Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 27.04.2006, Az.: L 13 VG 4/04
Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) auf Grund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit; Anforderungen an die Glaubhaftmachung des sozialen Leistungsanspruchs; Möglichkeit des Vorliegens eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs bei sexuellen Missbrauch ohne Gewaltanwendung; Ermittlung des Ursachenzusammenhangs zwischen sexuellen und gewaltsamen Übergriffen in der Kindheit und den im Erwachsenenalter festgestellten posttraumatischen Belastungsstörungen
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 27.04.2006
- Aktenzeichen
- L 13 VG 4/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 20469
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2006:0427.L13VG4.04.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Oldenburg - 24.06.2004 - AZ: S 16 V 317/99
Rechtsgrundlagen
- § 1 OEG
- § 1 Abs. 1 S. 1 OEG
- § 6 Abs. 3 OEG
- § 15 Abs. 1 KOVVfG
Redaktioneller Leitsatz
Ein rechtswidriger tätlicher Angriffs im Sinne von § 1 Abs. 1 OEG liegt auch bei dem sexuellen Missbrauch eines Kindes vor, selbst wenn dabei keine Gewalt im strafrechtlichen Sinne ausgeübt wird.
Tenor:
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. Juni 2004 aufgehoben. Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 1999 verurteilt, bei der Klägerin das Vorliegen einer "dissoziativen Identitätsstörung" als Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und ab 1. Januar 1999 Leistungen nach einer MdE von 60 v. H. zu erbringen.
Der Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten der Klägerin.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
Zwischen den Beteiligten ist vor allem streitig, ob die Klägerin einen Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) auf Grund sexuellen Missbrauchs in der Kindheit hat.
Die am 16. Dezember 1959 geborene Klägerin, bei der nach dem Schwerbehindertengesetz durch Bescheid des Versorgungsamts Oldenburg vom 2. November 1994 ein Grad der Behinderung von 50 festgestellt worden ist, bezieht seit August 1996 eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit. Sie durchlief von 1974 bis 1977 eine Ausbildung zur Friseurin und war als solche bis 1985 tätig. In den Jahren 1985 bis 1987 hielt sie sich in einem Kloster auf und arbeitete dort teilweise mit psychisch Kranken. Von 1987 bis 1990 ließ sie sich zur Ergotherapeutin umschulen. Als solche war sie - mit Unterbrechungen - bis zum Rentenbeginn beruflich tätig.
Einen ersten Antrag nach dem OEG stellte die Klägerin im Juni 1997. Sie gab an, in den Jahren 1961 bis 1972 anhaltend und wiederholt sexuell missbraucht worden zu sein, und zwar durch den Vater und mehrere Nachbarn. Der Beklagte zog daraufhin mehrere ärztliche Berichte bei. In dem Entlassungsbericht vom 16. August 1993 über ein in der I. -Klinik, J., in der Zeit vom 10. März bis 3. August 1993 durchgeführtes Heilverfahren ist die Diagnose "neurotische Depression mit Angstsymptomatik" enthalten. Nach dem Bericht gab die Klägerin an, in einer ambulanten Psychotherapie sei der Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch einen Nachbarn aufgetaucht. In dem Entlassungsbericht ist weiter angegeben, während der Therapie sei deutlich geworden, dass neben dem von der Klägerin erwähnten Missbrauch schon seit dem frühesten Kindesalter mehrfache Missbräuche durch Familienmitglieder stattgefunden hätten. Ein weiterer Entlassungsbericht dieser Klinik vom 8. Juni 1994 (stationäre Behandlung vom 6. Januar bis 31. Mai 1994) geht von der Diagnose eines posttraumatischen Stresssyndroms mit autoaggressiven und dissoziativen Zügen bei Borderline-Persönlichkeit aus. Die Klägerin wurde sodann in der gleichen Klinik erneut vom 29. März bis 22. September 1995 behandelt. Nach dem Entlassungsbericht vom 25. Oktober 1995 lag eine depressive Krise bei posttraumatischer Belastungsreaktion mit dissoziativer Störung der Persönlichkeitsentwicklung vor. In der Beschreibung des Therapieverlaufs findet sich der Hinweis, eine Erinnerungsarbeit hinsichtlich sexuellen Missbrauchs und Misshandlungen in der Kindheit und Jugend sei nicht möglich gewesen. Die Klägerin habe immer wieder daran gezweifelt, ob diese überhaupt stattgefunden hätten. Nachdem der Beklagte versucht hatte, Familienangehörige der Klägerin sowie sonstige mögliche Zeugen ausfindig zu machen, nahm die Klägerin mit Schreiben vom 9. September 1997 den Antrag nach dem OEG zurück; sie gab dabei an, sie habe Angst vor einer Konfrontation mit den Eltern.
