Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 20.04.1999, Az.: 5 U 188/98

Behandlungsfehler bei Vorsorgeuntersuchung eines Kleinkindes; Unterlassen diagnostischer Maßnahmen bei großem Kopfumfang (Wasserkopf); Beweiserleichterung oder Beweislastumkehr für Patienten; Verjährung bei Geltendmachen immaterieller Zukunftsschäden

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
20.04.1999
Aktenzeichen
5 U 188/98
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1999, 29351
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1999:0420.5U188.98.0A

Verfahrensgang

vorgehend
NULL

Fundstellen

  • MedR 1999, 418
  • NJW-RR 2000, 403-405 (Volltext mit amtl. LS)
  • VersR 1999, 1423-1424 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

Ein Arzt für Allgemeinmedizin handelt auch Fehlerhaft, wenn er bei der Vorsorgeuntersuchung eines Kleinkindes einen großen Kopfumfang feststellt und keine weiteren diagnostischen Maßnahmen einleitet.

Tatbestand

1

Der am 28.10.1989 geborene Kläger macht gegen den Beklagten, einen Arzt für Allgemeinmedizin, Schadensersatz- und Feststellungsansprüche wegen fehlerhafter ärztlicher Behandlung geltend.

2

Der Beklagte betreute den Kläger in der Zeit vom 29.11.1989 bis zum 04.02.1992 kinderärztlich und führte dabei auch die Vorsorgeuntersuchungen U 1 - U 4, U 6 und U 7 durch. Bei der Untersuchung U 6 am 10.10.1990 stellte der Beklagte bei dem Kläger einen Kopfumfang fest, der oberhalb der sog. 97er Perzentile lag (vgl. Bd. II, Bl. 311). Auch die anlässlich der U 7 am 18.09.1991 durchgeführte Messung des Kopfumfangs ergab einen Wert, der deutlich oberhalb der 97er Perzentile lag. Der Beklagte leitete weder am 10.10.1990 noch am 18.09.1991 weitere diagnostische Maßnahmen ein.

3

Der Kläger, der in dieser Zeit wegen verschiedener Erkrankungen von zahlreichen Ärzten u.a. auch stationär behandelt wurde, wurde im Mai 1992 in die Kinderklinik der Städtischen Kliniken in Oldenburg u.a. wegen eines gestauten Nierenbeckens und eines gestauten Ureters eingewiesen. Dort wurde der viel zu große Kopf erkannt und festgestellt, dass der Kläger an einem Hydrocephalus (Wasserkopf) litt. Dieser wurde zunächst mit einem ventrikuloperitonealem Shunt und später mit einem zystoperitonealem Shunt aus der linken temporalen Subarachnoidalzyste versorgt.

4

Der Kläger leidet an einem chronischen Hydrocephalus und an einer temporalen Subarachnoidalzyste, die zu einem irreversiblen Hirnschaden geführt haben. Es kam infolgedessen zu einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung; der Kläger konnte erst mit neun Monaten sitzen und im Alter von 22 Monaten laufen. Er leidet unter Gleichgewichtsstörungen und Einschränkungen der Grob- und Feinmotorik. Insgesamt liegt gegenwärtig eine mild ausgeprägte Körperbehinderung vor, die in den letzten Jahren konstant geblieben ist. Hinzu kommen kognitive Einschränkungen, die sich im Rahmen einer Lernbehinderung bewegen. Schließlich bestehen Aufmerksamkeitsstörungen und Störungen der Impulskontrolle, die Verhaltensauffälligkeiten im sozial-emotionalen Bereich bewirkt haben. Seit April 1994 leidet der Kläger darüber hinaus an einer Epilepsie, die medikamentös nicht vollständig zu beherrschen ist. Es ist wenig wahrscheinlich, dass der Kläger den Hauptschulabschluss erreichen wird.

