Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.02.1994, Az.: 11 L 1173/93

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.02.1994
Aktenzeichen
11 L 1173/93
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1994, 13967
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OVGNI:1994:0215.11L1173.93.0A

Verfahrensgang

vorgehend
VG Hannover - 30.09.1992 - AZ: 10 A 499/91
nachfolgend
BVerwG - 16.01.1995 - AZ: BVerwG 9 B 387.94
BVerwG - 29.08.1995 - AZ: BVerwG 9 C 1/95

Redaktioneller Leitsatz

Syrisch-orthodoxe Christen sind heute in dem im Südosten der Türkei gelegenen traditionellen Siedlungsgebiet im Tur Abdin wegen ihrer Religion einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung ausgesetzt. Einem Angehörigen dieser Glaubensgemeinschaft steht, weil ihm bei einer Rückkehr in die Türkei aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde, deshalb ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter zu, wenn ihm ein Ausweichen in einen anderen Landesteil nicht zumutbar ist. Letzteres ist anzunehmen, wenn dem Asylsuchenden in Istanbul als der einzig zumutbaren inländischen Fluchtalternative mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Leben unterhalb des Existenzminimums droht. Davon ist indessen auszugehen, wenn er weder über zureichende türkische Sprachkenntnisse, noch über Ausbildung, Vermögen oder verwandtschaftliche Beziehungen in Istanbul verfügt.

Tenor:

Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - 10. Kammer Hannover - vom 30. September 1992 wird zurückgewiesen.

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten trägt die Kosten des Berufungsverfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrte ihre Anerkennung als Asylberechtigte.

2

Die 1923 geborene Klägerin ist türkische Staatsangehörige aramäischer Volkszugehörigkeit und syrisch-orthodoxen Glaubens. Sie lebte bis zu ihrer Ausreise in dem Dorf ... Kreis Idil/Provinz Mardin, also in dem Gebiet des Tur Abdin. Gemeinsam mit der Familie ihres Sohnes (vgl. hierzu die Verfahren 11 L 1174 und 1175/93) verließ sie Anfang März 1988 ihr Heimatland, reiste in die Bundesrepublik ein und beantragte ihre Anerkennung als Asylberechtigte. Während der Anhörung im Rahmen der Vorprüfung bei der Beklagten bezog sich die Klägerin im wesentlichen auf den Vortrag ihres Sohnes ... (Kläger zu 1) in dem Vrfahren 11 L 1175/93). Insoweit wird auf das Urteil in jenem Verfahren vom heutigen Tage Bezug genommen.

3

Mit Bescheid vom 28. Oktober 1988 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag ab.

4

Daraufhin hat die Klägerin Klage erhoben. Sie hat im wesentlichen geltend gemacht, sie sei in ihrer Heimat aufgrund ihrer Glaubenszugehörigkeit verfolgt worden.

5

Die Klägerin hat sinngemäß beantragt,

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unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28. Oktober 1988 die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen.

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Die Beklagte hat beantragt,

8

die Klage abzuweisen.

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Das Verwaltungsgericht Hannover hat mit Urteil vom 30. September 1992 den Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 28. Oktober 1988 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen. Zur Begründung hat es im wesentlichen ausgeführt, die Klägerin unterliege einer an ihrer Zugehörigkeit zu der Gruppe der syrisch-orthodoxen Christen anknüpfenden Einzelverfolgung. Die Sicherheitslage, die sich nach der Machtübernahme durch die Militärregierung im September 1980 zunächst auch für die Christen gebessert habe, habe sich gegen Ende der 80er Jahre wieder verschärft. Allerdings seien die Überfälle auf Christen vorrangig wirtschaftlich motiviert. Für die Annahme eines asylerheblichen Eingriffs sei es jedoch ausreichend, wenn sich dieser primär auf ein nicht durch das Asylrecht geschütztes Merkmal richte, die "Auswahl des Opfers" sich aber an einem asylerheblichen Merkmal orientiere, also auf den Bürger aus wirtschaftlichen Gründen zugegriffen werde, weil er Christ sei. Eine inländische Fluchtalternative insbesondere in Istanbul sei aufgrund der Besonderheiten des Einzelfalles nicht gegeben. Die Klägerin könne aufgrund ihres Alters nicht mehr am Wirtschaftsleben teilnehmen. Es sei auch nicht davon auszugehen, daß die übrigen Familienmitglieder, die in ihrer Heimatregion lediglich in der Landwirtschaft tätig gewesen seien und kaum die türkische Sprache beherrschten, in Istanbul mehr als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums zu erwarten gehabt hätten. Da die Klägerin asylberechtigt sei, lägen auch die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vor.

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Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten, die der Senat mit Beschluß vom 9. März 1993 (11 L 6459/92) zugelassen hat.

11

Der Bundesbeauftragte ist der Ansicht, der Klägerin drohe keine politische Verfolgung in der Türkei, im übrigen stünde eine inländische Fluchtalternative in der Westtürkei offen.

12

Der Bundesbeauftragte für Asylangelegenheiten beantragt sinngemäß,

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unter Abänderung des erstinstanzlichen Urteils die Asylklage abzuweisen.

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Die Klägerin beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Sie verteidigt das angefochtene Urteil.

17

Der Senat hat in der gemeinsamen Verhandlung der Asylverfahren der Familie ... (11 L 1173, 1174, 1175/93) den Sohn der Klägerin, ... (Kläger zu 1) des Verfahrens 11 L 1175/93) sowie den Enkel der Klägerin, ... (Kläger zu 1) des Verfahrens 11 L 1174/93) zu den Gründen der Ausreise der Familie aus der Türkei angehört. Wegen des Ergebnisses der Anhörung wird auf die Sitzungsniederschrift vom 15. Februar 1994 verwiesen.

18

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Der Inhalt dieser Akten ist - soweit erforderlich - zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden.

19

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel ergeben sich aus der Anlage zum Schreiben des Senats vom 3. Februar 1994.

Entscheidungsgründe

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Die Berufung des Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten ist unbegründet. Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte zu Recht verpflichtet, die Klägerin als Asylberechtigte anzuerkennen (I und II) und festzustellen, daß in ihrer Person die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen (III).

21

I. Gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG i.d.F. des Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes vom 28. Juni 1993 (BGBl. I S. 1002) genießen politisch Verfolgte Asylrecht. Sie werden nach Maßgabe der §§ 1 ff. AsylVfG i.d.F. der Bekanntmachung vom 27. Juli 1993 (BGBl. I S. 1361) als Asylberechtigte anerkannt. Das Individualgrundrecht auf Asyl kann in Anspruch nehmen, wer politische Verfolgung erlitten hat, weil ihm in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale, nämlich die politische Überzeugung, die religiöse Grundentscheidung oder andere unverfügbare Merkmale, die sein Anderssein prägen, gezielt intensive und ihn aus der übergreifenden Friedensordnung des Staates ausgrenzende Rechtsverletzungen zugefügt worden sind oder unmittelbar gedroht haben. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin "wegen" eines Asylmerkmals folgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, BVerfGE 80, 315; Beschl. der 1. Kammer des Zweiten Senats vom 22. 12. 1993 - 2 BvR 950/93 -). Der asylrechtliche Schutz beschränkt sich nicht auf die Rechtsgüter Leib und Leben, er erfaßt auch Einschränkungen der persönlichen Freiheit. Die hierin eingeschlossenen Rechte der freien Religionsausübung und ungehinderten beruflichen und wirtschaftlichen Betätigung lösen einen Asylanspruch allerdings nur aus, wenn deren Beeinträchtigung nach ihrer Intensität und Schwere zugleich die Menschenwürde verletzt und über das hinausgeht, was die Bewohner des Herkunftsstaates allgemein hinzunehmen haben. Die zugefügte Rechtsverletzung muß mithin von einer Intensität sein, die sich nicht nur als Beeinträchtigung, sondern als ausgrenzende Verfolgung darstellt, so daß der davon Betroffene gezwungen war, in begründeter Furcht vor einer ausweglosen Lage sein Heimatland zu verlassen und im Ausland Schutz zu suchen. An einer gezielt zugefügten Rechtsverletzung fehlt es bei Nachteilen, die jemand aufgrund der allgemeinen Zustände in seinem Heimatland zu erleiden hat, wie Hunger, Naturkatastrophen, aber auch bei den allgemeinen Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen. Das Asylrecht soll nämlich nicht jedem, der in seiner Heimat in materieller Not leben muß, die Möglichkeit eröffnen, seine Heimat zu verlassen, um in der Bundesrepublik Deutschland seine Lebenssituation zu verbessern (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 951/85 - aaO; Beschl. v. 20. 5. 1992 - 2 BvR 205/92 -, InfAuslR 1992, 283).

22

Bei der Prüfung der Frage, ob sich ein Flüchtling in diesem Sinne in einer ausweglosen Lage befindet, vor der ihm das Asylrecht Schutz gewähren soll, sind alle Umstände in den Blick zu nehmen, die objektiv geeignet sind, bei ihm begründete Furcht vor (drohender) Verfolgung hervorzurufen.

23

Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylbewerbers kann sich dabei nicht nur aus gegen ihn selbst gerichtete Maßnahmen (individuelle Verfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichtete Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das der Asylbewerber mit ihnen teilt und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet, so daß seine bisherige Verschonung von ausgrenzenden Rechtsgutverletzungen als eher zufällig anzusehen ist (Gruppenverfolgung). Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt allerdings voraus, daß Gruppenmitglieder Rechtsgutbeeinträchtigungen erleiden, aus deren Intensität und Häufigkeit jedes einzelne Gruppenmitglied die begründete Furcht herleiten kann, selbst alsbald ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Das wird vor allem bei gruppengerichteten Massenverfolgungen der Fall sein, die das ganze Land oder Teile desselben erfassen. Eine Gruppenverfolgung kann nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesverwaltungsgerichts zur (mittelbaren) Gruppenverfolgung aber auch dann angenommen werden, wenn unbedeutende oder kleine Minderheiten mit solcher Härte, Ausdauer und Unnachsichtigkeit verfolgt werden, daß jeder Angehörige dieser Minderheit sich ständig der Gefährdung an Leib, Leben oder persönlicher Freiheit ausgesetzt ausgesetzt sieht (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/85 u. a. -) InfAuslR 1991, 200; BVerwG, Beschl. v. 24. 9. 1992 - 9 B 130.92 -, NVwZ 1993, 192 = InfAuslR 1993, 31).

24

Die unmittelbare Betroffenheit des einzelnen durch gerade auf ihn zielende Verfolgungsmaßnahmen ebenso wie die Gruppengerichtetheit der Verfolgung sind allerdings nur Eckpunkte eines durch fließende Übergänge gezeichneten Erscheinungsbildes politischer Verfolgung. Die gegenwärtige Gefahr politischer Verfolgung für einen Gruppenangehörigen ist möglicherweise auch dann aus dem Schicksal anderer Gruppenmitglieder herzuleiten, wenn diese Referenzfälle politischer Verfolgung es noch nicht rechtfertigen, vom Typus einer gruppengerichteten Verfolgung auszugehen, er aber Angehöriger einer Minderheit ist, die in einem Klima allgemeiner moralischer, religiöser oder gesellschaftlicher Verachtung leben muß und ganz allgemein Unterdrückungen und Nachstellungen ausgesetzt ist, mögen diese als solche auch noch nicht von einer Schwere sein, die die Annahme politischer Verfolgung begründet (Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit). Die für eine Verfolgung sprechenden Umstände müssen jedoch nach ihrer Intensität und Häufigkeit dabei von einem solchen Gewicht sein, daß sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Asylbewerber die begründete Furcht ableiten läßt, selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden (BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/85 u. a. - aaO; BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - 9 C 154.90 -, BVerwGE 88, 367, 375 ff [BVerwG 23.07.1991 - 9 C 154/90] = DVBl. 1991, 1089).

25

Asylerhebliche Bedeutung haben neben unmittelbaren Verfolgungsmaßnahmen des Staates auch Verfolgungsmaßnahmen Dritter, sofern sie dem Staat zuzurechnen sind (BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, aaO). Verfolgungen durch Dritte - seien sie nun gruppengerichtet oder als Einzelverfolgungen anzusehen - sind dem Staat zuzurechnen, wenn er nicht mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Kräften Schutz gewährt, wobei die Intensität dieses Schutzes dem Grad der Bedrängnis und der Schwere der Übergriffe entsprechen muß. Dabei kann staatliche Schutzbereitschaft nicht schon deshalb angenommen werden, weil die zum Handeln verpflichteten Organe erklären, ihren diesbezüglichen Verpflichtungen genügen zu wollen. Erforderlich ist vielmehr, daß die staatliche Schutzbereitschaft konkret belegbar ist (BVerfG, Beschl. v. 23. 6. 1991 - 2 BvR 583/84 -, InfAuslR 1992, 53). Allerdings ist es keiner staatlichen Ordnungsmacht möglich, einen lückenlosen Schutz vor Unrecht und Gewalt zu garantieren. Daher ist entscheidend, ob der Staat mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln im großen und ganzen Schutz gewährt. Andererseits endet die asylrechtliche Verantwortlichkeit des Staates dann, wenn die Schutzgewährung seine Kräfte im konkreten Fall übersteigt (vgl. hierzu BVerfG, Beschl. v. 22. 1. 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, aaO; BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - 9 C 154.90 -, aaO).

26

Schließlich genießt nicht nur derjenige Asylrecht, der seinen Heimatstaat auf der Flucht vor eingetretener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat. Asylberechtigt ist vielmehr auch der Asylsuchende der seinen Heimatstaat unverfolgt verlassen hat, wenn ihm aufgrund von beachtlichen Nachfluchttatbeständen, z.B. aufgrund von Vorgängen oder Ereignissen in seinem Heimatland, die unabhängig von seiner Person ausgelöst worden sind (sog. objektive Nachfluchtgründe, vgl. dazu BVerfG, Beschl. v. 26. 11. 1986 - 2 BvR 1058/85 -, BVerfGE 74, 51, 64 ff.) [BVerfG 26.11.1986 - 2 BvR 1058/85], mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit politische Verfolgung droht (BVerwG, Urt. v. 23. 7. 1991 - 9 C 154/90 -, aaO: BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, aaO). Ob eine Verfolgungsgefahr für die absehbare Zukunft besteht, ist aufgrund einer Prognose zu beurteilen, die - ausgehend von den Verhältnissen im Zeitpunkt der letzten gerichtlichen Tatsachenentscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) - die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Asylbewerbers in seinen Heimatstaat zum Gegenstand hat.

27

Selbst wenn nach den obigen Kriterien eine politische Verfolgung zu bejahen ist, besteht kein Asylanspruch, wenn der Asylsuchende Schutz vor politischer Verfolgung in anderen Regionen des eigenen Landes finden kann (inländische Fluchtalternative). Des Schutzes im Ausland bedarf ein Asylbewerber nämlich dann nicht, wenn er lediglich in einem Landesteil (unmittelbarer oder mittelbarer staatlicher) Verfolgung ausgesetzt ist, er aber auf verfolgungsfreie Teile seines Heimatstaates verwiesen werden kann. Eine derartige inländische Fluchtalternative besteht in anderen Landesteilen dann, wenn der Betroffene dort vor politischer Verfolgung hinreichend sicher ist und wenn ihm dort keine anderen Nachteile und Gefahren mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen, sofern diese existenzielle Gefährdung am Herkunftsort so nicht bestünde (vgl. BVerfG, Beschl. v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 961/86 -, aaO; BVerwG, Urt. v. 15. 5. 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139, 145) [BVerwG 15.05.1990 - 9 C 17/89]. Daher scheidet die Annahme einer zumutbaren Fluchtalternative aus, wenn der Asylsuchende an dem Alternativort bei generalisierender Betrachtung auf Dauer ein Leben unter dem Existenzminimum zu erwarten hätte, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tod führt (BVerwG, Urt. v. 8. 2. 1989 - 9 C 30.87 -, Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 104; Urt. v. 15. 1. 1991 - 9 C 85.89 -, NVwZ-RR 1991, 442).

28

II. Gemessen an diesen Grundsätzen steht der Klägerin ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte zu.

29

1) Die Klägerin ist zur Überzeugung des Senats Angehörige der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft. Sie stammt aus dem im Südosten der Türkei gelegenen traditionellen Siedlungsgebiet ... ("Berg der Knechte Gottes") der syrisch-orthodoxen Christen. Schon bei Stellung der Asylanträge hat sie sich auf ihre Glaubenszugehörigkeit und auf die daraus resultierende Verfolgung berufen. Ihr Sohn und ihr Enkel haben auch stellvertretend für die gesamte Familie bei ihrer Anhörung vor dem Senat ein Schicksal beschrieben, das für die Situation der syrisch-orthodoxen Christen in ihren angestammten Siedlungsgebieten kennzeichnend ist. Aufgrund des Ergebnisses der Anhörung ist der Senat auch davon überzeugt, daß die Klägerin ihren Glauben heute noch praktiziert.

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2) Der Senat kann offenlassen, ob die Klägerin die Türkei wegen erlittener oder unmittelbar drohender politischer Verfolgung verlassen hat. Denn der Senat ist nach Auswertung des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials der Überzeugung, daß der Klägerin bei einer Rücckehr in die Türkei aufgrund eines asylrechtlich erheblichen Nachfluchttatbestandes politische Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen würde. Die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft der syrisch-orthodoxen Christen sind heute im Gebiet des ..., in dem auch die Klägerin vor ihrer Ausreise gelebt hat, einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung wegen ihrer Religion ausgesetzt (a). Der Klägerin ist zudem ein Ausweichen in einen anderen Landesteil nicht zumutbar, so daß sie in ihrem Heimatstaat landesweit in eine ausweglose Lage geraten ist (b) (a. A. Hess. VGH, Urt. v. 1. 11. 1993 - 12 UE 680/93 - V.n.b.; OVG Rhl.-Pf., Urt. v. 7. 6. 1993 - 13 A 10.603/93 - V.n.b; OVG Nordrh.-Westf., Urt. v. 9. 9. 1993 - 14 A 10303/87 - V.n.b., die allerdings z. T. die neuesten Erkenntnismittel noch nicht berücksichtigen konnten).

31

a) Die Christen in der Türkei sind heute mit ungefähr 80.000 - 100.000 Gläubigen bei einer Gesamtbevölkerung von rund 55 Millionen Einwohnern eine kleine Minderheit (vgl. Oehring, St. v. 25. 3. 1991 an VG Bremen; AA, Lagebericht v. 16. November 1993). Die syrisch-orthodoxen Christen, also die Mitglieder der "Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien", wie der offizielle Name dieser Glaubensgemeinschaft lautet, zählen neben den griechisch-orthodoxen und den armenisch-orthodoxen zu den bedeutenderen und traditionsreichen Christengruppen in der ganz überwiegend muslimischen (99 % der Bevölkerung) Türkei. Zur Zeit dürften noch zwischen 12.000 bis 15.000 syrisch-orthodoxe Christen in der Türkei leben, davon ca. 10.000 - 12.000 in Istanbul und ca. 1.500 bis 3.000 im Tur Abdin (vgl. hierzu - wobei die Zahlenangaben im einzelnen schwanken - AA, Auskünfte v. 21. 4. 1993 an VG Karlsruhe und v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725) sowie Lagebericht v. 16. 11. 1993; Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme der Restbevölkerung der ... christlichen Assyrer in der Süd-Ost-Türkei, März/Oktober 1993, der für Istanbul sogar nur von 5.000 syrisch-orthodoxen Christen ausgeht; "Krieg im ...", Ein Reisebericht zur aktuellen Situation der assyrischen Christen im Südosten der Türkei, Nov. 1992; FAZ v. 27. 7. 1993; Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG; ai, St. v. 20. 10. 1993 an Nds. OVG). Das Hauptsiedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen liegt im zum Teil unwegsamen Bergland des Tur Abdin mit dem Zentrum Midyat im Südosten der Türkei (Ostanatolien). Der Tur Abdin umfaßt ein Gebiet, das von Mardin im Westen bis nach Cizre im Osten und vom Tigris im Norden bis zur türkisch-syrischen Grenze im Süden reicht (Oehring, In Antiochia ..., Oktober 1988). Der Ursprung der syrisch-orthodoxen Kirche liegt am Beginn den Christentums (FAZ v. 27. 7. 1993). Die Wurzeln dieser Minderheit gehen bis in die vorchristliche Vergangenheit zurück. Noah wird als Vorfahre angesehen (Anschütz, Die syrischen Christen vom Tur Abdin 1985, S. 14 f; FAZ v. 4. 12. 1990).

32

Im Laufe der Jahrhunderte war die syrisch-orthodoxe Kirche vielfältigen Belastungen ausgesetzt. Im vierten und fünften Jahrhundert gab es innerkirchliche Auseinandersetzungen um die Lehre von der Person Christi, die zur Abspaltung von Rom und der Verdammung als Häresie auf dem Konzil von Chalcedon (451) führten (Klautke-EKD, St. v. 19. 4. 1988). Wenn auch die syrisch-orthodoxe Kirche vom byzantinischen Reich verfolgt wurde, weil man sie als ketzerische Abweichung von der offiziellen Kirche ansah, entfaltete sie insbesondere im Gebiet des Tur Abdin zum Teil ein blühendes Leben. Es gab dort eine Vielzahl von Klöstern, deren Mönche Träger einer umfassenden Kultur waren (Harb/Anschütz, Gutachten v. 7. 8. 1979; FAZ v. 27. 7. 1993). Etwa um 640 n. Chr. gelangte das Gebiet um den Tur Abdin unter die Herrschaft islamischer Araber. Das Anrücken der Muslime wurde von den syrisch-orthodoxen Christen wie auch von anderen orientalischen Christen zum Teil begrüßt, da man dadurch das byzantinisch-orthodoxe Joch abschütteln konnte (Klautke-EKD, St. v. 19. 4. 1988). Im 14. Jahrhundert wurde das Land durch die Eroberungszuge des mongolischen Herrschers Timor (ca. 1360 bis 1405) erschüttert. Die Gemeinschaft der Christen wurde entscheidend geschwächt (FAZ v. 27. 7. 1993); gleichzeitig wurden aber auch die Araber zurückgedrängt. Das Gebiet stand nunmehr unter der Herrschaft der ebenfalls dem Islam zugewandten osmanischen Sultane. Für das Schicksal der (syrisch-orthodoxen) Christen war weiter das Verhältnis zu den muslimischen Kurden von Bedeutung. Schon seit etwa 900 n. Chr. geriet der Tur Abdin zunehmend unter den Druck kurdischer Stämme, die von dem kurdischen Bergland in der heutigen Osttürkei und dem Irak aus ständig weiter nach Westen und in das Gebirgsvorland zogen (Harb/-Anschütz, Gutachten v. 7. 8. 1979). Diese nomadischen bzw. halbnomadischen Kurden bedrängten die christlichen und nicht nomadisierenden kurdischen Siedler, die sich zwischenzeitlich dort niedergelassen hatten, das Land bestellten und Viehzucht betrieben; denn zwischen den nomadisierenden Kurden und der seßhaften Bevölkerung, insbesondere den Christen, bestand ein erhebliches soziales Gefälle. Die nomadisierenden Kurden verfügten über keinerlei Eigentum und fristeten mit ihren relativ großen Familien ein karges Dasein. Die traditionelle christliche Bevölkerung im Tur Abdin lebte dagegen damals in relativem Wohlstand. Sie bildete eine starke Mittelschicht von Kaufleuten und Handwerkern mit familiären Bindungen zu den Bauern, die den größten Teil des kultivierbaren Bodens in diesem Gebiet nutzten (Carragher, St. v. 15. 10. 1980 an Bay.VGH; Wießner, St. v. 14. 10. 1986 an VG Hamburg).

33

Etwa um 1900 versuchten die Armenier (armenische Christen), die damals weite Teile der heutigen Osttürkei bewohnten, ihr Streben nach einer selbständigen Nation mit eigenem Staatsgebiet in die Tat umzusetzen. Diesen Bestrebungen begegnete die türkische Staatsmacht mit aller Härte (vgl. Wiskandt, Gutachten v. 24. 11. 1981) Während der Kriegsjahre 1915/16 sollen ca. 1 Million Armenier getötet und ebensoviele vertrieben worden sein (epd-Dokumentarion Nr. 49/79, v. 12. 11. 1979). In diese Auseinandersetzungen gerieten auch syrisch-orthodoxe Christen, vor allem deshalb, weil sie in der Umgebung von armenischen Christen wohnten und die einzelnen christlichen Glaubensrichtungen vom türkischen Militär nicht unterschieden wurden (weitergehend Yonan, Die Lage der christlichen Minderheiten in der Türkei, pogrom Mai 1979: Alle Christen sollten ausgerottet werden). Der türkische Staat wurde bei diesen Auseinandersetzungen in starkem Maße von Kurden unterstützt. In Reaktion auf diese Maßnahmen der türkischen Staatsmacht töteten armenische Christen im Jahre 1918 die im südöstlichen Teil der Türkei lebenden Kurden zu 100.000en. Eine Vielzahl von Christen wanderte in der Folgezeit in andere Länder aus, ein Teil ließ sich - ab etwa 1928 - in Istanbul nieder.

34

Im Friedensvertrag von Lausanne (1923) wurde das historische Siedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen (Mesopotamien) auf die Staaten Türkei, Libanon, Irak, Iran und Syrien aufgeteilt. Der syrisch-orthodoxe Patriarch hatte schon 1920 seinen Sitz nach Syrien verlegt Carragher, St. v. 15. 10. 1980). Zwar erhielten "nicht-muslimische" Minderheiten in jenem Friedensvertrag gewisse Rechte. Die ungestörte Religionsausübung wurde ebenso garantiert wie der Zugang zu öffentlichen Ämtern. Der Vertrag gestand eigene Schulen und den Gebrauch der Muttersprache vor Gericht und in den Schulen zu. Diese durch den Lausanner Vertrag begründeten Rechte galten/gelten in der allgemeinen Handhabung allerdings nur für die klassischen religiösen Minderheiten, nämlich für die Juden, die griechisch-orthodoxen und die armenischen Christen. Die syrisch-orthodoxen fallen - ebenso wie andere noch in der Türkei lebende christliche Gruppierungen - nicht unter den Vertrag (AA, St. v. 21. 4. 1993 an VG Karlsruhe).

35

Etwa 1923 wurde von Kemal Atatürk der türkische Nationalstaat gegründet. Seine Politik war auf eine Europäisierung gerichtet, insbesondere auf eine weitgehende Trennung von Religion und Staat. Sultanat und Kalifat wurden abgeschafft, islamischer Religionsunterricht verboten, die türkische Sprache in überarbeiteter Form - alle nichttürkischen Elemente wurden herausgefiltert - neu eingeführt. Die Einheit des türkischen Volkes wurde betont, die Existenz von Minderheiten nicht nur Kenntnis genommen. Das Volk der Kurden erklärte man zu "Bergtürken", die verbliebenen christlichen Minderheiten in der Südosttürkei zu "christlichen Bergtürken". Auch nach dem Tode von Atatürk wirkte das von ihm geprägte Staatsverständnis eines ethnisch, kulturell und sprachlich homogenen Landes fort. Minderheitsprobleme wurden weiterhin faktisch nicht zur Kenntnis genommen (Carragher, St. v. 15. 10. 1980). Der Druck der vielfach unterprivilegierten Kurden gegen die oftmals sozial besser gestellten Christen im Gebiet des Tur Abdin nahm nach einer vorübergehenden Abschwächung während der Regierungszeit Atatürks wieder zu (Harb/Anschütz, Gutachten v. 7. 8. 1979). Christen (insbesondere aus den größeren Städten im Tur Abdin) wanderten nach Istanbul aus, wo sie sich vielfach eine angesehene Existenz aufbauen konnten (Harb/Anschütz, Gutachten v. 7. 8. 1979).

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Ab 1959 setzte in der Türkei die Gastarbeiterwelle ein. Auch in Midyat wurde ein Anwerberbüro eröffnet. Die Christen aus dem Tur Abdin, von denen viele handwerkliches und kaufmännisches Geschick besaßen, nahmen dieses Angebot verstärkt an (Harb/Anschütz, Gutachten v. 7. 3. 1979; FAZ v. 4. 12. 1990). Später holten sie ihre Familienangehörigen nach. Erzählungen über die Verhältnisse in Europa veranlaßten weitere Familien zur Auswanderung. Auch viele Geistliche verließen das Gebiet. Als Folge der unzureichend werdenden kirchlichen Betreuung wanderten weitere Christen ab (Wießner, St. v. 14. 10. 1986 an VG Hamburg). Insgesamt wurde dadurch das christliche Bevölkerungselement geschwächt. Während es früher Dörfer mit ausschließlich, zumindest überwiegend christlicher Bevölkerung gab, gerieten die Christen im Laufe der Zeit in den Dörfern zunehmend in die Minderheit (so schon Carragher, St. v. 15. 10. 1980). Die Abwehrkraft der verbliebenen Christen gegen nachrückende (kurdische) Muslime wurde immer schwächer.

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Weitere Spannungen entstanden durch die Zunahme der islamischen Bewegung. Seit 1950 wurden erneut Moscheen gebaut, es gab wieder Religionsunterricht an den Schulen. Seit ca. 1980 ist das Fach Religion in der Praxis gleichbedeutend mit islamischer Religionslehre (Oehring, St. v. 15. 1. 1988 an VGH Bad.-Württ.; Klautke-EKD, St. v. 19. 4. 1988; Binswanger, St. v. 2. 9. 1988 an VGH Bad.-Württ.).

38

Mitte der 60er Jahre griff die Politisierung und Organisation der Befreiungsbewegung zur Gründung eines kurdischen Staates aus dem Irak auf die Kurden in der Türkei über. Die Türkei sah ihre staatliche Integrität bedroht. Das gesamte südöstliche Gebiet (also auch der Tur Abdin) wurde militärisches Sperrgebiet (Yonan, St. v. 7. 4. 1987).

39

Insbesondere vor September 1980 waren im Tur Abdin ganze Landstriche von Aufständischen der kurdischen Nationalbewegung und von Banden (zum Teil sog. Bluträcher-Banden) besetzt. Es herrschte allgemein große Unsicherheit. Nach dem Militärputsch vom September 1980 entschärfte sich durch die starke Präsenz der Soldaten vorübergehend die Lage (vgl. Wießner, St. v. 19. 10. 1984; Müller, St. v. 2. 12. 1984 an Bay.VGH). Ab Mitte der 80er Jahre verschlechterte sich die Situation aber, da der Tur Abdin mitten im Zentrum der seit diesem Zeitpunkt verstärkt geführten Auseinandersetzungen der türkischen Streitmacht mit der marxistisch ausgerichteten PKK ("Arbeiterpartei Kurdistans") liegt. Von beiden Seiten werden die Kämpfe mit brutaler Härte unter großen Opfern auch unter der Zivilbevölkerung geführt. Die Christen werden in diese Auseinandersetzungen gegen ihren Willen hineingezogen (EKD, St. v. 17. 5. 1993 an VG Karlsruhe). Sie sind grundsätzlich weder gegen die PKK noch gegen den türkischen Staat eingestellt, ("Krieg im Tur Abdin", Reisebericht ..., November 1992). Die jeweils andere Seite verdächtigt sie jedoch stets der Zusammenarbeit mit dem Gegner (epd - Dokumentation Nr. 36/91, S. 59; AA, Auskunft v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725).

40

Industriell ist das Gebiet des Tur Abdin weiterhin die rückständigste Region. Die von den Vereinten Nationen im Zusammenhang mit dem Golfkrise beschlossenen Wirtschaftssanktionen gegen den Irak haben den Südosten der Türkei besonders stark getroffen. Der Grenzhandel und damit verbundene Dienstleistungen, die neben der Landwirtschaft praktisch die einzige Erwerbsquelle darstellen, sind durch das Handelsembargo gegen den Irak fast zum Erliegen gekommen. Die ohnehin vorhandene Abwanderungsbewegung hat sich dadurch weiter verstärkt (AA, Lagebericht v. 25. 10. 1990). Der Südosten verödet immer mehr (AA, Lagebericht v. 28. 4. 1993; FR v. 23. 11. 1993).

41

Aufgrund der vorstehend aufgezeigten vielfältigen Gründe ist die Zahl der Mitglieder der syrisch-orthodoxen Kirche im Tur Abdin erheblich zurückgegangen. Gab es dort 1960 noch ca. 90.000 und 1968 noch ca. 21.000 syrisch-orthodoxe Christen (FAZ v. 27. 7. 1993), sind es derzeit nur noch 1.500 bis 3.000 (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; Sternberg/Spohr, Bestandsaufnahme ... März/Oktober 1993; "Krieg im Tur Abdin". Ein Reisebericht ..., November 1992). Priesternachwuchs gibt es kaum noch; Klöster und Kirchen verfallen. Das wichtigste noch bestehende Kloster ist Mar Gabriel mit dem Metropoliten Timotheos Samuel Aktas (epd-Dokumentation Nr. 36/91, S. 52).

42

Insbesondere aufgrund der jetzigen Bevölkerungsstruktur wird der christlichen Kultur im Tur Abdin keine Überlebenschance mehr eingeräumt (vgl. z.B. Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an das Nds. OVG; FAZ v. 27. 7. 1993).

43

Der Senat kann offen lassen, in welchem Maße die angeführten verschiedenen Ursachen jeweils zur starken Abnahme der syrisch-orthodoxen Bevölkerung im Tur Abdin beigetragen haben, insbesondere ob und in welchem Umfang die geschilderten Abwanderungen in der Vergangenheit auf einem (eher) freiwilligen Entschluß der Betroffenen beruhten. Denn für das Asylbegehren der Klägerin ist allein maßgeblich, wie sich die Situation gegenwärtig im Tur Abdin darstellt. Nach Würdigung der seit 1993 vorliegenden Erkenntnisquellen ist zwar weiterhin davon auszugehen, daß den syrisch-orthodoxen Christen dort keine unmittelbare politische Verfolgung droht (1); es ist aber nunmehr eine mittelbare Gruppenverfolgung anzunehmen (2).

44

(1) Das vorhandene Tatsachenmaterial bietet keine tragfähigen Anhaltspunkte für eine unmittelbare Verfolgung der Angehörigen der syrisch-christlichen Glaubensgemeinschaft in ihren angestammten Siedlungsgebieten durch den türkischen Staat, d.h. für eine Verfolgung, mit der staatliche Ziele - offen oder verdeckt - von staatlichen Organen oder durch eigens vom Staat dazu berufene Kräfte durchgesetzt werden sollen (vgl. BVerwG, Urt. v. 15. 5. 1990 - BVerwG 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139, 143) [BVerwG 15.05.1990 - 9 C 17/89].

45

Insbesondere ist die Unterrichtung der türkischen Sprache als offizielle Landessprache in allen Schulen nicht als gegen die christliche Minderheit gerichtete Maßnahme zu werten. Diese Verpflichtung stellt keinen wesentlichen Eingriff in die Handlungsfreiheit des einzelnen dar, verletzt mithin als solche schon nicht die Menschenwürde. Sie ist vielmehr auch für syrisch-orthodoxe Christen als sinnvoll anzusehen, da Behörden des Landes (häufig) nur mit türkisch sprechenden Beamten besetzt sind.

46

Ebensowenig läßt sich aus dem Sprachenverbotsgesetz vom 19. Oktober 1983 eine asylrechtlich beachtliche Verfolgung ableiten. Zum einen ist dieses Gesetz im April 1991 vom türkischen Parlament aufgehoben worden. Zum anderen konnten die Christen im Tur Abdin ungeachtet dieser (früheren) rechtlichen Beschränkungen faktisch im sozialen Alltag in ihrem Siedlungsgebiet ihre Muttersprache ohne Einschränkungen gebrauchen. Sie wurden insbesondere nicht daran gehindert, ihre Gottesdienste in einer altsyrischen Liturgiesprache abzuhalten.

47

Auch in der 1981/82 eingeführten (vgl. Hofmann, St. v. 17. 1. 1987 an VG Köln; Oehring, St. v. 25. 5. 1988 an VG Düsseldorf) und im Zeitpunkt der Ausreise der Kläger noch geltenden, inzwischen aber aufgehobenen Verpflichtung für Kinder christlichen Glaubens, in der Schule am Fach "Religions-, Kultur- und Moralunterricht" teilzunehmen, lag keine asylrechtlich erhebliche unmittelbare Verfolgung. Die Einführung diese Schulpflichtfaches geschah ursprünglich mit dem Ziel, einer weiteren Zunahme "freier" Korankurse als Folge der fortschreitenden Reislamisierung vorzubeugen, die als potentielle Gefahr für den laizistischen Staat angesehen wurden. Ziel dieser Maßnahme war es dagegen nicht, Angehörige von Minderheitsreligionen zu treffen (vgl. im einzelnen Oehring, St. v. 25. 5. 1988; EKD-Klautke, St. v. 19. 4. 1988). Im Laufe der Zeit hat sich diese Unterrichtsart allerdings faktisch zum islamischen Religionsunterricht entwickelt, dem sich auch christliche Kinder insbesondere im Südosten der Türkei nicht entziehen konnten (vgl. hierzu Yonan, St. v. April 1989; Klautke, St. v. 16. 1. 1990 vor VG Braunschweig). Die Pflicht zur Teilnahme am islamischen Religionsunterricht kann jedoch nicht mit der Pflicht, sich zum Islam zu bekehren, gleichgesetzt werden. Sie stellt(e) somit für sich allein keine asylerhebliche Beeinträchtigung dar (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14. 5. 1987 - 9 B 149.87 -, DVBl. 1937, 1113 = NVwZ 1988, 263). Mit dem islamischen Religionsunterricht wird zudem der nicht als willkürlich anzusehende Zweck verfolgt, daß die Kinder christlicher Familien mit dem ihnen fremden Glauben der weit überwiegenden Mehrheitsbevölkerung ihrer Heimat bekannt gemacht werden. Im übrigen sind christliche Kinder seit Mitte August 1990 völlig vom Religionsunterricht freigestellt (vgl. Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; AA, Lagebericht v. 25. 10. 1990 u. St. v. 25. 5. 1993 an VG Karlsruhe). Bereits zuvor, nämlich seit ca. Ende 1986/Anfang 1987 gab es (in der Praxis z. T. allerdings nicht immer eingehaltene) Vorgaben, wonach nichtmoslemische Schüler bestimmte, für den Islam wesentliche Inhalte nicht lernen und bei Durchnahme dieses Stoffes nicht im Klassenraum anwesend sein mußten (vgl. hierzu ausführlich Oehring, St. v. 25. 5. 1988).

48

Auch die zahlreichen administrativen Schwierigkeiten, denen die Christen im täglichen Leben ausgesetzt waren/sind (vgl. z.B. AA, St. v. 10. 11. 1986 an VG Hamburg sowie Lageberichte v. 19. 7. 1988 und 25. 10. 1990), können noch keine politische Verfolgung belegen.

49

Schließlich sind auch Eingriffe in das religiöse Existenzminimum der Christen im Siedlungsgebiet des Tur Abdin von zur Gewährung von Asyl führender Intensität nicht gegeben. Zwar haben die Christen keine Möglichkeit, öffentliche Kirchenarbeit zu leisten (so schon Cicek, St. v. 19. 3. 1981 vor dem Bay.VGH). Weiter ist davon auszugehen, daß ein Neubau oder auch nur eine Erweiterung von kirchlichen Gebäuden in der Regel nicht möglich ist. Eine infolge des Lausanner Vertrages errichtete "Immobilienliste" wirkt als endgültige Festschreibung fort. Renovierungen sind nur mit vorheriger staatlicher Genehmigung zulässig (Carragher, St. v. 15. 10. 1980; Weber/Günther/Reuther, Zur Lage der Christen in der Türkei, November 1989). Diese Einschränkungen - so erheblich sie auch sind - betreffen im wesentlichen jedoch nur die religiöse Betätigung nach außen. Der Kern des religiösen Lebens wurde/wird dagegen vom türkischen Staat nicht beeinträchtigt. Gottesdienste, religiöse Zeremonien und Feierlichkeiten können zumindest ohne wesentliche Einschränkungen im Tur Abdin in den vorhandenen Gebäuden abgehalten werden (vgl. hierzu Wießner, St. v. 19. 10. 1984; Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; AA, St. v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/-14725). Das religiöse Leben nimmt allerdings in dem Maße ab, wie die Bevölkerung abwandert.

50

(2) Wenn hiernach auch nicht von einer unmittelbar staatlichen Verfolgung syrisch-orthodoxer Christen im Tur Abdin auszugehen ist, so führt nach Überzeugung des Senats eine zusammenfassende Würdigung der neueren Erkenntnisse jedoch dazu, heute - im Gegensatz zu früher (vgl. z.B. Urteil des Senats v. 29. 10. 1991 - 11 L 5773/91) - die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer mittelbaren staatlichen Gruppenverfolgung bei einer Rückkehr in die Türkei (hier in das Gebiet des Tur Abdin) zu bejahen. Maßgebend für diese Einschätzung ist das Zusammentreffen folgender Faktoren:

51

Die Situation für die syrisch-orthodoxe Bevölkerung im Tur Abdin hat sich ab Frühjahr 1993 (Aufkündigung des einseitig von der PKK ausgerufenen Waffenstillstandes) erheblich verschärft. Die seitdem dort gegebene, in höchstem Maße unsichere Lage wird von verschiedenen moslemischen Gruppierungen dazu ausgenutzt, gleichsam "im Windschatten" der zunehmenden militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und der türkischen Armee gegen Christen vorzugehen mit dem Ziel, sie zu vertreiben und um ihren wirtschaftlichen Besitz zu bringen.

52

Begünstigt wird dieses Verhalten durch die weiter verstärkt im Vordringen befindliche Reislamisierung, der der türkische Staat nicht entschieden genug entgegentritt. Die Christen sind den Übergriffen weitgehend schutzlos ausgesetzt, zumal ihre eigene Abwehrkraft durch die starke Abwanderung von Glaubensangehörigen geschwächt ist.

53

Hierzu im einzelnen:

54

Die Übergriffe gegen die im Tur Abdin noch lebenden Christen haben in der letzten Zeit erheblich zugenommen. Sie waren schon in der Vergangenheit als Minderheit immer wieder Verfolgungen ausgesetzt. Es kam zu Überfällen, Mißhandlungen, Folterungen, Tötungen. Es wurde Vieh gestohlen, die Ernte vernichtet, Felder wurden verwüstet, Häuser verbrannt (vgl. hierzu z.B. Urt. d. Senats v. 29. 10. 1991 - 11 L 5773/91 -). Diese Übergriffe haben sich weiter verschärft. So wird für den Zeitraum von 1990 bis Anfang 1993 von 20 (AA, St. v. 10. 9. 1993 (514-516/14725)) bzw. von 27 Tötungsdelikten (einschließlich Verschleppungen mit unbekanntem Ausgang) gegenüber Christen (Eilers, Pogrom, April/Mai 1993) berichtet. Andere Beoabachter sprechen von "einigen Dutzend" getöteten Christen in den letzten Jahren (FAZ v. 27. 7. 1993). Oehring gibt die Zahl der im Tur Abdin seit 1990 getöteten Christen mit rund 30 an (St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Nach Angaben der Gesellschaft für bedrohte Völker sollen im Jahre 1993 sogar 27 Christen ermordet worden sein (Badische Neueste Nachrichten v. 24.-25. 12. 1993). Durch die Überfälle sind die dort lebenden Christen völlig verunsichert, viele trauen sich aus Angst vor Morden oder Entführungen nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr aus dem Haus, wagen es nicht, die Felder alleine zu bestellen oder Besuche im Nachbarort zu machen; die Christen fühlen sich vogelfrei (Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993).

55

Hinter den Ausschreitungen stehen vor allem vier Gruppierungen: Mitglieder der PKK, sonstige nichtmilitante Kurden, Dorfschützer und Angehörige der Hizbollah. Daß verstärkt Mitglieder der PKK an Übergriffen gegen Christen beteiligt sind, ist Folge der sich seit Frühjahr 1993 zuspitzenden Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften, von denen zwangsläufig auch Christen betroffen sind.

56

Inwieweit nichtmilitante Kurden an Verfolgungsmaßnahmen gegenüber Christen beteiligt sind, wird allerdings bezogen auf die jüngste Vergangenheit in den Erkenntnismitteln unterschiedlich dargestellt. Nach der Auskunft von Oehring (v. 20. 8. 1993 an VG Münster) erfolgen zur Zeit keine Übergriffe von sonstigen muslimischen Nachbarn auf Christen. Dies beruhe allerdings nicht auf einer nunmehr toleranteren Haltung. Grund sei vielmehr, daß die gesamte Bevölkerung im Tur Abdin aufgrund der verschärften militärischen Auseinandersetzungen in erster Linie mit dem "eigenen Überleben" beschäftigt sei. Im Gegensatz hierzu schreiben amnesty international und das Auswärtige Amt Übergriffe auf Christen auch den landnehmenden, benachbarten moslemischen Kurden zu (AA, Lagebericht v. 16. 11. 1993; Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993).

57

Nahezu übereinstimmend ist den neueren Erkenntnismitteln zu entnehmen, daß Übergriffe von Dorfschützern (vgl. z.B. Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993; Wießner, St. v. 16. 9. 1993; FAZ v. 27. 7. 1993; Eilers, Pogrom April/Mai 1993) sowie von Angehörigen der islamisch fundamentalistischen Hizbollah (Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993; Eilers, Pogrom April/März 1993; Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; etwas einschränkender AA, Auskunft v. 10. 9. 1993 (514-516/14725)) erheblich zugenommen haben. Nach Einschätzung des Senats dürften sie in der letzten Zeit die größte Bedrohung für die Christen darstellen.

58

Die Verschärfung der Situation im Tur Abdin wird besonders deutlich, wenn man die Stellungnahmen des Auswärtigen Amts seit 1989 vergleicht. So heißt es im Lagebericht vom 15. 11. 1989 noch:

59

"Die syrisch-orthodoxe ... Minderheit kommt in ihren klassischen Siedlungsgebieten in Südostanatolien wegen ihrer zahlenmäßigen Schwächung durch die fortlaufende Abwanderung ... unter zunehmenden Druck ihrer islamisch-kurdischen Nachbarn. Die türkische Regierung versucht allerdings, im Rahmen der personellen und materiellen Möglichkeiten für die Sicherheit der Minderheiten zu sorgen. In besonders gefährdeten Dörfern wurden ... Gendarmerie-Posten eingerichtet. Wenn es hier auch örtlich zu vereinzelten Übergriffen kommen kann, so erreichen diese keinesfalls die Intensität einer Gruppenverfolgung ..."

60

In der Stellungnahme vom 12. März 1990 führt das Auswärtige Amt unter anderem aus:

61

"..., daß auch christlichen Bewohnern Südostanatoliens von ihren Nachbarn Vieh gestohlen, die Ernte vernichtet wird, ihre Geschäfte zerstört werden und sie selbst auch körperlich angegriffen werden. Es handelt sich dabei um in dieser Region übliche Stammesauseinandersetzungen zwischen benachbarten Familien ... (der türkische Staat) versucht... durch Einsatz der Sicherheitskräfte derartige Verhaltensweisen zu unterbinden ..."

62

Im Lagebericht vom 25. Oktober 1990 wird die Situation folgendermaßen beurteilt:

63

"Die ... zahlenmäßig stark geschrumpfte syrisch-orthodoxe Gemeinschaft im Südosten der Türkei ... ist in Einzelfällen von Übergriffen ihrer islamisch-kurdischen Nachbarn betroffen ... die ... landlosen islamisch-kurdische Stämme (versuchen) zunehmend, sich widerrechtlich der fruchtbaren Ackerflächen ... zu bemächtigen ... . Dem Auswärtigen Amt sind ... vereinzelte Übergriffe ... bekannt geworden, bei denen auch syrisch-orthodoxe Christen getötet wurden. Ob es sich hierbei um religiös motivierte Verhaltensweisen oder um in dieser Gegend leider nicht seltene und meist blutig ausgetragene Fehden zwischen Großfamilien handelt, kann derzeit nicht beurteilt werden. Die Sicherheitskräfte versuchen, derartige Übergriffe zu unterbinden .... Jedoch liegen auch Anhaltspunkte dafür vor, daß die örtlichen Vertreter der Sicherheitskräfte und der Staatsanwaltschaft mit den Moslems sympathisieren und die Ermittlungen daher nur in dem Umfang betreiben, wie dies nach türkischem Strafrecht unbedingt erforderlich ist. Es kann daher derzeit nicht völlig ausgeschlossen werden, daß einzelne Angehörige christlicher Konfessionen ... unter rechtswidrigen Übergriffen ... zu leiden haben. (Es) ... kann aber nicht von einer generellen Verfolgung dieses Personenkreises aus religiösen Gründen gesprochen werden..."

64

Etwas kritischer, aber auch noch relativ zurückhaltend ist die Beurteilung im Lagebericht vom 28. April 1993:

65

"In den unter Notstandsrecht stehenden ... Gebieten des Südostens leidet die Bevölkerung allerdings nach wie vor unter den oft unverhältnismäßigen Aktionen der Sicherheitskräfte, blutigen Anschlägen von PKK, Hizbollah, diversen Clan-Fehden und lokalen Verdrängungsprozessen, in denen gelegentlich auch die besoldeten "Dorfwächter" eine undurchsichtige Rolle spielen..."

66

Erheblich schärfer ist nunmehr die Einschätzung des Auswärtigen Amtes in seiner Stellungnahme vom 10. September 1993 (514-516/14725):

"(Die) traditionell eher feindselige Haltung (von moslemischen Kurden) gegenüber den ... ansässigen syrisch-orthodoxen Christen hat sich in den letzten Jahren verstärkt. Das hängt besonders mit der Übertragung polizeiähnlicher Befugnisse auf kurdische Dorfbewohner zusammen, die als "Dorfwächter" Militär und Gendarmerie in der Abwehr der ... Pkk unterstützen sollen. Diese Machtstellung wird anscheinend häufig zu Zwecken der persönlichen Bereicherung besonders gegenüber den syrisch-orthodoxen Christen mißbraucht. Fälle von Erpressung, aber auch auf die Vertreibung der Christen abzielende Gewalttaten sind bekannt geworden. Religiöse und wirtschaftliche Motive ... sind bei diesen Übergriffen nur schwer auseinanderzuhalten... Die Übergriffe auf Christen unterscheiden sich (von sonstigen Streitigkeiten zwischen kurdischen Familien-Clans) dadurch, daß hier die Mitglieder einer Bevölkerungsgruppe wegen eines bestimmten Merkmals unterschiedslos ausgegrenzt werden..."

67

Diese Einschätzung spiegelt sich dann auch in dem Lagebericht vom 16. November 1993 wider, in dem ausgeführt wird:

68

"Syrisch-orthodoxe ... Christen werden durch starke Abwanderung mehr und mehr schutzlos. Als schwächste soziale Gruppe werden sie Opfer landnehmender, benachbarter moslemischer Kurden .... Dabei spielen anscheinend einige der rund 40.000 vom Staat besoldeten und bewaffneten zivilen kurdischen "Dorfschützer" eine unrühmliche Rolle. Nach Berichten verschiedener Quellen gehen einige Morde an Christen auf diese "Dorfschützer" und die hinter ihnen stehenden kurdischen Großgrundbesitzer zurück ... Für die ... syrisch-orthodoxen Restgemeinden im Tur Abdin hat sich die Lage seit etwa Mai 1993 noch einmal verschlechtert. War es für sie vorher schon schwierig, eigene Rechtspositionen, insbesondere Eigentum, aber auch Weiderechte und Selbstverwaltungsrechte gegen ein bedrohliches Umfeld bestehend u. a. aus landnehmenden kurdischen Nachbarn, weitgehend selbständig und ohne Kontrolle handelnden aber staatlich besoldeten Dorfschützern und die Region aus dem Untergrund kontrollierenden PKK-Anhängern zu wahren, so hat sich diese Zwangslage nach Aufkündigung des "Waffenstillstandes" durch die PKK im Mai 1993 noch verschärft. Da die Sicherheitskräfte, auch wenn sie es wollten, gar nicht mehr in der Lage sind, die durch weitere Abwanderung immer mehr geschwächte syrianische Restgemeinde gegen die immer häufigeren Übergriffe und Drangsalierungen verschiedenster islamischer Bevölkerungsgruppen zu schützen, wird man mittlerweile von einer Verfolgungssituation der syrisch-orthodoxen Christen des Tur Abdin sprechen müssen ..."

69

Da das Auswärtige Amt aus diplomatischer Rücksichtnahme grundsätzlich eher vorsichtig formuliert, kommt den beiden letzten zitierten Stellungnahmen, die auf eine besonders angespannte Situation seit Frühjahr 1993 hinweisen, nach Auffassung des Senats ein erhebliches Gewicht zu. Die Darstellung des Auswärtigen Amtes steht zudem in Übereinstimmung mit anderen Erkenntnismitteln (vgl. z.B. Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993; ai, St. v. 20. 10. 1993 an Nds. OVG; FAZ v. 27. 7. 1993).

70

Die von den genannten Gruppierungen ausgehenden Übergriffe gegen Chrisren im Tur Abdin haben asylrelevantes Gewicht; denn es geht ihnen darum, die Existenzgrundlage der Christen zu vernichten, sie insgesamt aus dem Gebiet zu vertreiben (vgl. Diestelmann, St. v. 14. 9. 1993 an Nds. OVG; Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993).

71

Die gegen die Christen gerichteten Maßnahmen knüpfen auch an ein durch das Asylrecht geschütztes Merkmal an. Sie erfolgen nach ihrer erkennbaren Gerichtetheit wegen der Zugehörigkeit der Opfer zur Glaubensgemeinschaft der Christen. Dieses bedarf keiner weiteren Erläuterung, soweit Anhänger der islamisch-fundamentalistischen Hizbollah hinter den Übergriffen stehen (vgl. Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Denn ihr Ziel ist letztlich eine "christenfreie" Südosttürkei (Eilers, Pogrom, April/März 1993). Aber auch die Verfolgungsmaßnahmen der übrigen Gruppierungen zielen auf die Zugehörigkeit zur christlichen Glaubensgemeinschaft, also auf ein vom Asylrecht geschütztes Merkmal. Allerdings spielen insbesondere bei Übergriffen von nichtmilitanten Kurden und Dorfschützern auch die Armut der moslemischen Bevölkerung, Habgier und wirtschaftliche Interessen eine große Rolle. Hinter den Übergriffen von Dorfschützern werden z.B. kurdische Großgrundbesitzer vermutet, die bestrebt sind, in den Besitz des Landes der Christen zu kommen (FAZ v. 27. 7. 1993), das häufig besser bewirtschaftet ist als das ihrer muslimischen Nachbarn (ai, St. v. 20. 10. 1993 an Nds. OVG). Hingegen werden bei Übergriffen von Mitgliedern der PKK vorrangig militärisch-strategische Überlegungen maßgebend sein. Für die Annahme einer politischen Verfolgung ist jedoch nicht erforderlich, daß die Maßnahme ausschließlich religiös motiviert ist. Es reicht vielmehr aus, wenn neben anderen auch asylerhebliche Gründe für die Verfolgung mit ursächlich sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12. 7. 1993 - 2 BvR 855/93). Davon ist hier auszugehen.

72

Ursächlich für die Übergriffe gegen Christen ist neben wirtschaftlichen bzw. strategischen Gründen nämlich auch das religiöse Überlegenheitsgefühl der Moslems gegenüber den Christen sowie die infolge zunehmender Abwanderung fortschreitende Schutzunfähigkeit der Christen gegenüber Anfeindungen und Drangsalierungen. Das Verhältnis zwischen Moslems und Christen ist bereits im Koran beschrieben. Danach kennt der Islam zwar keinen Zwang zum Glauben, jedoch betrachtet er das Christentum nicht als eine neben sich gleichberechtigte Religion. Der Islam erhebt vielmehr einen Absolutheitsanspruch. Von daher erklärt sich, daß selbst die Christen, die als "Besitzer der Schrift" gelten, aus der Sicht der Moslems keine gleichberechtigten Bürger sein können. Übergriffe gegen Christen werden auch dadurch erleichtert, daß diese infolge der starken Abwanderung zahlenmäßig geschwächt sind und sich deshalb gegenüber Angriffen nicht mehr ausreichend verteidigen können. Die Anzahl der syrisch-orthodoxen Christen im Tur Abdin ist in den vergangenen Jahren weiter zurückgegangen. Während 1990/91 die Einwohnerzahlen noch mit 6.000 bis 10.000 angegeben wurden (vgl. hierzu OVG Lüneburg, Urt. v. 29. Oktober 1991 - 11 L 5773/91 -) belaufen sich die aktuellen Schätzungen nur noch auf ca. 3.000 Einwohner (vgl. Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme ... März/Oktober 1993; "Krieg im Tur Abdin", Ein Reisebericht ... November 1992). Zum Teil wird sogar nur eine Zahl von ca. 1500 bis 1800 angegeben (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG). Dieser starke Rückgang der christlichen Bevölkerung hat sich auch in dem Herkunftsort der Klägerin bemerkbar gemacht. Sie gehörte dort der letzten von ursprünglich 25 christlichen Großfamilien an. Darüberhinaus ist die Bevölkerungstruktur der im Tur Abdin verbliebenen syrisch-orthodoxen Gemeinde unausgewogen. Es sind in erster Linie alte Leute, die ihre Heimat aus verschiedenen Gründen nicht verlassen wollen (so schon Oehring, St. v. 16. 1. 1990 vor VG Braunschweig). Die restlichen Gemeindemitglieder leben zudem nicht auf engerem Raum zusammen, sondern verstreut in der ohnehin unwegsamen (vgl. Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG) Region (zur Aufteilung im einzelnen vgl. Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme ..., März/Oktober 1993). Schon diese Angaben verdeutlichen, daß die Christen im Tur Abdin aus sich heraus nicht mehr wehrfähig sind und auch deswegen ein bevorzugtes Ziel für Angriffe bieten.

73

Die demnach (auch) an ein asylerhebliches Merkmal anknüpfenden Verfolgungsmaßnahmen sind zu einem erheblichen Teil dem türkischen Staat zuzurechnen. Soweit Anhänger der PKK hinter den Maßnahmen stehen, kann dieses dem türkischen Staat allerdings nicht zugerechnet werden (vgl. Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Es ist bekannt, daß Militär und Sicherheitskräfte die verschiedenen operierenden Organisationen des kurdischen militanten Widerstandes als ernste Gefahr für den Staat ansehen und energisch bekämpfen. Es lag und liegt nicht im Interesse des türkischen Staates, die nichtkurdische Minderheit dem Einfluß der PKK zu überlassen. Es wäre auch nicht plausibel, dem türkischen Staat Maßnahmen kurdischer Separatisten zuzurechnen, die er seinerseits mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpft. Anderes gilt jedoch für die Dorfschützer und die Angehörigen der Hizbollah. Die vom Senat ausgewerteten Erkenntnismittel belegen, daß der türkische Staat zumindest im Tur Abdin nicht bereit ist oder - obwohl er dazu imstande wäre - sich nicht in der Lage sieht, die ihm an sich verfügbaren Mittel einzusetzen, um die dort lebenden Christen vor Übergriffen zu schützen. Er nimmt die politische Verfolgung von Christen im Südosten der Türkei vielmehr im großen und ganzen tatenlos hin und versagt den Betroffenen dadurch den erforderlichen Schutz. Zwar nehmen staatliche Stellen Anzeigen und Strafanträge von Christen entgegen, gehen diesen aber nicht mit der gebotenen Intensität nach. So werden z.B. Drangsalierungen durch die Dorfschützer von den türkischen Behörden meist etwaigen Verbindungen der betreffenden Christen zur PKK zugeschrieben mit der Folge, daß die Dorfschützer unbestraft bleiben (Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993; Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an das Nds. OVG). Damit in Übereinstimmung stehen die letzten Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes, aus denen sich ebenfalls ergibt, daß der türkische Staat Übergriffe zwar nicht positiv fördert, sie aber duldet. So heißt es in der Stellungnahme vom 10. September 1993 an das VG Münster (514-516/14725):

74

"Von staatlicher Seite werden die Übergriffe auf die christliche Minderheit ... nicht unterstützt. Allerdings scheint es auch nicht zu ernsthaften Versuchen gekommen zu sein, die verübten Morde und andere Verbrechen zu verfolgen. Auch sind von staatlicher Seite keine besonderen Maßnahmen getroffen worden, die syrisch-orthodoxen Christen verstärkt gegen Übergriffe zu schützen. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, daß ... staatlicher Schutz des einzelnen ohnehin nur unzureichend gewährt werden kann ..."

75

In einer anderen Stellungnahme vom 10. September 1993 (514-516/14725 b) spricht das Auswärtige Amt von einer "auffälligen Zurückhaltung der Sicherheitskräfte" im Notstandsgebiet, die in anderen Provinzen nicht festzustellen sei. Dieser deutlichen Situationsbeschreibung durch das Auswärtige Amt mißt der Senat erhebliche Bedeutung bei, gerade weil sich das Auswärtige Amt sonst eher zurückhaltend äußert. Viele Christen verzichten in Erwartung der Zwecklosigkeit, aber auch wegen der Furcht vor Repressionen, nicht selten darauf, überhaupt Straftaten von Moslems anzuzeigen (Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993). Die Darlegungen von Oehring (St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster) stehen dieser Einschätzung nicht entgegen. Oehring führt aus, daß staatliche Stellen bei Bekanntwerden von etwaigen rechtswidrigen Übergriffen der "muslimischen Bevölkerung" auf syrisch-orthodoxe Christen im Regelfall eingreifen würden. Aus dem Gesamtzusammenhang der Stellungnahme ergibt sich jedoch, daß Oehring unter den Begriff "muslimische Bevölkerung" nicht die Dorfschützer bzw. Mitglieder der Hizbollah erfassen wollte (vgl. Bl. 13 der Stellungnahme). Gerade diese beiden Gruppen sind jedoch - wovon auch Oehring (aaO) ausgeht - in letzter Zeit in zunehmendem Maße für Überfälle auf christliche Dörfer verantwortlich. Soweit Anhänger der Hizbollah hinter Übergriffen stehen, sind gegen diese in der Vergangenheit zwar offiziell Strafverfahren eingeleitet worden, doch kommen angeblich "die Ermittlungen nicht weiter". Immer häufiger wird die Vermutung geäußert, daß eine Aufklärung der Straftaten vom Staat gar nicht gewünscht werde, damit etwaige Querverbindungen zwischen staatlichen Organen und der Hizbollah nicht aufgedeckt würden (vgl. Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Da auch im übrigen nicht bekannt geworden ist, daß der türkische Staat konkrete Maßnahmen gegen die der Taten verdächtigen Mitglieder der Hizbollah ergriffen hat (FAZ v. 29. 10. 1993), muß er sich die Handlungen der Hizbollah zurechnen lassen. Gleiches gilt, soweit Dorfschützer hinter Übergriffen gegen Christen stehen. Deren Taten sind schon deswegen dem türkischen Staat zuzurechnen, weil er die Dorfschützer eingesetzt hat und sie besoldet. Eine Zurechenbarkeit entfällt auch nicht etwa deshalb, weil die Dorfschützer selbständig und in der Regel unkontrolliert handeln (vgl. AA, Lagebericht v. 16. 11. 1993). Es ist in der Rechtsprechung zwar anerkannt, daß einzelne atypische Handlungen von im weitesten Sinne dem Staat angegliederten Personen unter Umständen als sogenannter Amtswalterexzeß dem jeweiligen Staat nicht zuzurechnen sind (vgl. z.B. BVerfG, Beschl. v. 11. 5. 1993 - 2 BvR 1989/92 u.a. -). Vorliegend ist den vorhandenen Erkenntnismitteln jedoch nicht zu entnehmen, daß nur wenige Dorfschützer an Übergriffen gegen Christen beteiligt sind. Es wird vielmehr - vor allem vom Auswärtigen Amt selbst (Lagebericht v. 16. 11. 1993) - die Gruppe der Dorfschützer, die in den gesamten Notstandsgebieten der Türkei aus ca. 40.000 Personen bestehen soll, allgemein für Angriffe auf Christen und deren Hab und Gut verantwortlich gemacht (ähnlich auch Eilers, Pogrom, April/Mai 1993; FAZ v. 27. 7. 1993). Soweit sonstige nichtmilitante Kurden Straftaten gegen Christen begehen, schätzt Oehring in seiner Stellungnahme vom 20. 8. 1993 an das VG Münster zwar die Schutzbereitschaft des türkischen Staates höher ein als die übrigen Erkenntnisquellen. Dem brauchte jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden, weil - wie oben dargelegt - die in jüngster Zeit sich verschärfenden Verfolgungen in erster Linie Dorfschützern und Mitgliedern der Hizbollah zuzuschreiben sind, wobei beide Gruppierungen wieder teilweise untereinander in Beziehung stehen sollen (Neppert, ai, Bericht vom 18. 5. 1993).

76

Eine mittelbare staatliche Gruppenverfolgung scheitert auch nicht daran, daß im Gebiet des Tur Abdin die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften in letzter Zeit an Umfang und Härte zugenommen haben. Allerdings wird zum Teil von einem Bürgerkrieg bzw. einer bürgerkriegsähnlichen Situation im Tur Abdin gesprochen (vgl. z.B. AA, Lagebericht v. 28. 4. 1993 u. St. v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725); Lagericht v. 16. 11. 1993; epd - Dokumentation Nr. 36/91 - "Südosttürkei: In der Region herrscht praktisch Bürgerkrieg"; "Krieg im Tur Abdin", Ein Reisebericht ..., November 1992). Konkrete Informationen darüber, daß und in welchen Bereichen die PKK die türkische Streitmacht im Südosten der Türkei derart zurückgedrängt hat, daß nunmehr die faktische Gebietsgewalt ausschließlich bei der PKK liegt, sind jedoch den Erkenntnismitteln (bislang) nicht zu entnehmen (zu den entsprechenden Anforderungen vgl. z.B. BVerfG, Beschl. v. 9. 12. 1993 - 2 BvR 1916/93 -, DVBl 1994, 203[BVerfG 09.12.1993 - 2 BvR 1916/93]). Der Ausnahmetatbestand eines Bürgerkrieges bzw. einer Guerilla-Bürgerkriegssituation mit den daraus folgenden asylrechtlichen Konsequenzen (vgl. hierzu Beschl. d. BVerfG v. 10. 7. 1989 - 2 BvR 502, 1000, 951/86 -, aaO) kann daher für das Gebiet des Tur Abdin zumindest zur Zeit nicht bejaht werden.

77

Der Senat hat bei der Prüfung, inwieweit das Verhalten der genannten Gruppierungen, insbesondere der Dorfschützer und der Hizbollah, dem türkischen Staat zuzurechnen ist, des weiteren berücksichtigt, daß es in dem Gebiet der Osttürkei eine Staatsordnung im mittteleuropäischen Sinne nicht gibt, ein als Korruption zu bezeichnendes Verhalten weithin zu den landesüblichen Verhaltensformen gehört (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG), die kurdischen Großgrundbesitzer im Südosten um ihre feudale Vorherrschaft fürchten und deshalb mit dem türkischen Staat gegen die PKK zusammenarbeiten und ihnen deswegen wiederum vom türkischen Staat ein besonderes Maß an Rücksichtnahme entgegengebracht wird (Wießner, aaO), eine zu intensive Verteidigung von Christen zumindest aus Sicht des türkischen Staates die Gefahr beinhaltet, daß in Reaktion darauf der Kreis der islamischen Fundamentalisten sich vergrößert und eine nicht mehr unter Kontrolle zu bringende Konfliktsituation entstünde (Yonan, St. v. 7. 4. 1987), im Südosten der Türkei Blutrache und Fememorde an der Tagesordnung sind (AA, Lagebericht v. 16. 11. 1993), schließlich, daß wesentliche Kräfte des Staates durch die militärischen Auseinandersetzungen mit der PKK in jenem Gebiet gebunden sind. Gleichwohl reichen diese Umstände nach Auffassung des Senats nicht aus, um die in den vorliegenden Erkenntnismitteln übereinstimmend festgestellte zögerliche Verhaltensweise türkischer Strafverfolgungsbehörden bei der Verfolgung der gegen Christen begangenen Übergriffe als asylrechtlich irrelevant einzustufen. Gerade weil der türkische Staat zur Zeit in starkem Maße mit Sicherheitskräften im Tur Abdin präsent ist (nach Zeitungsberichten sollen zwischen 140.000 und 200.000 Soldaten, Angehörige der paramilitärischen Gendarmerie und Polizisten in den Notstandsprovinzen eingesetzt sein, vgl. FAZ v. 30. 10. 1993; FR v. 29. 12. 1993; Der Spiegel v. 6. 12. 1993), er seit dem Militärputsch im September 1980 zur Wahrung seiner eigenen Interessen mit erheblichen militärischen und polizeilichen Mitteln gegen andere Störer, wie z.B. kurdische Separatisten vorgeht, müßte es ihm - wenn wirklich die Bereitschaft dazu bestünde - auch möglich sein, die geringe Zahl der noch im Tur Abdin verbliebenen Christen vor Angriffen ausreichend zu schützen. Statt dessen bleibt die Minderheit der Christen jedoch weitgehend ungeschützt (vgl. zur Bedeutung dieses Gesichtspunktes BVerfG, Beschl. v. 23. 1. 1991 - 2 BvR 902/85 u.a. -, aaO).

78

Nach alledem fehlt eine dem Grad der Bedrängnis der Christen entsprechende konkrete Schutzbereitschaft des türkischen Staates. Seine asylrechtliche Verantwortung ist deshalb nicht ausgeschlossen.

79

Der Senat ist davon überzeugt, daß die Verfolgung der syrisch-orthodoxen Christen heute die eine Gruppenverfolgung kennzeichnende Intensität aufweist. Zwar bestehen keine Anhaltspunkte für pogromartige flächendeckende Massenausschreitungen gegen Christen im Tur Abdin. Nach Auswertung des verfügbaren Erkenntnismaterials, das eine erhebliche Verschlechterung der Lage der Christen in Südostanatolien insbesondere seit Frühjahr 1993 belegt, ist der Senat aber davon überzeugt, daß sie in dem für die gerichtliche Prüfung eines Asylbegehrens maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung von ihren moslemischen Landsleuten (insbesondere Dorfschützern und Mitgliedern der Hizbollah) mit solcher Härte, Ausdauer und Unnachgiebigkeit verfolgt werden, laß jeder Angehörige dieser Minderheit sich ständig der Gefährdung an Leben, Leib oder persönlicher Freiheit ausgesetzt sieht. Der Senat hat keine Zweifel daran, daß es sich bei den religiös gerichteten, asylerheblichen Übergriffen auf Christen nicht um Einzelfälle handelt. Dagegen spricht schon die Zahl der glaubhaft geschilderten Vorkommnisse (vgl. z.B. Neppert, ai, Bericht v. 18. 5. 1993; FAZ v. 27. 7. 1993; "Krieg im Tur Abdin", Ein Reisebericht ... November 1992; Situationsbericht über die Aramäer vom 2. 5. 1993), bei deren Gewichtung zu berücksichtigen ist, daß sich die Beobachter nur über einen kurzen Zeitraum im Siedlungsgebiet der syrisch-orthodoxen Christen aufgehalten haben und daher nur über Vorfälle berichten konnten, die während ihrer Aufenthalte geschehen sind oder ihnen geschildert wurden. Bedenkt man zudem, daß die Übergriffe auf syrisch-orthodoxe Christen in dem Erkenntnismaterial oftmals nur beispielhaft beschrieben, nicht aber vollständig aufgeführt worden sind; ist angesichts der feindlich eingestellten moslemischen Umgebung anzunehmen, daß die Zahl der in qualitativer Hinsicht asylrelevanten Übergriffe, die im übrigen - wie bereits erwähnt - von den Betroffenen häufig gar nicht erst angezeigt werden, bedeutend höher ist, als die Zahl der bekannt gewordenen Vorfälle. Gemessen an der nunmehr geringen Zahl der im Tur Abdin noch lebenden Christen fallen die asylerheblichen "Verfolgungsschläge" nach Intensität und Häufigkeit so dicht und eng gestreut, daß bei objektiver Betrachtung für jedes Gruppenmitglied die Furcht begründet ist, jederzeit selbst ein Opfer solcher Verfolgungsmaßnahmen zu werden. Dabei hat der Senat berücksichtigt, daß nur ein Teil der in den Erkenntnismitteln geschilderten Übergriffe auf Christen den Dorfschützern und Mitgliedern der Hizbollah zuzuschreiben ist (zur - geschätzten - Aufteilung vgl. z.B. Cehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Allein diese Übergriffe rechtfertigen jedoch schon im Hinblick auf die nur noch äußerst geringe Zahl der im Tur Abdin lebenden Christen die Annahme einer mittelbaren Gruppenverfolgung.

80

In diesem Zusammenhang kommt auch dem bereits oben erwähnten Umstand eine wesentliche Bedeutung zu, daß die Großgrundbesitzer wegen der feudal gebliebenen Gesellschaftsstruktur in Ostanatolien über erhebliche Macht verfügen, die sie einsetzen, um auch mit Gewalt selbst in Besitz des Landes der Angehörigen von nicht wehrhaften Minderheiten - wie z.B. der Yeziden (vgl. hierzu Urt. d. Senats vom 28. 1. 1993 - 11 L 513/89 -) und der Christen - zu kommen, oder ihre Klientel mit Land zu versorgen (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG; AA, Auskunft v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725)). Gerade weil sich die türkische Regierung infolge der verschärften Auseinandersetzungen mit der PKK verstärkt auf die kurdischen Feudalherren und deren Gefolgsleute stützt, haben diese dadurch eine relativ unangreifbare Stellung erlangt und Freiräume gewonnen, die sie bzw. die für sie handelnden Personen zu weiteren Übergriffen gegen Christen verleiten. Insbesondere fühlt sich auch die Dorfmiliz, die faktisch polizeiähnliche Funktionen ausübt, den Großgrundbesitzern verpflichtet und läßt sich daher zur Verfolgung der Interessen der Großgrundbesitzer benutzen. Begünstigt werden die Übergriffs gegen Christen insbesondere durch die Zuspitzung der militärischen Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften seit Frühjahr 1993. So werden die Repressalien von Dorfschützern häufig mit dem Vorwand gerechtfertigt, die betreffenden Christen stünden im Verdacht, mit der PKK zusammenzuarbeiten (vgl. Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG).

81

Von Bedeutung ist weiter, daß sich im Südosten der Türkei der Druck auf die Christen auch wegen des Krieges zwischen Armenien und Aserbaidschan und wegen des Krieges im ehemaligen Jugoslawien landesweit erheblich verstärkt hat. Die angegriffenen Muslime dieser Länder werden von einem großen Teil der türkischen muslimischen Bevölkerung als Brüder angesehen, die von den Christen "bekriegt" werden (ai, Türkei (Christen) v. 27. 9. 1993 u. v. 20. 10. 1993 an Nds. OVG). Dabei ist den moslemischen Bewohnern im Tur Abdin vielfach nicht klar, daß es sich bei syrisch-orthodoxen und armenischen Christen um zwei durchaus verschiedene Gruppen mit stark abweichenden religiösen Gebräuchen handelt (AA, Auskunft v. 11. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725)). Die generelle Bedrohung der Christen wird dadurch erhöht, daß die türkische Regierung in jüngster Zeit das Argument in den Vordergrund stellt, Armenier kämpften in der PKK. Auch hier führt die Unwissenheit mancher Moslems im Tur Abdin dazu, daß sie die syrisch-orthodoxen mit den armenischen Christen verwechseln (AA, Lagebericht v. 16. 11. 1993).

82

Darüber hinaus hat die auch in der Türkei zu beobachtende Renaissance des orthodoxen Islam (vgl. FAZ v. 25. 10. 1993 u. 30. 10. 1993; AA, Lageberichte v. 25. 10. 1990 u. 16. 11. 1993 sowie Auskunft v. 3. 9. 1993 an VG Wiesbaden), die u. a. in dem vermehrten Bau von Moscheen deutlich wird und immer breitere Bevölkerungskreise (insbesondere der Unter- und Mittelschicht) erfaßt (vgl. Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG), nicht nur zu einem spürbaren Schwinden der gegenüber Andersgläubigen ohnehin nicht großen Toleranz, sondern auch zum Anwachsen des Fanatismus beigetragen, der sich in erster Linie gegenüber Andersgläubigen entlädt, auch wenn diese - wie die Christen - Inhaber einer sogenannten "Buch-Religion" sind.

83

Des weiteren haben die knapper werdenden Ressourcen sowie die zunehmende Verarmung weiter Bevölkerungskreise infolge der ungünstigen wirtschaftlichen Entwicklung in der Türkei und der besonders hohen Arbeitslosigkeit in Südostanatolien die Spannungen zwischen Moslems und den gegenüber Moslems in der Regel eher wohlhabenderen Christen verschärft und die Bereitschaft bei den Moslems verstärkt, sich - auch mit Gewalt - wirtschaftliche Vorteile zu Lasten der Minderheit der Christen zu verschaffen.

84

Schließlich hat die durch alle Erkenntnisquellen belegte und bereits oben dargestellte starke Abwanderung der Christen aus dem Tur Abdin zur Aufgabe ganzer Dörfer, zur Schrumpfung der christlichen Restbevölkerung in den von ihnen noch bewohnten Siedlungen sowie zum Einzug moslemischer Kurden in diese geführt. Dieses hat ein stetiges Nachlassen der Abwehrkraft gegen Übergriffe moslemischer Nachbarn zur Folge gehabt, zumal vor allem ältere und relativ junge Leute zurückgeblieben sind. Die Abwanderung hat mittlerweile ein derartiges Ausmaß erreicht, daß ein Überleben der christlichen Kultur im Tur Abdin von den Gutachtern als nicht mehr wahrscheinlich angesehen wird. Während viele syrisch-orthodoxe Christen sich früher jedenfalls im Schutz ausreichend großer und ausschließlich von ihren Glaubensgenossen bewohnter Dörfer mit intaktem Sozialgefüge, insbesondere normaler Altersstruktur, gegen Angriffe noch mit Erfolg zur Wehr setzen konnten, sich also selbst zu schützen vermochten, kann die mittlerweile auf einen Bestand von allenfalls 1.500 bis 3.000 Mitgliedern geschrumpfte Restgemeinde im Tur Abdin den Übergriffen moslemischer Gruppierungen in keiner Weise mehr standhalten.

85

Aus all diesen Gründen ist der Senat der Auffassung, daß der Klägerin bei einer Rückkehr in ihre Heimatregion gegenwärtig und auf absehbare Zeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine gruppengerichtete Verfolgung wegen ihres syrisch-orthodoxen Glaubens droht. Umstände, die diese Regelvermutung eigener Verfolgung (vgl. dazu BVerwG, Urt. v. 15. 5. 1990 - 9 C 17.89 -, BVerwGE 85, 139) widerlegen könnten, sind nicht ersichtlich.

86

b) Der Senat ist weiter der Überzeugung, daß der Klägerin heute und in absehbarer Zukunft ein Ausweichen vor politischer Verfolgung in andere Landesteile der Türkei nicht zumutbar ist, so daß sie keine inländische Fluchtalternative besitzt und daher in ihrem Heimatstaat landesweit in eine ausweglose Lage geraten ist. Der Senat geht nach Auswertung des zur Verfügung stehenden Erkenntnismaterials davon aus, daß als inländische Fluchtalternative für syrisch-orthodoxe Christen nur Istanbul in Betracht kommt; denn in allen anderen Regionen und Orten in der Türkei (mit Ausnahme des ursprünglichen Siedlungsgebietes Tur Abdin) gibt es für syrisch-orthodoxe Christen keine kirchliche Betreuung, so daß das religiöse Existenzminimum insoweit nicht gewahrt wäre (vgl. Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG). Aber auch Istanbul stellt letztlich keine zumutbare inländische Fluchtalternative dar. Zwar gibt es dort eine syrisch-orthodoxe Gemeinde, auch sind die Christen in Istanbul vor politischer Verfolgung hinreichend sicher (1). Es droht ihnen jedoch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Leben unterhalb des Existenzminimums (2).

87

(1) Etwa seit 1938 existiert in Istanbul eine nennenswerte syrisch-orthodoxe Kirchengemeinde, die zunächst nur einige hundert Mitglieder hatte. 1982 soll es dann in Istanbul ca. 15.000 syrisch-orthodoxe Christen gegeben haben (Akdemir, St. v. 25. 7. 1982 an VG Minden), 1988 ca. 10.000 (Klautke, St. v. 9. 12. 1988 vor VG Köln), 1993 ca. 11.000 (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; AA, St. v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725); nach Angaben von Wießner (St. v. 16. 9. 1993) und Sternberg-Spohr, (Bestandsaufnahme ..., März/Oktober 1993) soll die Zahl der Gemeindemitglieder in Istanbul dagegen nur 4.000 bzw. 5.000 betragen). In Istanbul leben die syrisch-orthodoxen Christen verstreut auf alle Stadtteile mit Schwerpunkten in den Stadtteilen Tarlabasi, Karakoyü, Kadiköyü, Konkapi, Bakirköyü, Yesilköy und Samatya. In diesen Stadtteilen haben sich im Laufe der letzten Jahrzehnte sieben syrisch-orthodoxe Gemeinden gebildet. Die Gemeinde in Tarlabasi hat eine eigene Kirche, die seit 1986 Amtssitz des Erzbischofes (Metropolit von Istanbul) Cetin ist. Die anderen Gemeinden haben keine eigene Kirche. Es besteht aber Gastrecht in sechs bis sieben Kirchen anderer Konfessionen (vgl. Carragner, St. v. 15. 10. 1980 an Bay. VGH; Klautke, St. v. 18. 5. 1982 an VG Minden und v. 16. 1. 1990 vor VG Braunschweig; Weber/Günther/Reuther, Zur Lage der Christen in der Türkei, November 1989). Der Metropolit Cetin wird von sieben weiteren Geistlichen unterstützt (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Engere Verbindungen zu anderen christlichen Gemeinden in Istanbul bestehen nicht. Die christlichen Kirchen in der Türkei bemühen sich bewußt darum, nicht den Eindruck einer "geschlossenen Front" gegenüber dem türkischen Staat zu erwecken (Carragher, St. v. 15. 10. 1980).

88

Auch nach den neuesten Erkenntnismitteln ist weiterhin (vgl. z.B. schon Urteil des erkennenden Senats vom 24. 10. 1990 - 11 L 95/89 -) davon auszugehen, daß die Christen in Istanbul vor unmittelbarer oder mittelbarer politischer Verfolgung hinreichend sicher sind. Allerdings ist die syrisch-orthodoxe Kirche auch in Istanbul in der Regel administrativen Eingriffen ausgesetzt, wie etwa der Beschränkung der Verfügungsgewalt über kirchliches Vermögen oder Behinderungen bei Bautätigkeiten. Derartige Maßnahmen bleiben jedoch unterhalb der asylrechtlich erheblichen Schwelle. Sie stellen die Existenz der Kirche als solche in Istanbul noch nicht in Frage und nehmen den Gläubigen nicht die Möglichkeit, wenigstens im engsten Bereich ihr religiöses Bekenntnis auszuüben, den Gottesdienst zu besuchen und Gemeinschaft mit anderen Gemeindemitgliedern zu pflegen. So haben die syrisch-orthodoxen Christen die Möglichkeit des gemeinsamen Gebets und des öffentlichen Gottesdienstes unter Leitung ihrer Priester (AA, Auskunft v. 12. 3. 1990 en VG Oldenburg; vgl. auch AA, Auskunft v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14726): Religiös motivierte Übergriffe in Istanbul sind nicht bekannt; Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Zwar unterstützt der türkische Staat die syrisch-orthodoxe Christengemeinde in Istanbul nicht positiv - dazu ist er auch nicht verpflichtet -, duldet jedoch gewisse auch nach außen hin deutlich werdende religiöse Betätigungen. So tritt z.B. das geistliche Oberhaupt in Istanbul, der Metropolit Cetin, bei bestimmten Veranstaltungen in seinem vollen geistlichen Gewand auf, ohne daß dieses bislang vom türkischen Staat unterbunden wurde. Auch entwickelt Cetin trotz der rechtlichen Schlechterstellung der syrisch-orthodoxen Kirche Ansätze einer modernen "Gemeindepastoral" (Weber/Günther/Reuther, November 1989). Weiter versucht er für die sozial Ärmsten eine gewisse finanzielle Absicherung zu erreichen, indem er reiche Mitglieder seiner Gemeinde um Geldspenden bittet. Dieses Verhalten dürfte, auch wenn es nicht demonstrativ gehandhabt wird, den türkischen Behörden bekannt sein. Maßnahmen dagegen sind bislang - soweit bekannt - nicht ergriffen worden. In jüngster Zeit haben zudem zwei syrisch-orthodoxen Gemeinden in Istanbul Mehrzweckgebäude errichten lassen, die neben Mietwohnungen auch über Räume für gemeindliche Aktivitäten verfügen. Die Gebäude sind mit behördlicher Genehmigung errichtet worden, wobei der Bauherr nicht die jeweilige syrisch-orthodoxe Gemeinde war. In beiden Fällen war den zuständigen Behörden aber bekannt, durch wen die zu errichtenden Gebäude nach Fertigstellung genutzt werden sollten (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Schließlich wird den Kindern und Jugendlichen in allen syrisch-orthodoxen Gemeinden in Istanbul Religionsunterricht und seit 1993 auch aramäischer Sprachunterricht erteilt (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster), ohne daß der türkische Staat dagegen - soweit ersichtlich - eingeschritten ist.

89

Die Christen sind in Istanbul in der Regel auch keinen religiös motivierten Übergriffen von asylerheblicher Bedeutung durch muslimische Nachbarn ausgesetzt. Die syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul werden genauso häufig oder selten Opfer von Straftaten wie ihre nichtchristlichen Mitbürger (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Nicht auszuschließen ist es naturgemäß, daß es gleichwohl vereinzelt zu Übergriffen kommt. In diesen Fällen erhalten Christen in Istanbul aber im allgemeinen den gleichen Schutz wie andere Bevölkerungsteile (vgl. Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; AA, Auskunft v. 21. 4 u. 25. 5. 1993 an VG Karlsruhe, v. 10. 9. 1993 an VG Münster (514-516/14725) sowie Lagebericht v. 16. 11. 1993). Denkbar ist allerdings nach wie vor, daß sozial schwachen Personen nicht in gleicher Weise Schutz geboten wird wie wirtschaftlich privilegierten Personen. Es ist weiter davon auszugehen, daß staatliche Stellen in Istanbul zur Wahrung öffentlicher Interessen mit deutlich effektiveren Mitteln vorgehen und dabei auch erfolgreicher sind, als dies beim Schutz privater Belange der Fall ist. Diese Einschränkungen treffen jedoch alle Bewohner Istanbuls, gleich ob sie Nicht-Muslime oder Muslime sind (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster).

90

Die allgemeine "Stimmung" in Istanbul laßt nach den Erkenntnismitteln zwei unterschiedliche Strömungen erkennen: Zum einen hat sich die türkische Gesellschaft jedenfalls im Westteil des Landes in letzter Zeit ganz allgemein geöffnet. Das hat u. a. in den Medien zu einer Diskussion über Minderheitenprobleme geführt. Zwar hat diese vorsichtige Öffnung auch heftige Reaktionen der islamisch-fundamentalistischen Gruppen hervorgerufen. Beobachter der Situation sind sich aber darin einig, daß der Prozeß der Öffnung der türkischen Gesellschaft kaum noch umkehrbar sein dürfte, wenn es der Regierung innerhalb der nächsten fünf Jahre gelingen sollte, die wirtschaftlichen Probleme der Türkei in den Griff zu bekommen und vor allem die Lebensumstände der Unterprivilegierten - und das ist in der Türkei die Masse der Bevölkerung - entscheidend zu verbessern (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Karlsruhe). Andererseits wird in Presse und Fernsehen zum Teil Stimmung gegen die Christen gemacht. Angebliche oder auch tatsächliche (vgl. hierzu Weber/Günther/Reuther, November 1989) Missionsarbeit von Christen wird angeprangert. Nach Auskunft eines türkischen Staatsministers (Amt für religiöse Angelegenheiten) ist es das größte Ziel, die Christen zu moslemisieren (Klautke, St. v. 16. 1. 1990 vor VG Braunschweig). In die gleiche Richtung geht der sog. "Geheimbeschluß" der islamischen Versammlung von Lahor (Pakistan), der darauf gerichtet ist, das ganze Gebiet des mittleren Ostens bis zum Jahre 2000 völlig zu islamisieren (vgl. hierzu Diestelmann, St. v. 14. 9. 1993 an Nds. OVG). Nach den vorliegenden Erkenntnismitteln handelt es sich insoweit jedoch lediglich um Absichtserklärungen, die zumindest seitens der politischen Führung der Türkei bisher nicht umgesetzt worden sind.

91

Auch die aktuellen Ereignisse außerhalb der Türkei haben das Klima in Istanbul - anders im Tur Abdin - noch nicht maßgeblich zu Lasten der Christen verschlechtert. Allerdings stellen insbesondere rechte und religiöse Zeitungen den Konflikt im ehemaligen Jugoslawien bzw. die Kämpfe zwischen Armenien und Aserbeidschan als eine allgemeine christlich-islamische Auseinandersetzung dar (vgl. Oehring, St. v. 25. 2. 1993 u. 31. 10. 1993 an VG Ansbach). Der Einfluß dieser Zeitungen wird jedoch als relativ gering erachtet. Unmittelbare zu verallgemeinernde negative Rückwirkungen der Berichterstattung über diese Konflikte in den Medien auf die Situation der Christen in der Türkei werden verneint (Oehring, St. v. 31. 10. 1993; AA, St. v. 26. 5. 1993 an VG Stuttgart). Dagegen beurteilt ai (Türkei (Christen), v. 27. 9. 1993) die Lage ungünstiger. Danach sollen die christlichen Einwohner Istanbuls wegen der außerhalb der Türkei stattfindenden Auseinandersetzungen zwischen Christen und Muslime versteckte Übergriffe zu erdulden haben, ohne daß staatliche Stellen ernsthaft bereit seien, die christliche Minderheit entsprechend zu schützen. Dieser Einschätzung vermag der Senat allerdings nicht zu folgen; denn die von ai als Beleg angeführten Fälle liegen zeitlich weit auseinander (1993, 1991, 1988), so daß sie letztlich nur als Einzelvorfälle gewertet werden können.

92

Bei einer zusammenfassenden Würdigung aller zur Verfügung stehenden Erkenntnisquellen über Istanbul kann daher eine politische Verfolgung syrisch-orthodoxer Christen dort mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden.

93

(2) Nach Auswertung insbesondere der seit 1993 erstellten Erkenntnismittel ist der Senat jedoch der Überzeugung, daß aus dem Tur Abdin stammenden syrisch-orthodoxen Christen in Istanbul sonstige Nachteile und Gefahren von asylerheblichem Ausmaß mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen, nämlich auf Dauer ein Leben unterhalb des Existenzminimums, wenn sie weder über zureichende türkische Sprachkenntnisse, noch über Ausbildung, Vermögen oder verwandtschaftliche Beziehungen in Istanbul verfügen.

94

Die wirtschaftliche Situation für Istanbul stellt sich wie folgt dar:

95

Die bis in die 70er Jahre nach Istanbul zugewanderten syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin hatten fast keinerlei Schwierigkeiten, ihre Existenz durch unselbständige/selbständige Arbeit sicherzustellen. Sie waren im Vergleich zu muslimischen Mitbürgern vielfach sogar eher bessergestellt. Zwar gab es unter ihnen eine große Anzahl unselbständiger Arbeiter, aber viele Christen waren als Juweliere, sowie im Textil-, Leder- oder Teppichgroßhandel bzw. im entsprechenden Einzelhandel tätig (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Karlsruhe). Weiterhin befanden sich unter ihnen Handwerker, Ärzte und Rechtsanwälte (Oehring, St. v. 3. 12. 1984 vor Bay.VGH; einschränkender Yonan, St. v. April 1989). Dies hatte zur Folge, daß die Christen zu einem relativ hohen Anteil (ca. 10 %) als wohlhabend galten; etwa die Hälfte wurde als bessergestellt angesehen (AA, Auskunft v. 10. 11. 1986 an VG Hamburg unter Hinweis auf die beigefügte Stellungnahme der EKD v. 1. 7. 1986). Ähnlich verhielt es sich mit der Wohnsituation. Die syrisch-orthodoxen Christen waren nicht zur Ghettobildung gezwungen; sie wohnten über das gesamte Stadtgebiet verstreut, wenn auch mit den genannten örtlichen Schwerpunkten. Die Wohnverhältnisse waren meist akzeptabel. In den Elendsvierteln, in denen ein nicht unerheblicher Teil der muslimischen Bevölkerung Istanbuls lebt, waren Christen nur in geringer Zahl anzutreffen (EKD, St. v. 1. 7. 1986 an VG Hamburg; Oehring, St. v. 3. 12. 1984 vor Bay. VGH). Arme Zugewanderte waren allerdings auf die Unterstützung der Großfamilien angewiesen. Eine derartige Unterstützung in Form von Geld, Unterhalt, Arbeitsvermittlung wurde von den Großfamilien in der Regel auch gewährt (Oehring, St. v. 14. 9. 1984 an VG Minden). Insbesondere in den frühen 80er Jahren war die Chance, auf dem Arbeitsmarkt eine Stelle zu finden, in der Regel für Christen nicht geringer als für Moslems. Es bestanden auch geschäftliche Kontakte zwischen Christen und Moslems (Klautke, St. v. 18. 5. 1982 an VG Minden; Akdemir, St. v. 26. 7. 1982 an VG Minden).

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Soweit neu nach Istanbul zuziehende syrisch-orthodoxe Christen über zureichende finanzielle Mittel verfügen, haben sie auch heute regelmäßig keine Probleme, sich dort eine Lebensgrundlage zu schaffen. Ebenso können sich Personen, die die türkische Sprache ausreichend beherrschen, über eine für die Großstadt Istanbul sinnvolle Ausbildung verfügen oder auf ein Geflecht verwandtschaftlicher Beziehungen zurückgreifen können, zumindest grundsätzlich in Istanbul eine Existenz aufbauen. Anders ist jedoch die Lage der übrigen Zuwanderer zu beurteilen. Für diese hat sich die wirtschaftliche Situation in letzter Zeit erheblich verschlechtert. Ursache hierfür ist die stark gestiegene allgemeine

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Arbeitslosigkeit in Istanbul, wobei ein Rückgang nicht abzusehen ist. Durchschnittlich sind in der Zeit von 1985 bis 1990 knapp 300.000 Einwohner jährlich nach Istanbul zugezogen (Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Dieser Zuzug hält unvermindert an. Dabei handelt es sich vorwiegend um Kurden, die aus dem Süden/Osten der Türkei stammen. Die zugewanderten Kurden kommen in der Mehrheit vom Lande und verfügen über keine Ausbildung. Sie suchen daher in den gleichen Bereichen Arbeit wie die syrisch-orthodoxen Christen, soweit diese ebenfalls aus dem ländlichen Bereich des Tur Abdin kommen. Im Betracht kommt für diese Gruppen der neu Zugewanderten nur eine Arbeit als ungelernte Hilfskraft. Syrisch-orthodoxe Christen haben angesichts der großen Konkurrenz mit anderen Bewerbern kaum eine Chance, einen dieser Arbeitsplätze bei moslemischen Arbeitgebern zu erhalten (vgl. hierzu Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster), zumal aus den bei der Einstellung vorzulegenden Nüfen die Religionszugehörigkeit ersichtlich ist. Selbst wenn ein neu zugewanderter Christ als Hilfskraft beschäftigt werden sollte, reicht der dafür gezahlte Lohn zum Überleben nicht aus. Denn Hilfskräfte bekommen nicht einmal den staatlich garantierten Mindestlohn, wie er im Regelfall in großen Industriebetrieben und von einem Teil der Dienstleistungsbetriebe gezahlt wird. Schon der staatlich garantierte Mindestlohn liegt aber unterhalb des Existenzminimums (vgl. hierzu im einzelnen Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Auch der Bereich des Straßenhandels ist für Christen fast gänzlich versperrt; denn dieser Handel ist mafiaähnlich von Straßenbanden organisiert (Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG) und liegt überwiegend in der Hand von Kurden. Die früher gegebene Möglichkeit der Arbeitsaufnahme bei christlichen Geschäftsleuten und Handwerkern besteht heute praktisch nicht mehr. Nach übereinstimmendem Urteil von Beobachtern ist die Kapazität von christlichen Arbeitgebern, ihren zugewanderten Glaubensbrüdern Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen, als erschöpft anzusehen (vgl. hierzu Sternberg-Spohr, Bestandsaufnahme ... März/Oktober 1993). Zum einen besetzen christliche Arbeitgeber etwaige freiwerdende Arbeitsplätze in erster Linie mit Mitgliedern ihrer eigenen Familie. Zum anderen hat zwischenzeitlich ein Teil der wohlhabenderen christlichen Familien Istanbul verlassen (ai, St. v. 20. 9. 1993 an VG Arnsberg), so daß die Zahl der Arbeitsplätze bei christlichen Arbeitgebern insgesamt abgenommen hat.

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Die aus dem ländlichen Bereich des Tur Abdin nach Istanbul zuziehenden Christen können auch nicht mit ausreichender finanzieller Unterstützung der dortigen syrisch-orthodoxen Kirchengemeinde rechnen (vgl. hierzu Diestelmann, St. v. 14. 9. 1993 an Nds. OVG; EKD, St. v. 17. 5. 1993 an VG Karlsruhe und St. v. Juni 1993 an VG Gießen; Oehring, St. v. 31. 10. 1993 an VG Ansbach). Allerdings hat sich der Metropolit Cetin darum bemüht, die reichen Gemeindemitglieder zu Spenden zu bewegen. Wenn diese Bemühungen auch nicht völlig erfolglos geblieben sind, so reicht das Spendenaufkommen doch bei weitem nicht aus, das Überleben der neu zugezogenen syrisch-orthodoxen Familien zu sichern. Insbesondere die reicheren Mitglieder der Gemeinde sollen sich relativ reserviert gegenüber derartigen Spendenaufrufen zeigen. Dies liegt wohl darin begründet, daß die in letzter Zeit aus dem Tur Abdin nach Istanbul zugewanderten Christen durch ihre Sitten auffällig sind, äußerlich den zugezogenen Kurden gleichen und damit das Image der syrisch-christlichen Gemeinde stören, deren schon länger in Istanbul ansässige und relativ wohlhabende Mitglieder sich zum großen Teil um die äußerliche Einordnung in die türkische Gesellschaft bemühen (vgl. zum Vorstehenden Wießner, St. v. 16. 9. 1993 an Nds. OVG). Da auch die syrisch-orthodoxen Christen in der Türkei dem Denken in Großfamilien verhaftet sind, besteht bei der christlichen Gemeinde zudem kein bzw. nur ein gering ausgeprägtes Bewußtsein dafür, den nicht zur eigenen Großfamilie gehörenden Gemeindemitgliedern zu helfen (vgl. Klautke, St. v. 16. 1. 1990 an VG Braunschweig; Oehring, St. v. 16. 1. 1990 vor VG Braunschweig u. v. 20. 8. 1993 an VG Münster; Weber/Günther/Reuther, November 1989). Die an Cetin gelangten Spenden sind daher erheblich unter der für ein Überleben der Zuwanderer notwendigen Summe zurückgeblieben. So wurden 1992/1993 ca. 22.300,-- DM gespendet, während Cetin mindestens ca. 107.000,-- DM als erforderlich ansah (vgl. hierzu im einzelnen Oehring, St. v. 20. 8. 1993 an VG Münster). Der in der Vergangenheit unternommene Versuch, vom Ausland finanzielle Hilfsprogramme zu starten, ist an dem syrisch-orthodoxen Kirchenrat gescheitert, der im Falle des Bekanntwerdens die Reaktion der türkischen Behörden fürchtete (Klautke, St. v. 16. 1. 1990). Die zwischenzeitlich von der Caritas gewährte Hilfe ist eingestellt worden (Oehring, St. v. 31. 10. 1993 an VG Ansbach). Darüber hinaus wird beklagt, daß sogar syrisch-orthodoxe Geistliche, die im westlichen Ausland leben, die Istanbuler Gemeinde finanziell im Stich ließen (Sternberg/Spohr, Bestandsaufnahme ..., März/Oktober 1993). Es ist auch nicht davon auszugehen, daß andere christliche Kirchengemeinden in Istanbul den syrisch-orthodoxen Zuwanderern helfen. Die übrigen christlichen Kirchen in Istanbul sind bereits damit überfordert, Zuwanderern, die der eigenen Kirche angehören, eine wirtschaftliche Existenzgrundlage zu verschaffen (vgl. Oehring, St. v. 31. 10. 1993 an VG Ansbach).

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Die weitgehend übereinstimmende Einschätzung der schlechten Überlebenschancen für neu nach Istanbul zugezogene Christen aus dem Tur Abdin, die die türkische Sprache nicht beherrschen, über keine Ausbildung verfügen oder keine Verwandte in Istanbul haben, wird auch vom Auswärtigen Amt in jüngster Zeit geteilt. Während es in seiner Stellungahme vom 12. März 1990 an VG Oldenburg zur wirtschaftlichen Situation in Istanbul lediglich ausgeführt hat,

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"Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ... ist wegen der derzeitigen schwierigen Wirtschaftslage nicht einfach...",

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heißt es in den Stellungnahmen vom 21. April und 25. Mai 1993 an das VG Karlsruhe schon deutlich:

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"Für syrisch-orthodoxe Christen, die nach Istanbul kommen, die türkische Sprache nicht beherrschen, alleinstehend und ohne Berufsausbildung sind, ist es schwer, sich wirtschaftlich ... zu integrieren. ... Es bleibt im wesentlichen die Möglichkeit, einfache Arbeiten in Fabriken gegen geringe Entlohnung zu verrichten oder im Straßenhandel tätig zu sein. ... Die syrisch-orthodoxe Kirche gewährt Zuwanderern ohne Beruf und ohne Verwandten ... zwar eine Überbrückungshilfe, rechnet jedoch damit, daß die Betreffenden ... weiterziehen oder in ihre angestammte Heimat zurückkehren. ... Von den anderen christlichen Kirchen ist ... keine Hilfe zu erwarten, jedenfalls nicht über einen längeren Zeitraum ..."

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Die Stellungnahme vom 10. September 1993 an das VG Münster (514-516/14725) schließlich lautet:

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"...syrisch-orthodoxen Familien, die nach Istanbul auswandern, (kann) von der Kirche nicht geholfen werden. Durch familiäre Unterstützung ist in den meisten Fällen der notwendige Lebensunterhalt... sichergestellt. ... Für syrisch-orthodoxe Christen, die kein Türkisch können ..., keine Verwandten ..., keine berufliche Ausbildung haben ..., sind außer Hilfsarbeiten keine Arbeitsmöglichkeiten vorhanden ...; ob für die überwiegend ländliche Bevölkerung aus dem Tur Abdin mit ihrem niedrigen Ausbildungsstand und zum Teil auch Sprachproblemen in anderen Teilen der Türkei Aussicht auf die Gründung einer menschenwürdigen Existenz besteht, erscheint unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zunehmend zweifelhaft."

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In die gleiche Richtung geht die Aussage im Lagebericht vom 16. November 1993:

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"Mangels staatlicher oder kirchlicher Hilfe sind sie im wesentlichen auf die Unterstützung ihrer Großfamilie oder anderer Zuwanderer aus den angestammten Siedlungsgebieten angewiesen. Für viele der weitgehend ungebildeten Zuwanderer und ihrer Familien ist damit nur ein Leben am Rande des Existenzminimums gewährleistet..."

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Die Klägerin fällt auch unter den Personenkreis, der von den verschlechterten wirtschaftlichen Bedingungen betroffen ist; denn sie ist der türkischen Sprache nicht mächtig, stammt aus der Landwirtschaft und verfügt über keine sonstige Berufsausbildung. Zudem ist sie bereits 70 Jahre alt. Es ist deshalb höchst unwahrscheinlich, daß sie in Istanbul Arbeit finden könnte, durch die das wirtschaftliche Existenzminimum gesichert wäre. Von der Familie ihres Sohnes Iso kann sie nicht finanziell unterstützt werden, da sich diese selbst in Istanbul keine wirtschaftliche Existenz aufbauen kann (vgl. dazu die Urteile des Senats vom heutigen Tage in den Verfahren 11 L 1174 und 11 L 1175/93). Die Klägerin kann auch nicht auf ein anderes Geflecht sie unterstützender Verwandter zurückgreifen. Der Sohn Iso der Klägerin hat bei seiner Anhörung in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, daß sie in der Türkei keine Verwandten mehr haben, sondern alle im westlichen Ausland leben. Die Klägerin kann für den Fall ihrer Rückkehr nach Istanbul auch nicht auf die finanzielle Unterstützung durch ihre im westlichen Ausland lebenden Verwandten verwiesen werden. Ob derartige freiwillige Leistungen überhaupt berücksichtigungsfähig wären, erscheint nicht zweifelsfrei, da sie keine dauerhafte Lösung darstellen dürften. Dies kann aber dahinstehen, weil nichts dafür ersichtlich ist, daß regelmäßige finanzielle Zuwendungen von seiten der Verwandten erfolgen würden.

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III. Da die Klägerin gemäß Art. 16 a Abs. 1 GG als Asylberechtigte anzuerkennen ist, hat das Verwaltungsgericht die Beklagte auch zu Recht verpflichtet festzustellen, daß in der Person der Klägerin die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG vorliegen.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergeht gemäß § 167 VwGO iVm § 708 Nr. 10 ZPO.

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Gründe für eine Zulassung der Revision gemäß § 132 Abs. 2 VwGO liegen nicht vor.

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Heidelmann

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Vogel

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Bartsch