Einen zweiten Antrag stellte die Klägerin im Januar 1999. Der Beklagte zog neben einem Befundbericht der Neurologin/Psychiaterin Dr. K. vom 1. März 1999 zwei Entlassungsberichte der Psychosomatischen Abteilung der L. -Klinik, M., über Behandlungen in der Zeit vom 1. Februar bis 25. März 1998 und vom 2. Dezember 1998 bis 27. Januar 1999 bei. In dem Bericht dieser Klinik vom 31. März 1998 findet sich die Schilderung der Klägerin, es habe Übergriffe durch einen Onkel bereits im Kleinkindalter sowie spätere sexuelle Traumatisierungen durch den Vater und Nachbarn gegeben. Unter "Psychodynamische Hypothesen" wird angegeben, die bei der Klägerin entwickelte Fähigkeit zur Dissoziation habe ihr für lange Zeit das Überleben gesichert. In dem weiteren Bericht vom 12. Februar 1999 heißt es u.a., das Beschwerdebild sei von einer Ich-strukturellen frühen Störung mit dissoziativen Anteilen bei Zustand nach langjähriger Traumatisierung geprägt. Der Beklagte holte ferner schriftliche Aussagen der Frau N. (älteste Halbschwester der Klägerin) vom 5. Februar 1999 ein, die das Anschreiben als eine fatale Verwechslung bezeichnete und angab, ihre beiden Elternteile seien aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage, sich zu äußern. In gleicher Weise äußerte sich unter dem 3. Juni 1999 eine weitere Schwester der Klägerin, Frau O ... Der 1961 geborene Bruder der Klägerin, Herr P., gab unter dem 17. Mai 1999 an, die wenigen Erinnerungen an seine Kindheit bestünden aus Bildern von Aggression und Gewalt von Seiten des alkoholabhängigen Vaters. Die Kinder seien oft geschlagen oder in den Keller gesperrt worden. An sexuelle Handlungen könne er sich nicht erinnern. Was die Klägerin betreffe, könne er keine konkrete Aussage machen, da sie zu Schlafenszeiten nach seiner Erinnerung im elterlichen Schlafzimmer untergebracht gewesen sei.
Mit Bescheid vom 11. Juni 1999 lehnte der Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, es könne nicht als erwiesen angesehen werden, dass die Klägerin durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen und tätlichen Angriff geschädigt worden sei.
In dem sich anschließenden Widerspruchsverfahren legte die Klägerin mehrere ärztliche Bescheinigungen vor. In einer Bescheinigung der Chefärztin Dr. Q. und der Oberärztin R. (L. -Klinik) vom 22. Juni 1999 ist angegeben, bei der Klägerin bestünden die für eine sexuelle Traumatisierung in der Kindheit und Jugend typischen Symptome von Flashbacks, Albträumen, massiven Schlafstörungen und übermäßiger Schreckhaftigkeit. Die Ärztin für psychotherapeutische Medizin Dr. S. gab unter dem 5. August 1999 an, die Schilderung von jahrelangem sexuellen Missbrauch durch den Vater und mehrere Nachbarn, u.a. auch in rituell-satanischer Weise, sei in sich schlüssig und glaubwürdig. Die Ärztin für Psychiatrie Dr. K. teilte in ihrer Bescheinigung vom 22. Juli 1999 mit, die Klägerin befinde sich seit 1994 in ihrer Mitbehandlung. Im Alter von 32 Jahren sei es zu einem psychophysischen Zusammenbruch gekommen, ab 1995 seien in längeren stationären psychotherapeutischen Behandlungen die zu Grunde liegenden Erinnerungen an Ereignisse allmählich zum Bewusstsein zugelassen worden. Unter anderem sei es auch zu rituellen sexuellen Übergriffen durch italienische Nachbarn gekommen. Im Jahre 1993 habe die Klägerin die Vorkommnisse telefonisch mit ihrer Mutter angesprochen, diese habe ihr die sexuellen Übergriffe bestätigt und gleichzeitig angegeben, sie sei selbst als Kind Opfer sexueller Gewalt geworden.
Der Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 7. September 1999 mit der Begründung zurück, die anspruchsbegründenden Tatsachen seien nicht ausreichend nachgewiesen. Ein sexueller Missbrauch in der Kindheit sei durch Zeugen, sofern sie ermittelt worden und aussagebereit gewesen seien, nicht bestätigt worden. Es sei auch versäumt worden, in früherer Zeit ein polizeiliches Ermittlungsverfahren durchzuführen. Auch die Klägerin habe selbst immer wieder in Zweifel gezogen, ob ihre den Therapeuten vorgetragenen Erinnerungen den Tatsachen entsprechen.