5

Der Kläger hat behauptet, der Beklagte habe es während seiner kinderärztlichen Betreuung, insbesondere anlässlich der Vorsorgeuntersuchungen U 6 und U 7 versäumt, einer sich aufdrängenden Verdachtsdiagnose durch zwingend notwendige weitere Diagnostik nachzugehen. Der Beklagte habe dem Kopfwachstum, das erkanntermaßen weit über der Norm lag, und sich progredient vergrößerte, unverständlicherweise keine Bedeutung geschenkt. Zudem hätte auch die starke Verzögerung der motorischen Entwicklung Anlass für weitere Untersuchungen geben müssen. Infolgedessen sei der sich entwickelnde Wasserkopf mit Drucksteigerung und Beschädigung des Hirnmantels zu spät erkannt worden, sodass er nicht mehr rechtzeitig habe therapiert werden können. Eine frühere Druckentlastungsoperation in Form einer Ventilversorgung des Hydrocephalus hätte ihm mit großer Wahrscheinlichkeit die schwere Hirnschädigung mit nachfolgender Pflegebedürftigkeit erspart.

6

Angesichts seiner Entwicklungsverzögerung, der schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen und der erhöhten Therapie- und Pflegebedürftigkeit sei ein Schmerzensgeld in einer Größenordnung von mindestens 200.000,00 DM erforderlich. Darüber hinaus hat der Kläger die Feststellung der Ersatzpflicht des Beklagten hinsichtlich seiner materiellen Schäden begehrt.

7

Nach diesem Antrag ist am 11.11.1994 ein Versäumnisurteil mit der Maßgabe gegen den Beklagten ergangen, dass auf ein Schmerzensgeld in Höhe von 160.000,00 DM erkannt wurde.

8

Der Beklagte hat Behandlungsfehler in Abrede genommen. Der bei der Vorsorgeuntersuchung U 6 ermittelte Kopfumfang habe im Normbereich gelegen. Auch den bei der U 7 festgestellten Kopfumfang habe er noch als im Normbereich liegend angesehen, da der Kläger keine Entwicklungsstörungen bzw. Auffälligkeiten aufgewiesen habe und ihm solche auch von der Mutter nicht geschildert worden seien. Im Übrigen sei der Kopfumfang des Klägers auch anderen behandelnden Ärzten, etwa des Kreiskrankenhauses Norden, nicht aufgefallen. Es fehle zudem an der Kausalität zwischen den ihm vorgeworfenen Behandlungsfehlern und den Gesundheitsbeeinträchtigungen des Klägers, weil das Schädigungsbild auf einer Anlagestörung beruhe; darauf weise insbesondere die temporale Subarachnoidalzyste hin. Auch bei rechtzeitiger Behandlung wäre die Entwicklung des Klägers zu einem vollständig gesunden Kind mehr als fraglich gewesen, zumal selbst im September 1991 (U 7) die Einbringung eines Ventils zum Wasserablauf möglicherweise zu spät erfolgt wäre. Die Krampfanfälle seien möglicherweise auch als Reaktion auf das später eingebrachte Ventil entstanden. Die Schmerzensgeldvorstellungen des Klägers seien übersetzt.

9

Die 4. Zivilkammer des Landgerichts Aurich hat nach Erhebung von Sachverständigenbeweis durch Grund- und Teilurteil vom 23.10.1998 der Klage hinsichtlich der Schmerzensgeldforderung in Höhe von 160.000,00 DM nebst Zinsen stattgegeben. Den Feststellungsantrag hat es hinsichtlich der materiellen und immateriellen Zukunftsschäden für begründet erachtet, die auf der fehlerhaften Behandlung in der Zeit vom 29.11.1989 bis 18.09.1991 beruhen. Hinsichtlich der materiellen Schäden hat die Kammer ein Grundurteil erlassen. Zur Begründung hat das Landgericht u.a. ausgeführt, dem Beklagten seien grobe Behandlungsfehler unterlaufen, weil er es unterlassen habe, auf Grund der bei der U 6 und U 7 ermittelten Kopfumfangswerte weitere diagnostische Schritte einzuleiten. Das Unterlassen weiterer Diagnostik sei ursächlich für die Gesundheitsschäden des Klägers; der Beklagte habe den ihm obliegenden Beweis der fehlenden Kausalität nicht führen können.

