Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 26.01.2010, Az.: 4 A 888/09

Behörde; Bestimmtheit; Betriebsgrundstück; Eisenbahnbundesamt; Gemengelage; Grenzwert; Hafen; Immissionsrichtwert; Immissionsschutzbehörde; Lärm; Lärmschutz; Mittelwert; Nachbar; nachträgliche Lärmschutzanordnung; TA-Lärm; Verhältnismäßigkeit; Wohngebiet; Zielvorgabe; Zuständigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
26.01.2010
Aktenzeichen
4 A 888/09
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2010, 48049
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Eine Lärmschutzanordnung in Form einer Zielvorgabe genügt den Bestimmtheitsanforderungen regelmäßig dann nicht, wenn die Richtwertüberschreitung auf Lärmemissionen beruht, die mehreren Anlagen zuzurechnen sind.

2. Zur Mittelwertbildung nach Nr. 6.7 TA-Lärm in Gemengelagen.

3. Zur Verhältnismäßigkeit nachträglicher Lärmschutzanordnungen.

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 22.09.08 und der Widerspruchsbescheid vom 29.01.09 werden aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind nicht erstattungsfähig.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die Klägerin wendet sich gegen eine nachträgliche Lärmschutzanordnung des Beklagten.

2

Die Klägerin betreibt in Bereich des 1914/15 erbauten Brinker Hafens eine Hafenbahn mit mehreren Schienensträngen, die letztmals unter dem 31.01.96 von der Landeshauptstadt Hannover eisenbahnrechtlich genehmigt wurde. Unmittelbar nördlich und südlich des Hafenbeckens verlaufen Ladestraßen, von denen aus Massengüter auf Kanalschiffe verladen werden. Neben den Rückständen der Aluminiumschmelze wird vorwiegend Schrott verladen, der u. a. im unmittelbar südlich an die Ladestraße angrenzenden Schottverarbeitungsbetrieb der E. GmbH & Co. KG sortiert und vorbehandelt wurde. Das Be- und Entladen erfolgt teils mit den stationären Kränen der Klägerin; überwiegend aber mit den mobilen Verladebaggern der E. GmbH & Co. KG, die sich im Verfahren 4 A 889/09 gegen eine nahezu identische Lärmschutzanordnung wendet.

3

Das Brinker Hafenbecken liegt nordöstlich des Mittellandkanals und wird von den Gleis- und Verladeanlagen der Klägerin umfasst. Weiter nördlich grenzen zwei weitere Schrottverarbeitungsbetriebe an, nordöstlich liegt das Gelände zweier Metallschmelzwerke. Auf der gegenüberliegenden Kanalseite befindet sich an der Friedenauer Straße und der Straße Wendehagen Wohnbebauung, zu der auch das seit dem Jahr 2000 mit einem Einfamilienhaus bebaute Grundstück der Beigeladenen F. gehört.

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Das Betriebsgrundstück der Klägerin liegt im Geltungsbereich des seit 1984 rechtsverbindlichen Bebauungsplanes Nr. 877 der Landeshauptstadt Hannover, der es nachrichtlich als Fläche für Bahnanlagen übernimmt. Das Grundstück der Beigeladenen liegt im Geltungsbereich des seit 1965 rechtsverbindlichen Bebauungsplanes Nr. 863, der hier ein reines Wohngebiet festsetzt.

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Auf Betreiben der Beigeladenen ließ der Beklagte im Jahre 2008 gutachterliche Untersuchungen der Lärmsituation durchführen. Nach den schalltechnischen Untersuchungen des Ingenieurbüros GTA, Gesellschaft für technische Akustik mbH vom 19.05. bzw. 02.07.08 erreichen die Geräuschimmissionen beim Verladen von Stahlschrott auf Binnenschiffe mit den mobilen Verladebaggern der E. GmbH & Co. KG am IP 1 bis zu 57,5 dB(A), am IP 2 sogar 60,4 dB(A).