Die Klägerin hat am 11. Oktober 1999 Klage beim Sozialgericht (SG) Oldenburg erhoben. Sie hat ein Schreiben des Magistrats der Stadt T. vom 29. August 1983, betreffend einen Antrag auf Kostenübernahme für eine psychotherapeutische Einzelbehandlung, zu den Akten gereicht. Zur Begründung hat sie vorgetragen, es sei typisch für dissoziative Störungen bzw. multiple Persönlichkeitsstörungen, dass traumatische Ereignisse aus der Kindheit lange Jahre lang verdrängt würden. Es habe für sie daher aber auch keine Möglichkeit bestanden, eine strafrechtliche Verfolgung in die Wege zu leiten. Angesichts dessen, dass alle behandelnden Ärzte ihr Krankheitsbild als Auswirkung von körperlichen, sexuellen und emotionalen Traumatisierungen ansehen würden und im Übrigen ein solches Beschwerdebild ohne eine zu Grunde liegende traumatische Gewalterfahrung in der Kindheit nicht erklärbar sei, müsse jedenfalls eine Beweiserleichterung zu ihren Gunsten eingreifen.
Der Beklagte hat zur Erwiderung ausgeführt, etwaige Schädigungsfolgen müssten eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von mindestens 50 v. H. bedingen, da sich die von der Klägerin geltend gemachten Ereignisse vor In-Kraft-Treten des OEG abgespielt hätten. Auch wenn die im Verfahrensrecht der Kriegsopferversorgung vorgesehenen Beweiserleichterungen zur Anwendung kämen, müssten die Angaben der Klägerin zumindest schlüssig und glaubhaft sein und dem Akteninhalt sowie der allgemeinen Lebenserfahrung nicht widersprechen. Auf Grund der bestehenden dissoziativen Identitätsstörung der Klägerin könnten deren Angaben aber gerade nicht als Beweismittel herangezogen werden. Im Übrigen sei eine Persönlichkeitsstörung keineswegs eine zwingende Folge gerade von sexuellem Missbrauch in der Kindheit.
Das SG hat Unterlagen aus dem Rentenverfahren der Klägerin beigezogen, ferner den Entlassungsbericht der Klinik U. vom 3. Februar 2000 über eine stationäre Behandlung in der Zeit vom 8. Dezember 1999 bis 7. Januar 2000. Von Frau Dr. K. hat das SG einen Befundbericht vom 6. September 2001 und von der I. -Klinik einen Befundbericht vom 22. Oktober 2001 eingeholt. Die Neurologin/Psychiaterin Dr. V. hat sodann ein Gutachten vom 20. September 2002 erstattet. Die Sachverständige gibt an, die Klägerin habe sich auf Befragen nicht zu den genauen Umständen von Missbräuchen geäußert. Auch gefühlsmäßige oder situative Erinnerungen, die mit dem Missbrauch in der Kindheit verbunden seien, seien nicht detailliert ausgeführt worden. Andererseits hätten das angsteinflößende Verhalten der Eltern und die sozialen Bedingungen während der Kindheit ausführlich und auch unter Angabe der damaligen und heutigen gefühlsmäßigen Reaktionen geschildert werden können. Die Sachverständige kam in ihrer Beurteilung zu dem Schluss, eine dissoziative Identitätsstörung sei bei der Klägerin nicht anzunehmen. Auch eine posttraumatische Belastungsstörung liege nicht vor. Hierfür wäre Voraussetzung, dass Symptome sofort oder etwa innerhalb eines halben Jahres aufträten. Bei einer Latenz von mehr als 20 Jahren, wie sie bei der Klägerin angenommen werden müsste, sei eine solche Diagnose nicht mehr möglich. Die Sachverständige hat folgende Diagnosen gestellt: 1. rezidivierende depressive Störung, aktuell mittelgradig depressive Episode; 2. Agoraphobie mit Panikstörung; 3. kombinierte Persönlichkeitsstörung mit emotional instabilen und histrionischen Zügen.
Auf Antrag der Klägerin nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat das SG ferner ein Gutachten von den Neurologen/Psychiatern Prof. Dr. Dr. W. und Privat-Dozentin (PD) Dr. X. vom 15. April 2003 eingeholt. Die Sachverständigen vertreten die Auffassung, bei der Klägerin liege eine dissoziative Identitätsstörung vor. Diese stelle eine posttraumatische Störung dar, welche im Zusammenhang stehe mit schweren wiederholten Traumatisierungen im Kindesalter, häufig in Form von sexueller Gewalt, zumeist verbunden mit körperlicher und emotionaler Misshandlung oder schwerer Vernachlässigung. Zu dem posttraumatischen Syndrom gehörten eine depressive Stimmung mit eingeengter affektiver Schwingungsfähigkeit, Hilflosigkeit, Schuldgefühlen; klaustrophobische, agoraphobische und hypochondrische Ängste; Panikattacken im Zusammenhang mit Flashback-Erleben; selbstverletzende und suizidale Impulse. Es entspreche dem normalen Verlauf einer solchen Erkrankung, dass die Erinnerungen an die zu Grunde liegenden Verletzungen mit großer zeitlicher Verzögerung aufträten. Die Klägerin sei insbesondere im Hinblick auf Konzentrations-, Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsleistungen stark beeinträchtigt. Die MdE sei seit dem 1. Januar 1999 mit 60 v. H. einzuschätzen. Die unterschiedliche Einschätzung des Krankheitsbilds durch die Sachverständige Dr. V. dürfte vor allem auf die unterschiedliche Dauer der Untersuchung zurückzuführen sein; erst mit zunehmender Untersuchungsdauer sei es der Klägerin möglich gewesen, über ihre dissoziative Symptomatik zu sprechen.