10

Gegen dieses ihm am 27.10.1998 zugestellte Urteil wendet sich der Beklagte mit seiner Berufung, mit der er geltend macht: Soweit das Landgericht auf Feststellung seiner Ersatzpflicht für zukünftige immaterielle Schäden des Klägers erkannt habe, sei Verjährung eingetreten, weil der entsprechende Feststellungsantrag erstmals im Termin vom 25.09.1998 und damit nach Ablauf der Frist des § 852 Abs. 1 BGB gestellt worden sei.

11

Ebenso wenig könne das angefochtene Urteil bezüglich des materiellen Zukunftsschadens Bestand haben, weil - auch vom Sachvortrag des Klägers ausgehend - keinerlei Anhaltspunkte für ein ihm vorwerfbares ärztliches Fehlverhalten vor dem Zeitpunkt der U 6 (10.10.1990) vorlägen. Auch in der Folgezeit sei ihm im Übrigen kein fundamentaler Diagnosefehler unterlaufen.

12

Der vom Kläger auf die Zeit vom 01.11.1990 bis zum 31.12.1996 bezogene Klageantrag zu 3) hätte ebenfalls nicht dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt werden dürfen, weil er - der Beklagte nicht für Schäden hafte, die seit dem 01.11.1990 entstanden seien.

13

Unabhängig davon sei die Klage insgesamt abzuweisen. Das Landgericht habe zunächst verkannt, dass der gerichtliche Sachverständige die unterlassene weitere Diagnostik im Anschluss an die U 6 nicht als groben Behandlungsfehler gewertet habe. Seine Unterlassung stelle zudem auch deshalb keinen Arztfehler dar, weil die U 5 nicht durchgeführt worden sei, die Eltern des Klägers ihn nicht auf Entwicklungsstörungen hingewiesen hätten und andere Ärzte, auch Kinderfachärzte, keinen Anlass gesehen hätten, wegen des Kopfumfangs des Klägers weiter diagnostische Maßnahmen einzuleiten. Auch sei ihm im Anschluss an die U 7 kein Behandlungsfehler, zumindest aber kein fundamentaler Diagnoseirrtum unterlaufen. Insgesamt sei daher kein Raum für eine Beweislastumkehr zu Gunsten des Klägers im Bereich der Kausalität. Den Nachweis, dass die unterlassene weitere Diagnostik im Anschluss an die U 6 und U 7 die Schäden des Klägers hervorgerufen habe, könne der Kläger nicht führen.

Entscheidungsgründe

14

Die zulässige Berufung ist - abgesehen von Änderungen des Feststellungsausspruchs - sachlich nicht gerechtfertigt.

15

Der Beklagte schuldet dem Kläger gemäß §§ 823 Abs. 1, 847 BGB ein in Höhe von 160.000,00 DM angemessenes Schmerzensgeld sowie Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich der materiellen Zukunftsschäden, die auf der Behandlung in der Zeit vom 10.10.1990 bis zum 18.09.1991 beruhen.

16

Zudem ist der Erlass eines Grundurteils hinsichtlich der materiellen Schäden gerechtfertigt. Hinsichtlich der Klageanträge zu 2) und 3) folgt die Schadensersatzpflicht des Beklagten auch aus der Verletzung des Behandlungsvertrages.

17

Wie das Landgericht zu Recht erkannt hat, sind dem Beklagten bei der Durchführung der Vorsorgeuntersuchungen U 6 (10.10.1990) und U 7 (18.09.1991) grobe Behandlungsfehler unterlaufen, weil er jeweils einen auffallend großen und von der 97er Perzentile nach oben hin abweichenden Kopfumfang des Klägers festgestellt und es vorwerfbar unterlassen hat, die gebotenen weiteren diagnostischen Schritte einzuleiten.

