragsstunden

+ 0     

 = unbereinigtes Lehrangebot: 175,5006 Lehrveranstaltungsstunden

Berücksichtigt man ferner den Dienstleistungsexport mangels Nachvollziehbarkeit nicht, so ergibt sich ein bereinigtes Lehrangebot von ebenfalls 175,5006 Lehrveranstaltungsstunden.

Bereits diese Erhöhung des von der Antragsgegnerin errechneten bereinigten Lehrangebotes führt zu einer Erhöhung der Aufnahmekapazität im Studiengang Soziale Arbeit Bachelor im laufenden Wintersemester 2014/15, die eine Zulassung der drei Antragstellerinnen ermöglicht. Bei den folgenden Rechenschritten übernimmt das Gericht daher die von der Antragsgegnerin angenommen Werte. Es ergibt sich auf dieser Grundlage folgende Aufnahmekapazität:

2 x bereinigtes Lehrangebot : Summe der gewichteten Curriculareigenanteile =

2 x 175,5006 : 1,7537  = 200,15.

Von den für die Lehreinheit Soziale Arbeit zur Verfügung stehenden 200,15 Studienplätzen entfallen entsprechend der Anteilquote von 0,7849 auf den Studiengang Soziale Arbeit Bachelor 157,0977 Plätze. Unter Anwendung der von der Antragsgegnerin angegebenen Schwundquote von 1,1077 errechnen sich 174,0162, d.h. 174 Studienplätze, mithin deutlich mehr als die festgesetzten 165 Studienplätze und als für die weitere Aufnahme der drei Antragstellerinnen erforderlich.

Nur ergänzend sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass auch gegenüber der weiteren Berechnung Bedenken bestehen.

Auf der Seite der Lehrnachfrage hat die Antragsgegnerin zwar die Curricularnormwerte aus der Anlage 3 der KapVO - Studienbereich Sozialwesen - (2,2 für Soziale Arbeit Bachelor und 1,1 für Soziale Arbeit Master) in ihre Kapazitätsberechnung übernommen. Sie hat allerdings die Annahme des Curriculareigenanteils von 1,9333 für den Studiengang Soziale Arbeit Bachelor (Band II, Ziffer 3.1, Blatt A) nicht erläutert. Aus ihrer Modellrechnung ergibt sich zudem der abweichende Wert von 1,4656 (rechnerisch richtig 1,3642). Die Modellrechnung weist weiterhin insgesamt einen von der KapVO abweichenden (internen) Curricularnormwert für den zu errechnenden Studiengang von 2,2267 (rechnerisch richtig 2,2215) aus. Diese Widersprüche hat die Antragsgegnerin auch auf Nachfrage des Gerichts nicht aufgeklärt bzw. aufklären können.

Auch die Angaben zum Dienstleistungsimport sind trotz der Erläuterungen der Antragsgegnerin im Schriftsatz vom 30. Januar 2015 nicht widerspruchsfrei.

3) „Tatsächliche“ Kapazität - Verhältnismäßigkeit weiterer Zulassungen

Dem Anspruch der Antragstellerinnen auf vorläufige Zulassung zum begehrten Studium steht nicht entgegen, dass die Antragsgegnerin über die festgesetzte Zulassungszahl und die oben genannten zusätzlichen Studienplätze hinaus tatsächlich 337 Studienbewerber in diesem Studiengang zum laufenden Wintersemester immatrikuliert hat. Auch wenn - wie ausgeführt - die Überbuchung nicht kapazitätszehrend ist, könnte die weitere vorläufige Zulassung der drei Antragstellerinnen die sich aus der tatsächlichen Immatrikulation ergebenden Rechte der Antragsgegnerin und der bereits Studierenden unverhältnismäßig beeinträchtigen, so dass eine weitere gerichtlich erstrebte vorläufige Zulassung rechtlich unmöglich ist. Dies ist jedoch nicht der Fall.

Die Bindung der Hochschule an die Zulassungszahl dient der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Hochschulbetriebes, also dem Schutz von Hochschule, Hochschullehrern und bereits immatrikulierten Studenten (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, a.a.O.). Grundsätzlich tritt daher die vorrangige Berücksichtigung berechtigter Studienbewerber nur dann zurück und ist, um ein mit Artikel 12 GG unvereinbares Ergebnis zu vermeiden, einem gegen die Hochschule klagenden Bewerber ein freier Studienplatz unabhängig von seiner Rangziffer zuzuweisen, wenn infolge unzureichender Kapazitätsermittlung vorhandene Studienplätze nicht in das Vergabeverfahren einbezogen worden sind und bei Einhaltung der normativ vorgegebenen Verteilungsmaßstäbe überhaupt ungenutzt blieben und unwiederbringlich verlorengingen (vgl. OVG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O.; OVG Sachsen-Anhalt, a.a.O.; OVG Berlin-Brandenburg, a.a.O.). Auch verfügt derjenige Bewerber, der durch die Überbuchung einen Studienplatz erhalten hat, nunmehr über eine Rechtsposition, die unter dem Aspekt des Teilhaberrechts bzw. der verfassungsrechtlichen Ausnutzung der Ausbildungskapazitäten ebenfalls dem Schutz des Art 12 Abs. 1 GG unterfällt; es würde seinerseits gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen, diesem Studenten den Studienplatz zu nehmen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, a.a.O.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, a.a.O.).