Der Beklagte hat zu diesem Gutachten eine versorgungsärztliche Stellungnahme ihres Leitenden Arztes Dr. Y. vom 26. Juni 2003 eingereicht. Darin heißt es, die - im Einzelnen allerdings nicht nachgewiesenen - sexuellen Traumatisierungen stellten eine wesentliche Mitursache des derzeitigen Leidenszustands dar. Daneben sei von milieubedingten Schädigungen auszugehen, die jedoch nicht den überwiegenden Anteil hätten. Die MdE betrage 60 v. H.
Das SG Oldenburg hat anschließend die Sachverständige Dr. V. um eine ergänzende Stellungnahme gebeten. In ihren Ausführungen vom 21. November 2003 gibt diese an, für die Hauptsymptome einer dissoziativen Störung seien bei ihrer Untersuchung im Einzelnen nur leichte bis mäßige Schweregrade nachzuweisen gewesen, während bei der Untersuchung durch die weiteren Sachverständigen diese Symptome insgesamt schwer ausgeprägt gewesen seien. Diese Diskrepanz könne auf eine Dissimulation während der ersten Untersuchung, aber auch auf eine Aggravation während der zweiten Untersuchung zurückzuführen sein. Jedenfalls seien die Schilderungen über den sexuellen Missbrauch auch in dem zweiten Gutachten recht ungenau, und zwar im Gegensatz zu den Schilderungen anderer biografischer Ereignisse. Auch wenn man eine dissoziative Identitätsstörung bei der Klägerin annehme, sei ein Rückschluss auf einen sexuellen Missbrauch in der Kindheit nicht möglich.
Im Wege der Rechtshilfe sind ferner am 9. März 2004 durch das SG Mainz Frau Z. und am 20. April 2004 Frau AA., die Mutter der Klägerin, vernommen worden. Die Zeugin AB. hat angegeben, bei ihrer etwa 13 Jahre jüngeren Schwester sei ihr kein auffälliges Verhalten aufgefallen. Sie selbst habe allerdings bereits mit 21 Jahren den elterlichen Haushalt verlassen. Hinweise auf einen Missbrauch hätten sich für sie zu keiner Zeit ergeben. Nach der Aussage der Zeugin AC. habe die Klägerin als Kind einmal auf einem Zettel angegeben, der italienische Nachbar habe sie aufs Bett geworfen. Auf Nachfrage habe die Klägerin jedoch nur angegeben, "man werde bedroht". Ihr, der Zeugin, sei erzählt worden, dass ein Nachbar durch die Ritzen von Rollläden bei ihnen ins Haus geschaut habe. Sie könne sich nicht daran erinnern, dass die Klägerin im Ehebett geschlafen habe. Die Klägerin habe als Kind ihren Mann nicht erkennbar abgelehnt. Allerdings habe dieser sie geschlagen und in den Keller eingesperrt.
Der Vater der Klägerin, AD., und die Schwester O. haben die Aussage unter Hinweis auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht verweigert.
Das SG Oldenburg hat die Klage mit Urteil vom 24. Juni 2004 abgewiesen. Ein rechtswidriger tätlicher Angriff, der auch in einem (gewaltfreien) sexuellen Missbrauch von Kindern bestehen könne, sei nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen. Die Zeuginnen hätten angegeben, solche Vorkommnisse seien ihnen nicht erinnerlich. Die Angaben der Klägerin selbst seien vage und unklar geblieben. Auch wenn man annehme, bei der Klägerin liege eine dissoziative Identitätsstörung vor, könne hieraus nicht auf eine ursächliche Traumatisierung durch sexuellen Missbrauch in der Kindheit rückgeschlossen werden.
Gegen dieses ihr am 2. Juli 2004 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 30. Juli 2004 Berufung beim Landessozialgericht (LSG) eingelegt. Zur Begründung trägt sie vor, zu Unrecht habe das SG das Vorliegen eines Schädigungstatbestands als nicht glaubhaft oder überwiegend wahrscheinlich angesehen. Aus den Ergebnissen der Ermittlungen seien im Wege der Interpretation unzutreffende Schlüsse gezogen worden. Hinsichtlich der Aussage der Schwester Z. sei zu berücksichtigen, dass diese Zeugin im Jahre 1999 keine Angaben zu der Angelegenheit habe machen wollen. Die Zeugin habe im Übrigen die häuslichen Verhältnisse beschönigen und eine etwaige Mitverantwortung für das Geschehene abwehren wollen. Die Aussagen der Mutter seien unterschiedlich deutbar. In ihnen seien etliche Hinweise auf möglichen sexuellen Missbrauch zumindest durch Nachbarn enthalten. Bestätigt werde auch, dass der Vater der Klägerin unter Alkoholproblemen gelitten und Geldsorgen gehabt habe, ferner gewalttätig gewesen sei. Bei der Einschätzung, ihre eigenen Aussagen seien zu ungenau, seien die Hinweise in dem Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. Dr. W. /PD Dr. X. auf ein eher dissimulierend wirkendes Aussageverhalten nicht beachtet worden. Der Latenzzeitraum zwischen den belastenden Ereignissen und dem Auftreten von Störungen sei in ihrem Falle mit etwa zehn Jahren zu veranschlagen; solche Zeiträume entsprächen dem Krankheitsbild. Anhaltspunkte dafür, dass andere Ursachen zu der dissoziativen Identitätsstörung geführt hätten, lägen mit Ausnahme der zu Tage getretenen häuslichen Gewalt in Form von Einsperren und Schlägen nicht vor. Diese Gewalteinwirkungen stellten im Übrigen ebenfalls eine rechtswidrige Tat im Sinne des OEG dar.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 24. Juni 2004 aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 11. Juni 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 7. September 1999 zu verurteilen, eine "dissoziative Identitätsstörung" als Schädigungsfolge nach dem Opferentschädigungsgesetz anzuerkennen und ab 1. Januar 1999 Leistungen nach einer MdE von mindestens 60 v. H. zu erbringen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er schließt sich zur Erwiderung den Ausführungen in dem angefochtenen Urteil an. Die Voraussetzungen für einen Anspruch nach dem OEG seien nicht nachgewiesen. Gegenüber keinem der Sachverständigen seien ausreichend detaillierte Angaben der Klägerin über sexuellen Missbrauch in der Kindheit gemacht worden. Im Gegensatz hierzu seien noch deutliche Erinnerungen an andere für sie traumatisierende Kindheitserlebnisse vorhanden gewesen. Auch die Zeugenaussagen hätten keine brauchbaren Hinweise auf einen eventuellen Missbrauch ergeben. Es gebe im Übrigen keinen Erfahrungssatz, dass bei Vorliegen einer dissoziativen Persönlichkeitsstörung zwangsläufig oder regelhaft ein sexueller Missbrauch vorgelegen haben müsse. Auch ein fehlendes Geborgenheitsgefühl im Elternhaus könne Ursache einer solchen Störung sein.
Das Gericht hat im Verhandlungstermin vom 27. April 2006 die Sachverständige PD Dr. X. zur mündlichen Erläuterung des von ihr mitverfassten Gutachtens vom 15. April 2003 gehört. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Das Gericht hat die OEG-Akte des Beklagten - Grundlagen-Nr. 63-01-610 020/0 - beigezogen. Der Inhalt dieser Akte und der Prozessakte - Az. L 13 VG 4/04, S 16 V 317/99 - ist zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.
Entscheidungsgründe
Die Berufung der Klägerin ist zulässig. Sie ist auch begründet. Die Klägerin hat Anspruch darauf, dass die bei ihr vorliegende dissoziative Identitätsstörung als Schädigungsfolge nach dem OEG anerkannt wird und dass ihr ab 1999 Versorgungsleistungen erbracht werden.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hat Anspruch auf Versorgung in entsprechender Anwendung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG), wer im Geltungsbereich dieses Gesetzes infolge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Grundgedanke des OEG ist zwar, dass die Gewährung von Versorgungsleistungen das Versagen staatlichen Schutzes vor Gewalttaten ausgleichen soll. Naturgemäß sind die Möglichkeiten staatlicher Verbrechensbekämpfung im familiären Bereich beschränkt. Der Umstand, dass die Gewalttaten in dem - staatlichen Sicherheitskräften nur beschränkt zugänglichen - familiären Nahraum stattgefunden haben, führt aber nicht zur Versagung von Leistungen. Aus der Entstehungsgeschichte des OEG ergibt sich der Wille des Gesetzgebers, wegen Gewalttaten, die sich auf dem Hintergrund häuslicher Gemeinschaft oder ähnlich vertrauter Beziehungen ereignet haben, eine Entschädigung nicht allgemein auszuschließen (BSGE 49, 104, 108 [BSG 07.11.1979 - 9 RVg 2/78] = SozR 3800 § 2 Nr. 1; BSGE 77, 7 , 9 [BSG 18.10.1995 - 9 RVg 4/93] = SozR 3-3800 § 1 Nr. 6).
Der vorsätzliche rechtswidrige tätliche Angriff als eine der anspruchsbegründenden Tatsachen im Sinne des § 1 OEG ist hier gegeben. Der Tatbestand muss zwar in der Regel, wie es für soziale Leistungsansprüche allgemein gilt, zur Überzeugung des Gerichts erwiesen sein, d.h. es muss von einer an Gewissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit oder von einem so hohen Grad der Wahrscheinlichkeit ausgegangen werden können, dass kein vernünftiger Mensch noch zweifelt. Fehlt es daran, geht das zu Lasten der Klägerin (objektive Beweis- und Feststellungslast). Allerdings kann auch die Beweiserleichterung aus § 15 Abs. 1 KOVVfG Berücksichtigung finden. Nach dieser Vorschrift können der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zu Grunde gelegt werden, wenn Unterlagen nicht vorhanden sind oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verloren gegangen sind. Diese Vorschrift gilt gem. § 6 Abs. 3 OEG auch für die Entschädigung nach dem OEG und nicht nur im Verwaltungsverfahren, sondern auch im gerichtlichen Verfahren (ständige Rechtsprechung, s. BSG vom 22.6.1988, SozR 1500 § 128 Nr. 34, vom 31.5.1989, BSGE 65, 123 = SozR 1500 § 128 Nr. 39). § 15 KOVVfG setzt allerdings voraus, dass der Antragsteller Angaben zu den entscheidungserheblichen Fragen aus eigenem Wissen machen kann (BSG vom 22.6.1988, a.a.O; vom 28.6.2000 , SozR 3-3900 § 15 Nr. 3).
Zur Überzeugung des Senats liegen von Seiten der Klägerin ausreichend glaubhafte Aussagen zu sexuellem Missbrauch und anderen Gewalterfahrungen in der Kindheit vor. Der Senat steht bei der Bewertung der Angaben der Klägerin allerdings nicht auf dem von der Sachverständigen Dr. V. vertretenen Standpunkt, wonach entweder der kognitive oder emotionale Bereich einer Erinnerung vollständig sein müsse. Vielmehr geht das Gericht - den Aussagen der Sachverständigen PD Dr. Gast folgend - angesichts des Krankheitsbildes der Klägerin davon aus, dass zum Teil bruchstückhafte, lückenhafte und - je nach Behandlungs- oder Untersuchungssituation - auch voneinander abweichende Erinnerungen im vorliegenden Falle als Grundlage für die Überzeugungsbildung ausreichen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit steht für das Gericht fest, dass die Klägerin in ihrer Kindheit zumindest sexuellem Missbrauch durch Nachbarn und wiederholten sexuellen und (anderen) gewaltsamen Übergriffen ihres Vaters ausgesetzt gewesen ist. Maßgeblich ist für das Gericht, dass die Angaben der Klägerin Vorfälle von sexuellem Missbrauch in sich schlüssig und widerspruchsfrei, wenn auch nicht detailliert, beschreiben und diese Angaben im Abgleich mit bekannten äußeren Umständen, wie sie auch in Angaben Dritter bestehen können, als glaubhaft anzusehen sind (vgl. Voß, Zeitschrift für Sozialversicherung 2005, 100, 102).
Diesbezügliche Angaben tauchen in vielen der in den Unterlagen vorzufindenden Behandlungsberichte auf, so etwa schon in dem Entlassungsbericht der I. -Klinik vom 16. August 1993, dem Entlassungsbericht der L. -Klinik vom 31. März 1998 und in den Bescheinigungen der Neurologin/Psychiaterin Dr. K. vom 22. Juli 1999 und der Psychotherapeutin Dr. S. vom 5. August 1999. Entsprechende Erinnerungen sind ferner in dem Gutachten vom 15. April 2003 in der Form wiedergegeben, dass ein Mann aus einer italienischen Nachbarsfamilie sie mit etwa acht Jahren missbraucht habe. Diese Angaben der Klägerin selbst sind auch gut vereinbar mit den Erinnerungen der Mutter der Klägerin, der Zeugin AC ... Diese hat in ihrer Aussage gegenüber dem SG Mainz vom 20. April 2004 über einen von der Klägerin (schriftlich) mitgeteilten Übergriff im Kindesalter durch einen italienischen Nachbarn und über ein Gefühl des Bedrohtseins auf Seiten der Klägerin berichtet.
Der Glaubhaftigkeit der Angaben der Klägerin steht nach Auffassung des Gerichts nicht entgegen, dass ihre Erinnerungen bezüglich sexueller Übergriffe ihrem Bewusstsein weniger zugänglich sind als Erinnerungen an andere Gewalterfahrungen wie z.B. Schläge und Einsperren durch den alkoholisierten Vater. Die Sachverständige PD Dr. X. hat die unterschiedliche Zugänglichkeit solcher verschiedener Erinnerungen nachvollziehbar darauf zurückgeführt, dass sexuelle Übergriffe besonders verdrängt werden, u.a., weil solche Erinnerungen besonders schambesetzt sind. Das Gericht schließt es im Übrigen zwar grundsätzlich nicht aus, dass bei Erinnerungen an Kindheitserlebnisse, die im Erwachsenenalter wiedergegeben werden, eine Vermischung von realen Erlebnissen und Fantasien vorkommen kann und dass Erinnerungen möglicherweise auch durch andere Personen, insbesondere auch in therapeutischen Situationen, beeinflusst werden. Dem Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. W. /PD Dr. X. ist jedoch zu entnehmen, dass eine sehr intensive und breit gefächerte Diagnostik durchgeführt wurde. So wurde eine Trauma-Anamnese durchgeführt, ferner ein umfangreiches strukturiertes klinisches Interview. Das Gericht hält es daher für nachvollziehbar, dass die Sachverständige PD Dr. X. in ihrer mündlichen Aussage im Termin vom 27. April 2006 angegeben hat, dass eine Beeinflussung der Erinnerung durch Dritte durch die intensive Untersuchung hätte aufgedeckt werden können. In diesem Zusammenhang kommt ferner auch dem Umstand Bedeutung zu, dass die Klägerin bei der erwähnten Untersuchung eher ein dissimulierendes als ein aggravierendes Verhalten gezeigt hat, indem ihre Darstellung eher als zurückgenommen und schambesetzt erschien. Es ist für das Gericht schließlich nachvollziehbar, dass gerade bei Vorliegen einer dissoziativen Identitätsstörung so genannte verzögerte Erinnerungen häufig angetroffen werden, ohne dass eine solche Verzögerung als Indiz für fehlende Glaubwürdigkeit angesehen werden kann.
Der - im vorliegenden Falle glaubhaft gemachte - sexuelle Missbrauch von Kindern stellt - ebenso wie andere körperliche Übergriffe - einen rechtswidrigen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 OEG dar. Die Tatbestandsvoraussetzungen können auch dann erfüllt sein, wenn der Täter keine nennenswerte Kraft aufwendet, um einen Widerstand des Opfers zu überwinden, sondern sein Ziel dadurch erreicht, dass er den Widerstand seines Opfers durch Täuschung, Überredung oder sonstige Mittel ohne besonderen Kraftaufwand bricht oder gar nicht erst aufkommen lässt ( BSG, Urt. v. 18.10.1995, BSGE 77, 11 = SozR 3-3800 § 1 Nr. 7). Selbst wenn das Opfer in die Tat einwilligt, ist die Handlung nicht gerechtfertigt, wenn dem Opfer die Einwilligung durch Täuschung entlockt wird oder es dem Opfer aus sonstigen Gründen an der Fähigkeit mangelt, Bedeutung und Tragweite seiner Einwilligung zu erkennen. An dieser Fähigkeit fehlt es insbesondere bei Kindern auf sexuellem Gebiet, jedenfalls solange sie noch nicht strafmündig sind. Deshalb ist vom Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs auch bei dem sexuellen Missbrauch eines Kindes auszugehen, selbst wenn dabei keine Gewalt im strafrechtlichen Sinne ausgeübt wird. Daher ist, auch wenn Einzelheiten der Vorgehensweise der Täter nach den wenig detaillierten Angaben der Klägerin nicht bekannt sind, jedenfalls von einem vorsätzlichen tätlichen Angriff auszugehen.
Die sexuellen und gewaltsamen Übergriffe in der Kindheit der Klägerin sind auch als Ursache der seit Antragstellung festzustellenden gesundheitlichen Störungen anzusehen. Im Sinne des Urteils des BSG vom 18.10.1995 (SozR 3-3800 § 1 Nr. 4 = BSGE 77, 1 [BSG 18.10.1995 - 9 RVg 4/92]) legt das Gericht zu Grunde, dass in der medizinischen Wissenschaft weit überwiegend davon ausgegangen wird, dass sexuelle Missbräuche in der Kindheit zu dissoziativen Störungen bzw. posttraumatischen Syndromen führen können bzw. dass ein Ursachenzusammenhang anzunehmen ist, weil nach dem Erfahrungswissen der Ärzte die Gefahr des Ausbruchs dieser Erkrankung nach den betreffenden Belastungen deutlich erhöht ist.