18

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme und unter Berücksichtigung der ergänzenden Äußerung des gerichtlichen Gutachters Prof. Dr. von der Hardt vom 10.02.1999 ist bereits die Unterlassung weiterer Diagnostik im Anschluss an die U 6 als schwerer ärztlicher Fehler zu qualifizieren. Prof. Dr. von der Hardt, dem eine Ablichtung aus dem Vorsorgeheft (II, 311) zur Verfügung stand und der auch das Gutachten des Prof. Dr. Schulte vom 13.09.1993 (I, 7 ff) auswertete, stellt in seinem Gutachten fest, dass bei der im Alter von 11,5 Monaten durchgeführten U 6 der Kopfumfang mit 50,5 cm gemessen wurde; er lag damit knapp 1 cm oberhalb der 97er Perzentile (vgl. II, 311, 316/317). Ebenso wie Prof. Dr. Schulte geht auch der gerichtliche Gutachter dabei zu Gunsten des Beklagten von einem Kopfumfang von 50,5 cm und nicht von dem in der Kopfumfangskurve offenbar unzutreffend eingetragenen Wert von 51,5 cm aus. Ausgehend von diesen Befunden sind die Gutachter Prof. Dr. Schulte und Prof. Dr. von der Hardt übereinstimmend der Auffassung, dass bereits im Anschluss an die U 6 engmaschige Nachkontrollen des Kopfumfangs geboten gewesen wären, um festzustellen, ob der Kläger lediglich einen relativ großen natürlichen, aber gesunden Kopfumfang hatte, oder ob eine pathologische Makrocephalie vorlag. Die Unterlassung dieser Maßnahmen war nach Einschätzung von Prof. Dr. Schulte "sicherlich ein Diagnosefehler und nach Ansicht dieses Gutachters auch ein schwerer Fehler im Sinne der zivilrechtlichen Definition." Der Gerichtsgutachter, der dieser Auffassung bereits in seinem Gutachten vom 03.07.1996 (II, 324) zugestimmt hat, hat seine Ansicht in seiner auf die Berufungsbegründung des Beklagten eingeholten Stellungnahme vom 10.02.1999 (III, 127) bekräftigt.

19

Es besteht auch unter Berücksichtigung des Gutachtens Dr. Voss vom 20.02.1998 (III, 25) kein Anlass, diese überzeugende Bewertung der erfahrenen und sachkundigen Gutachter in Zweifel zu ziehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Dr. Voss ein neuropädiatrisches Gutachten zur bisherigen und künftigen Entwicklung des Klägers und zur Kausalitätsfrage erstattet hat (III, 26), ebenso wie die Vorgutachter auch bei der U 6 engmaschigere Kontrollen für indiziert hält und sich zur Frage des groben Behandlungsfehlers auftragsgemäß nicht zu äußern brauchte. Ebenso wenig sind die von dem Beklagten hervorgehobenen Umstände geeignet, die Unterlassung weiterer Diagnostik zu rechtfertigen. Selbst wenn, wie der Beklagte behauptet, die Eltern des Klägers die U 5 nicht haben durchführen lassen und wie unstreitig ist die Mutter des Klägers den Beklagten nicht auf die schlechte motorische Entwicklung des Kindes hingewiesen hat, war der Beklagte nicht von der Einhaltung der ihn als behandelnden Arzt treffenden Sorgfaltspflichten befreit. Dies gilt ebenfalls für den Hinweis, dass auch andere Ärzte unter Einschluss von Kinderfachärzten keinen Anlass zu weiteren Maßnahmen gesehen haben. Zum einen war der Beklagte als behandelnder Arzt mit der Entwicklung des Klägers besonders gut vertraut; außerdem ist nicht erkennbar, dass die Gutachter einen überzogenen Sorgfaltsmaßstab angelegt haben, der sich etwa am Standard von Universitätskliniken oder Spezialkrankenhäusern orientiert. Dem Beklagten wird lediglich vorgeworfen, aus einem relativ einfach durchzuführenden Messvorgang unzureichende Konsequenzen gezogen zu haben. Diese notwendigen Maßnahmen, die zum medizinischen Standard gehören, hätte auch ein niedergelassener Arzt für Allgemeinmedizin ohne weiteres in die Wege leiten können und müssen.

20

Bei der Vorsorgeuntersuchung U 7, die am 18.09.1991 vorgenommen wurde, lag der Kopfumfang des Klägers bei 53,5 cm bzw. nach der Korrektur von Prof. Dr. Schulte bei 54 cm (I, 8; II, 311, 317) und somit weit außerhalb der 97er Perzentile. Er hatte sich noch deutlicher als bei der U 6 von der 97er Perzentile entfernt. Nach übereinstimmender Einschätzung der Gutachter Prof. Dr. Schulte und Prof. Dr. von der Hardt ist es "schwer verständlich, dass der Beklagte bei der Vorsorgeuntersuchung ankreuzte: "Keinen Anhalt für eine die Entwicklung gefährdende Gesundheitsstörung." Dies gilt umso mehr, als dem Beklagten zu diesem Zeitpunkt die starke Verzögerung der psychomotorischen Entwicklung des Klägers inzwischen bekannt war. Die bedrohlichen Anzeichen, die zu entsprechender weiterer Diagnostik hätten führen müssen, hatten sich mithin zu diesem Zeitpunkt gravierend verstärkt. Das Unterlassen jeglicher Maßnahme ist nach Einschätzung von Prof. Dr. von der Hardt "in keiner Weise nachzuvollziehen und muss als grober Behandlungsfehler gewertet werden" (II, 358, so ebenfalls Prof. Dr. Schulte, I, 15).

21

Das Unterlassen der gebotenen Diagnostik ist auch ursächlich für die auf den Hydrocephalus zurückzuführenden Gesundheitsschäden des Klägers; infolge der irreversiblen Hirnschädigung leidet er an krankhaften Reflexen, einer Dekompensation mit psychomotorischer Retardierung und Koordinationsstörungen. Der Beklagte hat den ihm obliegenden Beweis, dass seine fehlerhafte Behandlung des Klägers nicht dessen Gesundheitsschäden bewirkt hat, nicht zu führen vermocht. Ebenso wie das Landgericht ist der Senat der Auffassung, dass dem Kläger eine Beweislastumkehr hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschäden zugute kommt, weil der Beklagte - wie dargelegt - gegen elementare Behandlungsregeln verstoßen hat, die aus objektiver ärztlicher Sicht nicht mehr verständlich sind. So sind Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr für den Patienten insbesondere im Falle der Nichterhebung von Kontrollbefunden und der Unterlassung weiterer gebotener Diagnostik gerechtfertigt, weil die Aufklärung des Behandlungsgeschehens in besonderer Weise durch den Arzt erschwert wird (etwa: BGH NJW 1992, 2962; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 7. Aufl. 1997, Rn. 525 ff, 530, m.w.N.).

22

Die Beweiserleichterung zu Gunsten des Klägers hinsichtlich des Kausalitätsnachweises folgt im Übrigen nach den Grundsätzen der Entscheidung des Bundesgerichtshofs vom 6.10.1998 (VersR 1999, 60) auch aus dem Verstoß des Beklagten gegen seine Pflicht zur Erhebung medizinisch zweifelsfrei gebotener Befunde, hier zur Veranlassung weiterer diagnostischer Schritte. Da die unterlassene Abklärung der Ursachen des großen Kopfumfangs des Klägers mit hoher Wahrscheinlichkeit einen gravierenden Befund ergeben hätte und es fundamental fehlerhaft gewesen wäre, diesen Befund zu verkennen oder darauf nicht zu reagieren, wie sich aus dem Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. von der Hardt ergibt, hat sich der Beklagte auch aus diesem Grunde hinsichtlich der Kausalität zu entlasten.

23

Die hier zu Gunsten des Klägers greifende Beweislastumkehr hinsichtlich der haftungsbegründenden Kausalität entfällt auch nicht deshalb, weil nach den Gutachten der Sachverständigen Prof. Dr. Schulte, Prof. von der Hardt und Dr. Voss ein Teil der bestehenden Schäden möglicherweise auf eine angeborene Hirnfehlbildung und nicht auf die infolge der unzureichenden Diagnostik verspätet einsetzende Therapie zurückzuführen ist. Die dargelegten Grundsätze zur Beweisumkehr gelten auch dann, wenn zwar eine alleinige Ursächlichkeit des Behandlungsfehlers äußerst unwahrscheinlich ist, diese aber zusammen mit anderen Ursachen den Gesundheitsschaden herbeigeführt haben kann und eine solche Mitursächlichkeit nicht äußerst unwahrscheinlich ist (BGH NJW 1997, 796 = MDR 1997, 147).

24

Ein solcher Fall eines nicht abgrenzbaren Ursachenzusammenhangs ist nach den vorliegenden Gutachten hier gegeben. So weist Prof. Dr. von der Hardt im Anschluss an Prof. Dr. Schulte darauf hin, dass die Opticusatrophie mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Folge der späten Diagnose und Therapie ist. Dies gilt in gleicher Weise für die motorische Störung, die sich nach der Druckentlastung deutlich besserte. Andererseits ist es wahrscheinlich, dass die bei dem Kläger beobachtete Funktionsstörung durch die primäre Anlagestörung des Gehirns bedingt ist, worauf die temporale Subarachnoidalzyste hinweist (Prof. Dr. Schulte). Insgesamt bleibt festzuhalten, dass nicht mehr sicher zu klären ist, ob die Behinderung des Klägers überwiegend durch die Anlagestörung oder durch die verspätete Shuntimplantation zu erklären ist. Ein Zusammenhang zwischen dem Behandlungsfehler und den jetzt bestehenden und wahrscheinlich bleibenden Beeinträchtigungen des Klägers ist jedoch durchaus wahrscheinlich, kann aber nicht zweifelsfrei bewiesen werden (Dr. Voss, III, 34). Nach den vom Bundesgerichtshof entwickelten Grundsätzen verbleibt es danach bei der Beweislastumkehr zu Gunsten des Klägers. Da der Beklagte sich nicht entlasten kann, hat er in vollem Umfang für den geltend gemachten Schaden einzustehen. Ergänzend kann auf die ausführliche Darstellung der angefochtenen Entscheidung Bezug genommen werden (S. 6, 4. Absatz - S. 9, Mitte).

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Das Schmerzensgeld, das der Beklagte hiernach schuldet, war mit 160.000,00 DM zu bemessen. Nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Voss vom 20.01.1998 (III, 25), das der Senat für überzeugend hält, ist von einer ernsten Beeinträchtigung der physischen und psychischen Gesundheit des Klägers auszugehen. Es liegt eine mild ausgeprägte Körperbehinderung mit Einschränkungen der Grob- und Feinmotorik vor. Der Kläger ist nicht in der Lage, sich im altersgemäßen Rahmen mit Kindern im gleichen Alter zu messen. Ferner bestehen kognitive Einschränkungen, die sich im Rahmen einer Lernbehinderung bewegen. Zusätzlich erschwerend kommen Verhaltensauffälligkeiten im Sinne eines distanzlosen, impulsiven Verhaltens hinzu. All diese Entwicklungsstörungen sind dem Beklagten zuzurechnen. Dies gilt auch für die seit 1994 bestehende Epilepsie, die trotz fortlaufender medikamentöser Behandlung nicht vollständig zu beherrschen ist. Wie Dr. Voss im Anschluss an einen Aufsatz von Prof. Dr. von der Hardt weiter ausführt, sind Fälle von Epilepsie durchaus häufig bei nicht oder verspätet operativ behandelten Kinder mit Hydrocephalus anzutreffen (III, 31). Dem Beklagten ist es auch insoweit nicht gelungen, sich hinsichtlich der Kausalität zu entlasten, sodass auch das Anfallsleiden bei der Schmerzensgeldbemessung zu bewerten ist.

26

Nach sachverständiger Einschätzung kann nicht von einer Normalisierung des jetzt vorhandenen Störungsbildes ausgegangen werden. Die kognitiven Defizite werden sich nicht bessern. Es ist zu erwarten, dass der Kläger auch als junger Mann eine eingeschränkte Geschicklichkeit sowie eine relativ plumpe Grobmotorik zurückbehalten wird. Auch im sozial-emotionalen Bereich wird der Kläger eine Außenseiterposition behalten; Kontaktstörungen zu Gleichaltrigen sind bereits vorhanden und drohen sich zu verfestigen. Schließlich muss damit gerechnet werden, dass es zumindest in größeren Abständen zu cerebralen Anfällen kommen wird.

27

Dr. Voss hält das Erreichen des Hauptschulabschlusses nicht für unmöglich, jedoch für fraglich. Dies gilt auch für eine erfolgreiche Berufsausbildung. Eine Vermittlung auf dem freien Arbeitsmarkt hält er für unwahrscheinlich. Der Kläger leidet somit an bleibenden Behinderungen, die einer unabhängigen und selbstständigen Lebensführung mit hoher Wahrscheinlichkeit entgegenstehen und die ihn während seines gesamten Lebens belasten. Im Gegensatz zur Auffassung der Berufung und die ihren ist dem Kläger schließlich auch vorzuwerfen, dass ihm in zwei Fällen grobe Behandlungsfehler unterlaufen sind.

28

Der Feststellungsantrag war zum einen auf die materiellen Zukunftsschäden zu begrenzen; bezüglich der immateriellen Schäden erhebt die Berufung mit Erfolg die Verjährungseinrede (§ 852 Abs. 1 BGB). Der Kläger hat zunächst nur die Feststellung der Ersatzpflicht hinsichtlich seiner materiellen Schäden verlangt (I, 2); entsprechend lautete auch das Versäumnisurteil vom 11.01.1994 (I, 99/100). Auch in den folgenden Verhandlungsterminen bezog sich der Feststellungsantrag nur auf die materiellen Schäden. Erstmals im Termin vom 25.09.1998 (III, 65) stellte der Kläger den Antrag, die Ersatzpflicht des Beklagten auch hinsichtlich der immateriellen Zukunftsschäden festzustellen. Zu diesem Zeitpunkt war die Frist des § 852 Abs. 1 BGB jedoch verstrichen. Der auf Ersatz der materiellen Schäden gerichtete ursprüngliche Feststellungsantrag unterbrach die Verjährung nicht bezüglich der immateriellen Zukunftsschäden (§ 209 Abs. 1 BGB), weil dieser Teil des Anspruchs nicht zur richterlichen Entscheidung gestellt wurde (vgl. dazu BGHZ 103, 298, 301) [BGH 25.02.1988 - VII ZR 348/86]. Die Ausführungen des Klägers im Schriftsatz vom 24.3.1999 rechtfertigen keine andere Beurteilung.

29

Die Berufung rügt weiter mit Recht, dass die Feststellung der Ersatzpflicht bezüglich der materiellen Zukunftsschäden auf den Behandlungszeitraum vom 10.10.1990 (U 6) bis zum 18.09.1991 (U 7) zu begrenzen ist, weil ärztliche Fehler des Beklagten vor dem 10.10.1990 nicht vorliegen. Im Übrigen ist der Feststellungsantrag zulässig und begründet.

30

Hinsichtlich des Grundurteils (Klageantrag zu 3) war keine Änderung der angefochtenen Entscheidung veranlasst, weil der Kläger insoweit Ersatz der ihm in der Zeit vom 01.11.1990 bis zum 31.12.1996 entstandenen Schäden begehrt (II, 435) und der Beklagte dem Kläger - wie dargelegt - insoweit schadensersatzpflichtig ist.