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Nach vorheriger Anhörung gab der Beklagte der Klägerin mit Bescheid vom 22.09.08 u. a. auf, durch geeignete Maßnahmen sicherzustellen, dass beim Betrieb ihrer Anlage ein Immissionsrichtwert von 56 dB(A) tagsüber an den Immissionspunkten IP 1 und IP 2 nicht überschritten wird. Die für die Einhaltung dieses Lärmwertes erforderlichen Maßnahmen sollten bis zum 05.01.09 umgesetzt und ihre Wirksamkeit durch ein Messgutachten nachgewiesen werden. Dabei ging der Beklagte davon aus, dass eine Gemengelage vorliege und durch die Errichtung einer auch das Hafenbecken überspannenden Lärmschutzwand eine signifikante Reduzierung des Lärms um im Mittel 6 dB(A) erreicht werden könne.

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Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 29.01.09 zurück.

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Am 25.02.09 hat die Klägerin Klage erhoben, die sie im Wesentlichen wie folgt begründet: Sie habe bereits wirksame organisatorische Maßnahmen zur Lärmreduzierung umgesetzt. Die Errichtung einer Lärmschutzwand koste weit über 500.000,00 €, sei unverhältnismäßig und entspreche nicht dem Stand der Lärmminderungstechnik. Das Wohngebiet südlich des Kanals habe sich erst seit 1960 im Einwirkbereich der Lärmimmissionen des längst bestehenden Industriegebietes entwickelt. Es sei durch Verkehrwege und die Kanalschifffahrt lärmvorbelastet und könne allenfalls die Einhaltung eines "echten" Mittelwertes von etwa 60 dB(A) beanspruchen. Außerdem seien die Beigeladenen auf architektonische Selbsthilfe durch den Einbau von Schallschutzfenstern oder die Verlagerung sensibler Aufenthaltsbereiche in den Lärmschatten des Hauses zu verweisen. Letztlich sei der Immissionskonflikt bereits Gegenstand der Abwägung des Bebauungsplanes Nr. 877 gewesen und damit abschließend gelöst.

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Die im angefochtenen Bescheid gesetzte Ausführungsfrist sei gegenstandslos geworden.

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Die Klägerin beantragt,

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die Anordnung des Beklagten vom 22.09.08 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.01.09 aufzuheben.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und ergänzt: Die ausgewählten Immissionspunkte erfüllten beide die Vorgaben der TA Lärm. Der gebildete Mittelwert überschreite bereits das arithmetische Mittel der hier maßgeblichen Beurteilungswerte und könne nicht weiter heraufgesetzt werden. Eine Lärmschutzwand entspreche dem Stand der Technik und stelle, gemessen an der langen Betriebsdauer der Klägerin, eine verhältnismäßige Lärmminderungsmaßnahme dar.

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Die Beigeladenen stellen keinen Antrag.

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Im Rahmen der mündlichen Verhandlung hat die Kammer das Betriebsgrundstück der E. GmbH & CO. KG und die Verladeanlagen der Klägerin in Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.

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Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die als Anfechtungsklage nach § 42 Abs. 1 VwGO zulässige Klage hat auch in der Sache Erfolg. Die Anordnung des Beklagten vom 22.09.08 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 29.01.09 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO.

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Rechtsgrundlage der angefochtenen Lärmschutzanordnung ist § 24 BImSchG i. V. m. § 22 Abs. 1 BImSchG. Danach kann die zuständige Behörde Anordnungen treffen, wenn nichtgenehmigungsbedürftige Anlagen nicht so betrieben werden, dass nach dem Stand der Technik vermeidbare schädliche Umwelteinwirkungen nicht verhindert werden.