Eine tatsächliche Überbuchung, die rechtlich nicht als kapazitätszehrend anzuerkennen ist, geht jedoch zu Lasten der Hochschule, solange sie die Grenzen der Verhältnismäßigkeit nicht überschreitet. Das heißt, solange es der Hochschule möglich ist, den Lehrbetrieb in dem betroffenen Studiengang aufrecht zu erhalten und nicht erkennbar ist, dass die Zulassung weiterer Studienbewerber, die gerichtlichen Rechtsschutz beantragen, dieses unmöglich macht, kann ihrem Anspruch die Überbuchung nicht entgegengehalten werden. Dies ist vorliegend der Fall.

Die Antragsgegnerin hat zur gegenwärtigen Situation konkret vorgetragen, es fehle an ausreichend großen Hörsälen sowie kleineren Räumen und ausreichendem Lehrpersonal. Es gäbe noch ungelöste Probleme hinsichtlich der Abnahme von Prüfungsleistungen im Wintersemester 2015/16, hinsichtlich ausreichender Praktikumsplätze und ausreichender Beratung. Dadurch werde in einigen Bereichen die Qualität der Lehre, insbesondere durch Erhöhung von Gruppengrößen bei einzelnen Veranstaltungen gemindert und es würden die inhaltlichen Wahlmöglichkeiten eingeschränkt. Auf der anderen Seite hat sie angegeben, dass nach Lösungen sowohl im räumlichen wie im personellen Bereich gesucht werde. So gebe es einen (allerdings inzwischen schon überbelegten) Ausweichraum (das alte Kino Metropol). Auch sei ein Antrag auf Sicherung der Lehre des Fachbereichs an sie (Hochschulleitung) gestellt worden. Die Antragsgegnerin bemüht sich mithin - wie offensichtlich auch in den Vorjahren mit zum Teil erheblichen Überbuchungen - erneut, der Lage Herr zu werden und schließt Lösungen nicht aus. Diese Anstrengungen sind ihr wegen der von ihr zu vertretenden Überbuchung auch zuzumuten. Ausreichende Indizien für das Überschreiten der Funktionalitätsgrenze liegen nicht vor. Die Antragsgegnerin sieht sich insbesondere nicht zur Einstellung oder Teileinstellung des Lehrbetriebes im Studiengang Soziale Arbeit (Bachelor) gezwungen und erwägt auch weder Maßnahmen zur Verringerung der Anzahl der Studierenden noch zur Beantragung von außerordentlichen (hochschulexternen) Hilfsmitteln. Gegen die Annahme einer Überschreitung der Verhältnismäßigkeitsgrenze spricht auch, dass sie in den letzten Jahren offensichtlich die Überbuchungen bewältigt und in diesem Studienjahr eine weitere Überbuchung „nur“ zur Vermeidung von Nachrückverfahren in Kauf genommen hat. Auch konnte sie im Ergebnis ihre Kapazität in diesem Studiengang nahezu kontinuierlich ausbauen. Seit dem Wintersemester 2009/10 ist die Zulassungszahl von 98 auf 165 im laufenden Wintersemester gestiegen. Die Grenze der Aufrechterhaltung eines funktionsfähigen Lehrbetriebes ist damit weder überschritten noch erreicht. Dass es infolge der Überbuchung zu Einschränkungen und Quälitätseinbußen kommt, liegt angesichts der aller Voraussicht nach vorliegenden tatsächlichen (hinnehmbaren) Kapazitätsüberschreitung auf der Hand, ist aber nicht mit der hier maßgeblichen Grenze der Funktionsfähigkeit des Lehrbetriebes gleichzusetzen. Es liegen damit keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass die Belastungsgrenze der Antragsgegnerin bei Zulassung der drei Antragstellerinnen überschritten wird und damit unverhältnismäßig wäre.

Danach war den Anträgen der Antragstellerinnen mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 53 Abs. 3 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG.