Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 22.07.2015, Az.: 1 Ss (OWi) 118/15

Kein Anspruch des anwesenden und verteidigten Angeklagten auf Übersetzung der schriftlichen Urteilsgründe; Unwirksamkeit des Verzichts auf einen Dolmetscher

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
22.07.2015
Aktenzeichen
1 Ss (OWi) 118/15
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 37432
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2015:0722.1SS.OWI118.15.0A

Amtlicher Leitsatz

1. Sind sowohl der nicht ausreichend sprachkundige Betroffene als auch der Verteidiger bei Verkündung des Urteils anwesend, so ist nach § 187 Abs. 2 Sätze 4 und 5 GVG die schriftliche Übersetzung des nicht rechtskräftigen Urteils entbehrlich, und die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist beginnt mit Zustellung des schriftlichen Urteils an den Verteidiger zu laufen.

2. Beruht die Entscheidung des Tatrichters, bei einem der deutschen Sprache nur teilweise mächtigen Betroffenen keinen Dolmetscher zur Hauptverhandlung hinzuzuziehen, allein auf dem Verzicht des Betroffenen und einer Erklärung des Verteidigers, sich für den Betroffenen einzulassen und selbst als Dolmetscher über die notwendigen Sprachkenntnisse zu verfügen, so ist sie ermessensfehlerhaft und begründet einen Verstoß nach §§ 338 Nr. 5 StPO, 185 GVG.

Tenor:

Das angefochtene Urteil wird mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an dieselbe Abteilung des Amtsgerichts Bückeburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht hat gegen die Betroffene den Verfall eines Geldbetrages in Höhe von 1.700 € angeordnet (§ 29 a Abs. 2, Abs. 4 OWiG).

Mit ihrer hiergegen gerichteten Rechtsbeschwerde macht die Betroffene den absoluten Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO i. V. m. § 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG geltend. Sie beanstandet als Verstoß gegen § 185 Abs. 1 Satz 1 GVG i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG, dass die Hauptverhandlung nicht in Anwesenheit eines Dolmetschers geführt worden sei, obwohl der anwesende Geschäftsführer der Betroffenen die deutsche Sprache nicht beherrsche.

Weder die Sitzungsniederschrift noch das schriftliche Urteil verhalten sich zu dazu, ob der Vertreter der Betroffenen der deutschen Sprache nicht mächtig war. Die Generalstaatsanwaltschaft, die die Verfahrensrüge für unzulässig hält, hat dazu dienstliche Erklärungen des Vorsitzenden und des Sitzungsvertreters der Staatsanwaltschaft eingeholt. Der Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft hat erklärt, insoweit keine konkrete Erinnerung mehr zu haben. Der Vorsitzende hat unter dem 28. April 2015 erklärt, dass der Geschäftsführer der Betroffenen nur gebrochen Deutsch gesprochen habe und eine Verständigung nur mit Einschränkungen möglich gewesen sei. Auf Frage des Vorsitzenden, ob nun nicht doch besser ein Dolmetscher hinzugezogen werden solle, habe der Verteidiger erklärt, dass dies nicht notwendig sei, weil er sich als Verteidiger für den Geschäftsführer einlassen werde und im Übrigen selbst als Dolmetscher und Übersetzer für Polnisch über entsprechende Sprachkenntnisse verfüge. Der Verteidiger und der Betroffene hätten in der Hauptverhandlung auf die Beiziehung eines Dolmetschers ausdrücklich verzichtet.

II.

Der Senat ist zu einer Entscheidung berufen.

Soweit die Rechtsbeschwerde meint, die Rechtsbeschwerdebegründungsfrist habe noch nicht zu laufen begonnen, weil der Betroffenen entgegen § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG noch nicht das schriftliche Urteil in polnischer Übersetzung zugestellt worden sei (vgl. OLG München StV 2014, 532), ist ihr nicht zu folgen. Denn anders als in dem vom Oberlandesgericht München zu beurteilenden Fall, waren hier sowohl der Geschäftsführer der Betroffenen als auch ihr Verteidiger bei Verkündung des Urteils anwesend, und das schriftliche Urteil ist dem Verteidiger zugestellt worden. In einem solchen Fall greift die Regelung des § 187 Abs. 2 Sätze 4 und 5 GVG, die eine schriftliche Übersetzung des nicht rechtskräftigen Urteils entbehrlich macht (vgl. BGH StraFo 2014, 420). Nach dem Willen des Gesetzgebers soll damit - der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entsprechend - "die Verpflichtung zur schriftlichen Urteilsübersetzung in der Regel dann nicht greifen, wenn eine effektive Verteidigung des nicht ausreichend sprachkundigen Angeklagten dadurch ausreichend gewährleistet wird, 'dass der von Gesetzes wegen für die Revisionsbegründung verantwortliche Rechtsanwalt das schriftliche Urteil kennt' (Beschluss vom 17. Mai 1983, 2 BvR 731/80 = BVerfGE 64, 135 [BVerfG 17.05.1983 - 2 BvR 731/80], Absatz-Nummer 56). Es soll in diesem Zusammenhang nicht darauf ankommen, ob ein Fall der notwendigen Verteidigung im Sinne des § 140 StPO vorliegt oder ob der Angeklagte auch ohne Vorliegen der Voraussetzungen des § 140 StPO einen Wahlverteidiger beauftragt hat. Entscheidend soll allein das bestehende Mandatsverhältnis zu einem Verteidiger in dem betreffenden Strafverfahren sein" (vgl. BT-Drucks 17/12578, S. 12). "Die Beratung mit dem Verteidiger ermöglicht damit auch dem der deutschen Sprache nicht ausreichend mächtigen Beschuldigten die Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte und gewährleistet ein faires Verfahren. Der Anspruch des Beschuldigten auf umfassende Verdolmetschung umfasst auch die Gespräche mit seinem Verteidiger etwa zur Vorbereitung der Begründung eines Rechtsmittels - also in einem Zeitpunkt, in dem die schriftliche Urteilsbegründung im Sinne des § 275 StPO bereits vorliegt. Der Dolmetscher steht mithin zur Verfügung, um dem Beschuldigten im Rahmen dieses Gespräches das Urteil mündlich ganz oder teilweise zu übersetzen" (BT-Drucks. aaO.).

III.

Die Rechtsbeschwerde ist mit der erhobenen Verfahrensrüge zulässig und begründet.

Der von der Generalstaatsanwaltschaft vermisste Vortrag war jedenfalls mit Blick auf den Inhalt der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden entbehrlich.

Ist der Betroffene der deutschen Sprache nicht mächtig, muss nach § 185 Abs. 1 GVG i. V. m. § 46 Abs. 1 OWiG ein Dolmetscher grundsätzlich während der ganzen Hauptverhandlung zugegen sein. Ist dies nicht der Fall, greift der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 5 StPO (BGHSt 3, 285; BGH NStZ 2002, 275; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 58. Aufl., § 338 Rn. 44). Ist der Betroffene der deutschen Sprache nur teilweise mächtig, so bleibt es dem pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters überlassen, in welchem Umfang er unter Mitwirkung des Dolmetschers mit den Prozessbeteiligten verhandeln will (BGHSt 3, 285; BGHR StPO, § 338 Nr. 5 Dolmetscher 2, 3; BGH, NStZ 2002, 275). Dieses Ermessen kann vom Revisionsgericht nur dahin überprüft werden, ob seine Grenzen eingehalten sind. Nur bei Vorliegen eines Ermessensfehlers können die Verfahrensvorschriften der §§ 185 GVG, 338 Nr. 5 StPO verletzt sein (BGH NStZ 1984, 328 [BGH 19.01.1984 - 4 StR 742/83]; OLG Stuttgart NJW 2006, 3796).

Im vorliegenden Fall erweist sich die Entscheidung des Vorsitzenden, keinen Dolmetscher zur Hauptverhandlung hinzuzuziehen, als ermessensfehlerhaft. Der dienstlichen Erklärung des Vorsitzenden ist nicht zu entnehmen, dass er davon überzeugt war, dass die deutschen Sprachkenntnisse des Geschäftsführers der Betroffenen ausreichten, um der gesamten Hauptverhandlung ohne Dolmetscher folgen und seine Rechte wahrnehmen zu können. Sie stützt sich allein auf den ausdrücklichen Verzicht auf einen Dolmetscher und auf die Erklärung des Verteidigers, sich für den Geschäftsführer der Betroffenen einzulassen und selbst als Dolmetscher für die polnische Sprache über die notwendigen Sprachkenntnisse zu verfügen. Dem steht jedoch entgegen, dass der am Verfahren beteiligte Verteidiger in der Hauptverhandlung nicht zugleich als Dolmetscher fungieren kann (vgl. Diemer in KK-StPO 7. Aufl. § 190 GVG Rn. 1; Meyer-Goßner/Schmitt aaO. § 190 GVG Rn. 1) und dass auf die notwendige Hinzuziehung eines Dolmetschers nicht wirksam verzichtet werden kann (Wickern in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 185 GVG, Rn. 7; Diemer, aaO. § 185 GVG Rn. 6; Meyer-Goßner/Schmitt aaO. § 185 GVG Rn. 4). Der deutschen Sprache nicht mächtig ist auch ein Verfahrensbeteiligter, der zwar gewisse deutsche Sprachkenntnisse besitzt, die aber nicht ausreichen, sodass er dem Verfahren nicht genügend folgen und er deshalb seine Rechte schon aus sprachlichen Gründen nicht genügend wahrnehmen kann (BVerfGE 64, 135 [BVerfG 17.05.1983 - 2 BvR 731/80]). Das Gericht ist nicht an die Erklärungen des Beteiligten über seine Sprachkenntnisse gebunden. Im Zweifel ist ein Dolmetscher beizuziehen (Wickern, aaO. Rn. 2).