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Der Beklagte ist für den Erlass von Anordnungen nach § 24 BImSchG i. V. m. § 22 Abs. 1 BImSchG zuständig. Die Hafenbahn und deren Verladeanlagen stellen keine genehmigungsbedürftige Anlage i. S. der 4. BImSchV dar. Die Klägerin führt ihren Betreib auf der Grundlage der eisenbahnrechtlichen Erlaubnis der Landeshauptstadt Hannover vom 31.01.96 auf bereits planfestgestellten Gleisanlagen. Die Zuständigkeit des Beklagten ergibt sich aus Pkt. 8. 1 b) der Anlage zu § 1 Abs. 1 ZustVO-Umwelt-Arbeitsschutz. Zwar unterliegt der Bahnbetrieb der Klägerin nach § 5 Abs. 1a Nr. 2a des Allgemeinen Eisenbahngesetzes (AEG) auch der Eisenbahnaufsicht der Länder. Doch fehlt für nichtbundeseigene Eisenbahnen eine dem § 4 Abs. 2 AEG vergleichbare Vorschrift, nach der auch die Überwachung des Bahnbetriebes aufgrund anderer gesetzlicher Vorschriften außerhalb des Allgemeinen Eisenbahngesetzes ausschließlich dem Eisenbahnbundesamt obliegt. Für nichtbundeseigene Eisenbahnen beschränkt sich die Eisenbahnaufsicht nach § 5 Abs. 1 AEG auf die Beachtung des Allgemeinen Eisenbahngesetzes sowie der hiermit in Zusammenhang stehenden Verordnungen, europarechtlichen Vorschriften und zwischenstaatlichen Vereinbarungen betrifft. Für die Überwachung der immissionsschutzrechtlichen Vorgaben bleibt es dagegen bei der Zuständigkeit des Beklagten nach der ZustVO-Umwelt-Arbeitsschutz.

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Die angefochtene Anordnung vom 22.09.08 genügt jedoch nicht den formalen Anforderungen, die an eine Lärmschutzanordnung zu stellen sind; sie ist zu unbestimmt. Der Beklagte fordert von der Klägerin die Einhaltung eines Immissionsrichtwertes von tagsüber 56 dB(A) für das an der anderen Seite des Mittellandkanals gelegene Wohngebiet, überlässt es aber der Klägerin, die Mittel zu bestimmen, mit denen sie die Einhaltung dieses Wertes erreichen kann. Eine derartige Zielvorgabe ist zwar grundsätzlich zulässig und unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten zweckmäßig (vgl. Hansmann in Landmann/Rohmer, BImSchG, § 17 Rn 126 ff). Sie kann jedoch nur als bestimmt genug bezeichnet werden, wenn der betroffenen Anlagenbetreiber genau erkennen kann, welche Anstrengungen zur Lärmminderung konkret von ihm verlangt werden. Damit kommt eine Zielvorgabe nur in Situationen in Betracht, in denen die Richtwertüberschreitung ausschließlich auf die Lärmemissionen einer Anlage zurück geführt werden kann. Diese einschränkende Voraussetzung liegt hier nicht vor.

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Die vom Beklagten festgestellten pegelbestimmenden Lärmemissionen werden nicht allein vom Betrieb der Klägerin verursacht. Die Kammer konnte sich während ihrer Ortsbesichtigung ein Bild von den Betriebsabläufen sowohl im Verladebetrieb der Klägerin als auch im Betrieb der E. GmbH & Co. KG machen. Danach wird der angelieferte Schrott auf dem Betriebsgrundstück der E. GmbH & Co. KG, das direkt an der Ladestraße der Klägerin endet, vorbearbeitet, sortiert und zwischengelagert. Weitere Tätigkeiten finden auf dem Betriebsgrundstück der E. GmbH & Co. KG nicht statt und sind von deren Baugenehmigung auch nicht umfasst. Die E. GmbH & Co. KG ist somit für die von den Verarbeitung- und Sortiertätigkeiten auf ihrem Grundstück ausgehenden Lärmemissionen verantwortlich. Die besonders lärmintensiven Verladevorgänge gehen vom Betriebsgrundstück der Klägerin aus, die hier den planfestgestellten Betrieb einer Anschlussbahn führt. Zum Bahnbetrieb gehören auch Nebenbetriebsanlagen sowie sonstige Anlagen einer Eisenbahn, die das Be- und Entladen sowie den Zu- und Abgang ermöglichen und fördern. Gemeinsames Kriterium für eine objektiv zu bestimmende Zugehörigkeit zur Bahnanlage ist die sog. Eisenbahnbetriebsbezogenheit, d.h. die Verkehrsfunktion und der räumliche Zusammenhang mit dem Eisenbahnbetrieb (so BVerwG, Urt. v. 07.06.77 - 1 C 21.75 -, juris). Danach gehört das von den Bahnanlagen ausgehende Be- und Entladen der Binnenschiffe zum Bahnbetrieb der Klägerin, wobei es unerheblich ist, ob die Klägerin die Schrottverladung durch eigene Mitarbeiter und die vorhandenen schienegebundenen Kräne oder durch Mitarbeiter der E. GmbH & Co. KG und deren Bagger durchführen lässt. Den Verladelärm muss sich die Klägerin als Betriebslärm zurechnen lassen.

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Ist die Höhe der Immissionsbelastung aber von den Immissionsbeiträgen mehrerer Anlagen abhängig, ist eine schlichte Zielvorgabeanordnung ausgeschlossen. Denn der Adressat der Zielvorgabe wäre zu ihrer Verwirklichung auf die Zusammenarbeit und den "good will" sämtlicher Lärmverursacher angewiesen, die der Beklagte nicht verlangen und erst Recht nicht im Wege des Verwaltungszwangs erzwingen kann. Dem Bestimmtheitsgrundsatz würde nur die Festsetzung eines konkreten Lärmkontingents pro Verursacher gerecht werden, nicht aber die an alle Verursacher gerichtete gleichlautende Anordnung, gemeinsam einen Richtwert nicht zu überschreiten.

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Ob die materiellen Voraussetzungen für eine Anordnung nach § 24 BImSchG i. V. m. § 22 Abs. 1 BImSchG vorliegen, weil vom Verladebetrieb der Klägerin schädlichen Umwelteinwirkungen für die Nachbarschaft ausgehen, kann die Kammer nicht feststellen. Schädliche Umwelteinwirkungen in diesem Sinne sind Immissionen - zu denen nach § 3 Abs. 2 BImSchG auch anlagenbedingte Geräuschimmissionen gehören -, die nach Art, Ausmaß oder Dauer geeignet sind, Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche Belästigungen für die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft herbeizuführen (§ 3 Abs. 1 BImSchG). Dabei bestimmt sich der Begriff der Nachbarschaft in räumlicher Hinsicht nach dem Einwirkungsbereich der immissionsschutzrechtlichen Anlage. "Schädliche Umwelteinwirkungen" durch Geräusche und eine dadurch verursachte "erhebliche" Lärmbelästigung im Sinne des § 3 Abs. 1 BImSchG liegen regelmäßig dann vor, wenn die Immissionsrichtwerte der auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG erlassenen und auf genehmigungsbedürftige Anlagen anwendbaren TA Lärm vom 26.08.98 (GMBl. Seite 503) - TA Lärm 1998 - überschritten werden. Bei der TA Lärm 1998 handelt es sich um eine normkonkretisierende Verwaltungsvorschrift, die ein einheitliches Ermittlungs- und Beurteilungssystem zur Feststellung der maßgeblichen Geräuschkenngrößen sowie bestimmte Immissionsrichtwerte als Zumutbarkeitsmaßstab festlegt (so OVG Lüneburg, Urt. v. 21.01.04 - 7 LB 54/02 -, BauR 2004, 1419). Die TA Lärm ist für die Verwaltungsbehörde und auch für die Verwaltungsgerichte grundsätzlich verbindlich (BVerwG, Urt. v. 29.08.07 - 4 C 2.07 -, juris; OVG Lüneburg, Urt. v. 21.01.04, a. a. O.).

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Zu Unrecht geht der Beklagte davon aus, dass die Bewohner der südlich des Mittellandkanals gelegenen Wohngebiete grundsätzlich den Schutzanspruch eines reinen Wohngebietes beanspruchen können. Die TA Lärm sieht in Nr. 6.1 für verschiedene Baugebiete Immissionsrichtwerte für Immissionsorte außerhalb von Gebäuden vor, die Anhaltspunkte für das Maß der jeweils zumutbaren Lärmimmissionen liefern. Die Schutzwürdigkeit des Wohnhauses der Beigeladenen (IP 1) orientiert sich zwar grundsätzlich an den Richtwerten für ein reines Wohngebiet (tags 50 dB(A), vgl. Nr. 6.1 Satz 1 Buchst. e) TA Lärm), denn es liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. 863 der Landeshauptstadt Hannover, der das betreffende Gebiet als reines Wohngebiet ausweist. Der IP 2 liegt im Geltungsbereich des Bebauungsplanes Nr. 871 der Landeshauptstadt Hannover, der diesen Bereich ebenfalls als reines Wohngebiet ausweist. Die in Nr. 6.1. TA Lärm genannten Werte stellen jedoch nur Richtwerte dar, d. h. von ihnen kann für Sonderfälle abgewichen werden. Hier liegen beide Immissionspunkte am Rande der festgesetzten Wohngebiete, in erster Reihe am Mittellandkanal und damit in unmittelbarer Nachbarschaft des nördlich angrenzenden Industriegebietes. Daher weist ihnen der seit 1984 rechtsverbindliche Bebauungsplanes Nr. 877 der Landeshauptstadt Hannover, mit dem für die im Industriegebiet gelegenen Flächen ein flächenbezogenen Schallleistungspegel vom 60 dB(A) tagsüber und 55 dB(A) nachts ausgewiesen wird, auch nur den Schutzstatus eines allgemeinen Wohngebietes zu. Diese planungsrechtliche Entscheidung wird von den Beteiligten nicht in Frage gestellt. Die Kammer orientiert sich bei der Bestimmung der Schutzwürdigkeit der unmittelbar südlich des Mittellandkanals gelegenen Wohnbebauung am Richtwert der TA-Lärm für ein allgemeines Wohngebiet von tagsüber 55 dB(A). Der Beklagte fordert - von den Beigeladenen unbeanstandet - sogar nur die Einhaltung eines Richtwertes von 56 dB(A).

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Ob die vom Verladebetrieb der Klägerin ausgehenden Lärmemissionen diesen Richtwert überschreiten, kann die Kammer nicht feststellen. Denn ein Lärmgutachten für die vom Betrieb der Klägerin verursachten Geräusche hat der Beklagte nicht erstellen lassen. Die Kammer bezweifelt, ob der vom Lärmgutachten der GTA vom 19.05. bzw. 02.07.08 ausgewiesene Lärmpegel für das Verladen von Stahlschrott am stärksten betroffenen Immissionspunkt IP 2, 1. Obergeschoss von 60,4 dB(A) tatsächlich aussagekräftig ist (S. 17 des Gutachtens). Denn das Gutachten betrachtet neben den Lärmemissionen des Verladebetriebes durch Bagger und Personal der E. GmbH & Co. KG auch die von dieser Firma verursachten Schrottplatzgeräusche. Die letztgenannten Lärmemissionen müssten aber bei einer Begutachtung der vom Ladebetrieb der Klägerin verursachten Geräusche außen vor bleiben.

