Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 29.07.2015, Az.: 1 Ws 306/15

Widerruf einer Strafaussetzung bei Ahndung der zugrunde liegenden Straftat mit einem Strafbefehl; Beiziehen der Akten des neuen Erkenntnisverfahrens durch das Widerrufsgericht

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
29.07.2015
Aktenzeichen
1 Ws 306/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 28047
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2015:0729.1WS306.15.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 07.05.2015 - AZ: 75 BRs 28/14

Fundstelle

  • StRR 2015, 403

Amtlicher Leitsatz

Der Widerruf einer Strafaussetzung kann grundsätzlich auch dann erfolgen, wenn die zugrunde liegende Straftat mit einem Strafbefehl geahndet wurde und nicht ausnahmsweise besondere Umstände dessen Richtigkeit in Frage stellen. In solchen Fällen kann ein Beiziehen der Akten des neuen Erkenntnisverfahrens durch das Widerrufsgericht nötig sein.

In der Strafvollstreckungssache
gegen S. A. S.,
geboren am xxxxxx 1990 in T.,
wohnhaft T.straße in O.,
Verteidiger: Rechtsanwalt F. aus A.,
wegen Diebstahls
hat der 1. Strafsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss der 2. Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Hannover vom 7. Mai 2015 nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht xxxxxx, den Richter am Oberlandesgericht xxxxxx und die Richterin am Amtsgericht xxxxxx am 29. Juli 2015
beschlossen:

Tenor:

Die sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

Der Verurteilte wendet sich mit seinem Rechtsmittel gegen einen Beschluss der Strafvollstreckungskammer, mit welchem die ihm mit Beschluss des Landgerichts Hannover vom 19. November 2015 bewilligte Aussetzung der Vollstreckung der Reststrafe aus dem Urteil des Landgerichts Münster vom 21. August 2013 (Az.: 8 KLs 71 Js 16/13) widerrufen wurde. Dieser Widerruf stützt sich auf einen Strafbefehl des Amtsgerichts Osnabrück vom 11. Februar 2015 (Az.: 207 Cs 217 Js 4725/15), demzufolge der Verurteilte in der Bewährungszeit ab dem Tag seiner Entlassung aus dem Strafvollzug am 3. Dezember 2014 mehrere Straftaten zum Nachteil seiner Lebensgefährtin begangen hatte. Gestützt wurde dies im Wesentlichen auf die Angaben der Geschädigten, die diese im Rahmen ihrer Vernehmungen im Dezember 2014 gemacht hatte. Der - vom Verurteilten - nicht angefochtene Strafbefehl ist rechtskräftig. Zur Begründung seiner Beschwerde trägt der Verurteilte vor, zwischenzeitlich habe die Staatsanwaltschaft Osnabrück Anklage gegen die Lebensgefährtin erhoben u.a. wegen des Verdachts falscher Verdächtigung zu seinen Lasten. Dem liegt zugrunde, dass die geschädigte Lebensgefährtin mit einem an die Staatsanwaltschaft Osnabrück gerichteten Schreiben vom 1. April 2015 erklärt hatte, sie nehme ihre Anzeige gegen den Verurteilten zurück; sie habe in ihrer Vernehmung im Dezember falsche Aussagen gemacht.

II.

Die sofortige Beschwerde ist zulässig erhoben, hat in der Sache aber keinen Erfolg.

Die Strafvollstreckungskammer hat aus zutreffenden tatsächlichen wie rechtlichen Erwägungen die dem Verurteilten bewilligte Strafaussetzung nach § 56f Abs. 1 Nr. 1 StGB widerrufen. Insoweit kann auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung zunächst Bezug genommen werden. Hiernach hat sich die Erwartung, die der Strafaussetzung zugrunde lag, ersichtlich nicht erfüllt.

Dem angefochtenen Widerruf steht insbesondere nicht entgegen, dass dieser auf Straftaten gestützt wurde, die ohne Durchführen einer Hauptverhandlung in einem Strafbefehl festgestellt wurden. Denn nach der ausdrücklichen gesetzlichen Anordnung des § 410 Abs. 3 StPO steht ein rechtskräftiger Strafbefehl einem rechtskräftigen Urteil, welches nach einhelliger Ansicht als ausreichend für Überzeugungsbildung im Widerrufsverfahren angesehen wird, grundsätzlich gleich (OLG Hamm, NStZ-RR 2008, 25 [OLG Hamm 06.09.2007 - 3 Ws 527/07]). Hinzu kommt, dass ein Nichtbeachten dieser gesetzlichen Wertung zu Schutzbehauptungen im Widerrufsverfahren einladen könnte (Fischer, Strafprozessordnung, 62. Aufl., § 56f Rn 5), die geeignet wären, die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen im Nachhinein zu unterlaufen und die Widerrufsgerichte in ein Nachholen der gerichtlichen Beweisaufnahme drängen würden. Dies ist ersichtlich nicht gewollt.

Hiernach kann im Widerrufsverfahren die auf einem rechtskräftigen Strafbefehl beruhende Annahme neuer und in der Bewährungszeit begangener Straftaten nur ausnahmsweise und bei Vorliegen besonderer Umstände in Zweifel gezogen werden. Die Grundsätze, nach denen diese Prüfung erfolgen soll, werden in der Rechtsprechung nicht einheitlich beurteilt. Während teilweise angenommen wird, ein Widerruf sei nur aus Gründen höherrangigen Rechts ausgeschlossen, etwa bei Verletzen des rechtlichen Gehörs (so OLG Hamm a.a.O.), geht die überwiegende Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung zumindest insoweit übereinstimmend davon aus, dass ein Widerruf jedenfalls dann nicht in Betracht kommt, wenn das Widerrufsgericht - unter Umständen nach Einsichtnahme der maßgeblichen Akten des Erkenntnisverfahrens - aufgrund besonderer Umstände durchdringende Zweifel an der Richtigkeit des dem Widerruf zugrunde liegenden Strafbefehls hegt (vgl. etwa HansOLG Hamburg OLGSt StGB § 556f Nr. 57), weil etwa die Gründe des Erkenntnisses den Schuldspruch nicht tragen (OLG Düsseldorf StV 1996, 45) oder wenn dem Widerrufsgericht aufgrund anderer Umstände die Unschuld des Verurteilten bekannt ist oder weil es die Rechtsauffassung des Tatrichters nicht teilt (KG Berlin NStZ-RR 2001, 136). Nach engerer Auffassung wird ergänzend vorausgesetzt, dass der Beschuldigte im Erkenntnisverfahren sich gegen den Strafbefehl zur Wehr setzen wollte, und dass die Rechtskraft ohne eine den Strafbefehl anerkennende Willensentschließung des Beschuldigten allein aufgrund seines prozessualen Versäumnisses eingetreten ist (KG Berlin StRR 2007, 202).

Unter Berücksichtigung dieser Beurteilungsmaßstäbe sieht sich auch der Senat als Beschwerdegericht, das die Akten des Erkenntnisverfahrens informatorisch beigezogen hat, an einem Widerruf der bewilligten Strafaussetzung nicht gehindert. Hierbei war zunächst festzustellen, dass der Beschuldigte sich zwar - nach Beantragen des Widerrufs - durch seinen Bewährungshelfer unter dem 17. April 2015 dahingehend erklärt hatte, seine Freundin habe ihn zu Unrecht beschuldigt. Dem Strafbefehl selbst ist er aber zu keinem Zeitpunkt entgegen getreten, und hat dies auch im Rahmen des Widerrufs- und Beschwerdeverfahrens nicht dargetan. Hinzukommt, dass die Geschädigte im Erkenntnisverfahren wiederholt belastende Angaben gemacht hatte, die sich nach summarischer Prüfung nicht als widersprüchlich oder sonst unglaubhaft erweisen - zumal sie teilweise zumindest im Randgeschehen durch die Angaben unbeteiligter Zeugen gestützt werden. Allein die nachfolgende und recht pauschal gehaltene Erklärung der Geschädigten, sie habe im Dezember falsche Aussagen gemacht, ist hiernach nicht geeignet, ihre früheren Angaben in Frage zu stellen. Dies gilt umso mehr, als ein späteres Abrücken von belastenden Angaben gerade in konfliktträchtigen Beziehungen keinesfalls selten und auch seinerseits stets kritisch zu hinterfragen ist. Ein Wiederaufnahmeverfahren wird derzeit nicht betrieben. Ein Zurückstellen der Entscheidung über den Widerruf kam hiernach ebenfalls nicht in Betracht.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.

IV.

Gegen diese Entscheidung ist keine Beschwerde gegeben (§ 304 Abs. 4 StPO).