Dies ergibt sich zum einen aus den "Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung 1996" (AHP 1996), ebenso wie nach der 2004 herausgegebenen Neufassung (AHP 2004). So kommen nach Nr. 71 durch psychische Traumen bedingte Störungen nach langdauernden psychischen Belastungen in Betracht, sofern die Belastungen ausgeprägt und mit dem Erleben von Angst und Ausgeliefertsein verbunden waren. Nach Nr. 71 Abs. 3 können insbesondere auch die Auswirkungen psychischer Traumen im Kindesalter wie sexueller Missbrauch oder häufige Misshandlungen nach Art und Intensität sehr unterschiedlich sein. Sie können zu Neurosen wie zu vorübergehenden oder chronifizierten Reaktionen führen. Störungen im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung und auch diagnostisch anders einzuordnende Störungen können auch nach einer Latenzzeit auftreten. Zwar tritt nach den AHP eine Störung nach einer Latenzzeit nur "gelegentlich" auf, was als Hinweis darauf gewertet werden kann, dass in solchen Fällen der Wahrscheinlichkeitszusammenhang besonders genau zu prüfen ist (vgl. BSG vom 18.10.1995, Soz R 3-3800 § 1 Nr. 4). Ein Hinweis, dass es sich bei den hier fraglichen Störungen um Auswirkungen auch nach einem längeren Zeitintervall handeln kann, ergibt sich allerdings schon daraus, dass die AHP insoweit auf Traumen "im Kindesalter" (Nr. 71 Abs. 3) bzw. "in früher Kindheit" (Nr. 70) abstellen. Es ist jedenfalls zu beachten, dass Tatsachen vorliegen, die nach den AHP grundsätzlich geeignet sind, einen Ursachenzusammenhang zu begründen und so eine bestärkte Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, die nur durch einen sicheren anderen Kausalverlauf widerlegt werden könnte (vgl. BSG vom 12.6.2003, SozR 4-3800 § 1 Nr. 3).
Zum anderen ergibt sich ein solcher Ursachenzusammenhang im konkreten Fall aus den vorliegenden Gutachten. So geben die Sachverständigen Prof. Dr. W. /PD Dr. X. in ihrem Gutachten vom 15. April 2003 an, eine dissoziative Identitätsstörung werde als posttraumatische Störung gesehen, die nach heutigem Wissen als psychobiologische Antwort auf schwere wiederholte Traumatisierungen im Kindesalter, häufig in Form von sexueller Gewalt, zumeist verbunden mit körperlicher und emotionaler Misshandlung oder schwerer Vernachlässigung verstanden werde. Dieser Einschätzung hat der leitende Arzt des Beklagten (Dr. Y.) in seiner versorgungsärztlichen Stellungnahme vom 26. Juni 2003 zugestimmt. Ergänzend sind für den Senat die Angaben der Sachverständigen PD Dr. X. im Verhandlungstermin vom 27. April 2006 von Bedeutung. Danach ist sexueller Missbrauch ein sehr hoher Risikofaktor für Störungen, wie sie bei der Klägerin vorliegen. Die Sachverständige hat über mehrere größer angelegte Studien berichtet, nach denen in 70% bis über 90% der Fälle ein sexueller Missbrauch zu Grunde lag bzw. berichtet wurde; in 60% der Fälle ist daneben auch von weiteren Gewalterfahrungen auszugehen.
Das Krankheitsbild der Klägerin ist nach dem überzeugenden Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. W. /PD Dr. X. durch dissoziative Symptome bestimmt, insbesondere Derealisations- und Depersonalisations-Erleben sowie ausgeprägte Störungen des Identitätserlebens. Dabei dient der Mechanismus der Dissoziation in mehrere Persönlichkeitsanteile als eine Art Schutzfunktion, um bei schwersten traumatischen Erlebnissen lebensfähig bleiben zu können (Voß, a.a.O., 101). Zusätzlich sind depressive Symptome festzustellen wie eingeengte affektive Schwingungsfähigkeit, Hilflosigkeit, Schuldgefühle, Hoffnungslosigkeit, Lustfeindlichkeit, Gedanken an Selbsttötung, verschiedene Ängste. Verbunden hiermit sind Aufmerksamkeits-, Konzentrations- und Gedächtnisdefizite.
Hinsichtlich der Höhe der MdE schließt sich das Gericht der Einschätzung der Sachverständigen Prof. Dr. W. / PD Dr. X. an, der auch der leitende Arzt des Ärztlichen Dienstes des Beklagten in seiner Stellungnahme vom 26. Juni 2003 beigetreten ist. Eine MdE von 60. H. ist danach übereinstimmend angenommen worden.
Obwohl die schädigenden Handlungen vorliegend eingetreten sind, bevor das OEG im Jahre 1976 in Kraft getreten ist, scheitert der Versorgungsanspruch der Klägerin nicht an der Regelung der §§ 10,10a OEG. Danach kann ein solcher Anspruch dann entstehen, wenn die Schädigung zu einer MdE von mindestens 50 v. H. führt; dies ist nach dem vorher Gesagten der Fall.
Nach allem war der Berufung stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Für die Zulassung der Revision lag kein gesetzlicher Grund im Sinne des § 160 Abs. 2 SGG vor.