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Doch selbst wenn die Kammer eher zugunsten des Beklagten von Geräuschimmissionen des Verladebetriebs der Klägerin von 60,4 dB(A) ausgehen würde, rechtfertigte dies nicht die angefochtenen Anordnung. Denn das GTA-Gutachten sieht den nach Nr. 6.9 TA Lärm vorgeschriebenen Messabschlag für Überwachungsmessungen nicht vor. Dieser Messabschlag bezieht sich auf Messungen, die veranlasst werden, um festzustellen, ob Anordnungen oder sonstige Eingriffe gegenüber bestehenden Anlagen zur Aufrechterhaltung eines ordnungsgemäßen Betriebes erforderlich sind. Er soll gewährleisten, dass derartige Maßnahmen nur dann getroffen werden, wenn Rechtsverletzungen aufgrund von Lärmimmissionen mit ausreichender Sicherheit anzunehmen sind (vgl. Hansmann in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, Bd. II, 3.1 TA Lärm, Nr. 6 Rn 35 ff.). Der Messabschlag trägt dem Umstand Rechnung, dass in die Berechnung Messwerte einfließen, die wegen geräte- und umweltbedingter Toleranzen Wahrscheinlichkeitsgrößen sind, mit der Folge, dass auch das Berechnungsergebnis selbst eine gewisse Unsicherheit aufweist. Im Überwachungsverfahren soll mit dem Abzug von 3 dB(A) jegliches Risiko eines rechtswidrigen Eingriffes vermieden werden (so BVerwG, Urt. v. 29.08.07, - 4 C 2/07 -, juris).

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Die GTA-Messung ist in der Vorbereitung einer nachträglichen Lärmschutzanordnung für den bereits seit langem bestehenden Betrieb der Klägerin durchgeführt worden. Der Messabschlag ist daher zu beachten. Danach würden die relevanten Geräuschimmissionen 57,4 dB(A) erreichen und den angeordneten Richtwert lediglich um 1,4 dB(A) überschreiten.

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Mit Blick auf die vom Beklagten vorgeschlagenen Lärmschutzmaßnahmen würde sich die angefochtene Zielvorgabe als unverhältnismäßig i. S. d. § 24 BImSchG erweisen, für den anders als bei § 17 Abs. 1 Satz 2 BImSchG die Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht durch eine „Soll-Vorschrift“ eingeschränkt ist. Der für die Klägerin mit der Erfüllung der Anordnung verbundene Aufwand würde nach Auffassung der Kammer außer Verhältnis zu dem mit der Anordnung angestrebten Erfolg des Schutzes der Nachbarschaft stehen. Die Klägerin hat - unwidersprochen - vorgetragen, dass sie die für die Erfüllung der Anordnung mindestens 500.000,00 € aufwenden müsste. Demgegenüber stünde die - kaum hörbare - Lärmreduzierung um 1,4 dB(A), denn mehr ist auch nach Auffassung des Beklagten nicht geschuldet. Außerdem würde die Wand Verladevorgänge leiser machen, die ohnehin nur an Werktagen zwischen 7:00 Uhr und 16:30 Uhr stattfinden können und nie den ganzen Tag andauern. Für die besonders lärmsensiblen Abend-, Nacht- und Wochenendzeiten wäre die Schallschutzwand wirkungslos.

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Zudem müsste die vorgeschlagene Lärmschutzmaßnahme wenigstens in Versuchen erfolgreich erprobt sein, wenn im Betrieb mit Erfolg erprobte Vergleichsmaßnahmen fehlen. Der Beklagte konnte auf Nachfrage der Kammer keine ein Hafenbecken überspannende Lärmschutzwand nennen. Er nimmt insoweit lediglich auf das GTA-Gutachten Bezug, das die Wirksamkeit einer derartigen Schallschutzwand errechnet. Nach Auffassung der Kammer ist es aber ebenfalls unverhältnismäßig, den Anlagenbetreiber mit dem Risiko zu belasten, ob eine noch nicht erprobte Maßnahme tatsächlich erfolgversprechend ist (vgl. dazu Kutscheidt, Landmann/Rohmer, BImSchG, § 3 Rn 29).

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Darüber hinaus weist die Kammer darauf hin, dass auch der vom der Beklagte gebildete Mittelwert von tagsüber 56 dB (A) in der hier vorliegenden Gemeingelage einer rechtlichen Überprüfung nicht standhalten würde. Nach Nr. 6.7 TA-Lärm können, wenn gewerblich, industriell oder hinsichtlich ihrer Geräuschauswirkungen vergleichbar genutzte und zum Wohnen dienende Gebiete aneinandergrenzen (Gemengelage), die für die zum Wohnen dienenden Gebiete geltenden Immissionsrichtwerte auf einen geeigneten Zwischenwert der für die aneinandergrenzenden Gebietskategorien geltenden Werte erhöht werden, soweit dies nach der gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme erforderlich ist. Die Immissionsrichtwerte für Kern-, Dorf- und Mischgebiete sollen dabei nicht überschritten werden. Es ist vorauszusetzen, dass der Stand der Lärmminderungstechnik eingehalten wird.

32

Der Beklagte ist zutreffend von einer Gemengelage ausgegangen. Sie ergibt sich daraus, dass die Lärmemissionen des Industriegebietes am Brinker Hafen auf die Wohnbebauung südlich des Mittellandkanals einwirken mit der Folge, dass industrielle Nutzung einerseits und Wohnnutzung andererseits mit einer gegenseitigen Pflicht zur Rücksichtnahme belastet sind. Ein unmittelbares Aneinandergrenzen der unterschiedlichen Gebiete ist dabei nicht erforderlich (vgl. Urt. der Kammer v. 08.04.08, - 4 A 4872/06 - m. w. N.). Es ist daher unbeachtlich, dass zwischen den Gebieten der Mittellandkanal verläuft.

33

Bei der Ermittlung der für die aneinander grenzenden Gebiete geltenden Immissionsrichtwerte hätte der Beklagte berücksichtigen müssen, dass das Betriebsgelände der Klägerin als Fläche für Bahnanlagen ausgewiesen ist, für das der in einem bauplanungsrechtlich festgesetzten Industriegebiet nach Nr. 6.1 Satz 1 Buchst. a) TA Lärm vorgesehene Richtwert von tagsüber 70 dB(A) allenfalls als Anhaltspunkt dienen kann. Dagegen können die Bewohner der südlich des Mittellandkanals gelegenen Wohngebiete nicht den Richtwert für ein reines Wohngebiet, sondern - wie oben ausgeführt - nur für ein allgemeines Wohngebiet beanspruchen. Ein geeigneter Zwischenwert für die noch zumutbare Lärmbelastung wäre tagsüber wohl zwischen 70 dB(A) - oder höher - und 55 dB(A) anzusiedeln und müsste nach Nr. 6.7 Abs. 2 Satz 1 und 2 TA Lärm berücksichtigen die Prägung des Einwirkungsgebietes durch den Umfang der Wohnbebauung einerseits und durch Gewerbe- und Industriebetriebe andererseits, die Ortsüblichkeit eines Geräusches und die Frage, welche der unverträglichen Nutzungen zuerst verwirklicht wurde.

34

Der Beklagte hätte also zu berücksichtigen, dass das arithmetische Mittel zwischen den Immissionsrichtwerten erst bei etwa 62 dB(A) überschritten wäre. Zudem kann sich die Klägerin zu ihren Gunsten auf das Kriterium der zeitlichen Priorität berufen. Ihr Betriebsgelände wird seit 1917 als Ladezone für den Brinker Hafen genutzt. Die Wohngebiete südlich des Mittellandkanals sind erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Die Wohnnutzung wurde erst in Kenntnis der anderen längst bestehenden unverträglichen Nutzung aufgenommen und ist damit vorbelastet. Eine weitere Vorbelastung für das Wohngebiet der Beigeladenen ergibt sich durch den Mittellandkanal, bei dem es sich in erster Linie um eine "Autobahn" für die Binnenschifffahrt und nicht um ein idyllisches Freizeitgewässer handelt. Zu beachten ist weiter, dass die von der Klägerin betriebene Anschlussbahn auf die Verbindung zum Mittellandkanal und die Lage des Hafenbeckens in einer besonderen Weise angewiesen ist und eine Aussiedlung des Verladebetriebes nicht in Frage kommt. Industriegeräusche sind in der Umgebung eines Hafenbeckens ortsüblich und angesichts der Ausdehnung des nördlich des Mittellandkanals gelegenen Industriegebietes auch prägend.

35

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1, § 162 Abs. 3 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 711 Satz 1 ZPO.