Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Urt. v. 12.11.2020, Az.: L 6 U 98/17

Anerkennung einer Erkrankung an Parkinson wie eine Berufskrankheit; Wirkung von Pestiziden

Bibliographie

Gericht
LSG Niedersachsen-Bremen
Datum
12.11.2020
Aktenzeichen
L 6 U 98/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 50929
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
SG Lüneburg - 09.08.2017 - AZ: S 2 U 64/14

Redaktioneller Leitsatz

Die bisherigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft rechtfertigen keine Anerkennung einer Parkinson-Krankheit wie eine Berufskrankheit.

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lüneburg vom 9. August 2017 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung einer Parkinson-Krankheit wie eine Berufskrankheit (BK) als Versicherungsfall nach § 9 Abs 2 Sozialgesetzbuch Siebtes Buch (SGB VII) - Gesetzliche Unfallversicherung (UV) -.

Der im Jahr 1940 geborene Kläger war während seines Berufslebens in der Landwirtschaft tätig, seit dem Jahr 1976 bis zur Aufgabe des Betriebes im Jahr 2006 als selbstständiger Landwirt. Er betrieb schwerpunktmäßig Ackerbau und war Pestiziden (Pflanzenschutzmitteln) ausgesetzt.

Im Jahr 2010 beantragte der Kläger die Anerkennung seiner Parkinson-Krankheit, die mit den ersten Symptomen ungefähr seit dem Jahr 2005 besteht, als BK. Nachdem er eine Liste der von ihm in den letzten 10 Jahren seiner Tätigkeit verwendeten Pflanzenschutz- und Beizmittel vorgelegt und der technische Aufsichtsbeamte F. ihn zu seinem beruflichen Umfeld befragt hatte (Stellungnahme vom 14. Juni 2011), veranlasste die Beklagte die ambulante nervenfachärztliche Untersuchung des Klägers im Städtischen Klinikum G. und die Erstattung des Gutachtens durch den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie Dr H. vom 10. Oktober 2011. Der Gutachter diagnostizierte ein idiopathisches Parkinson-Syndrom und führte aus: Bei der Mehrzahl der an einem Parkinson leidenden Patienten liege ein sog idiopathisches Parkinson-Syndrom zugrunde, bei dem eine genetische Ursache vermutet werde. In größeren Statistiken werde davon ausgegangen, dass ihm über 90 % der als Parkinson-Syndrom diagnostizierten Fälle zuzuordnen seien. Die restlichen 10 % würden als sog symptomatisches Parkinson-Syndrom bezeichnet, das auch toxisch verursacht werden könne. Von den toxischen Substanzen seien einige bekannt, sie spielten zahlenmäßig aber eine untergeordnete Rolle. Dazu zählten auch synthetische Substanzen aus der Reihe der Pflanzenschutzmittel wie das Herbizid Paraquat, das vornehmlich im Obstbau eingesetzt werde, und Organochloride wie Lindan und DDT. Die vom Kläger vorgelegten Herbizide und Pestizide zählten nach Durchsicht der chemischen Zusammensetzung nicht zu ihnen. Hinzu komme, dass die Wahrscheinlichkeit, an einem idiopathischen Parkinson-Syndrom zu erkranken, viel höher sei. Zusammenfassend hielt der Gutachter fest, dass zum heutigen Zeitpunkt nach dem heutigen medizinischen Wissensstand nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu belegen sei, dass das Parkinson-Syndrom auf häufigem Umgang mit den angeschuldigten Chemikalien zurückzuführen sei. Daraufhin lehnte die Beklagte die Anerkennung eines Versicherungsfalls ab (Bescheid vom 7. Dezember 2011).

Im Widerspruchsverfahren wies der Kläger auf Studien, die ein erhöhtes Risiko der Erkrankung an Parkinson bei Landwirten, die beruflich häufigen Kontakt zu Pflanzenschutzmitteln hatten, belegten, und auf von der Beklagten bereits anerkannte Versicherungsfälle hin. Des Weiteren rügte er die Ermittlungen des technischen Aufsichtsdienstes, die er nicht für ausreichend hielt. Auch die medizinische Seite des Sachverhalts sei nicht aufgeklärt, Dr I. Gutachten enthalte keine brauchbaren Aussagen zur Kausalitätsfrage. Nachdem der Kläger eine weitere Liste der von ihm in den Jahren 1977 bis 1989 verwendeten Pflanzenschutzmittel vorgelegt hatte, befragte der technische Aufsichtsbeamte J. ihn erneut zum Krankheitsverlauf sowie zum persönlichen und beruflichen Umfeld. Der technische Aufsichtsbeamte hielt in der Stellungnahme vom 21. Mai 2012 fest, dass als Pflanzenschutzmittel hauptsächlich Herbizide, Insektizide und Fungizide eingesetzt worden seien. Eine besondere Schutzausrüstung sei nicht getragen worden. Die übliche Berufskleidung sei nach jeder Spritzarbeit kontaminiert, jedoch nicht gewechselt worden. Das Gleiche gelte für den Einsatz von Beizmitteln. Der Kläger gab an, geeignete Atemschützer oder Schutzhandschuhe seien schwierig einzusetzen gewesen, weil die körperliche Belastung das Tragen nicht zugelassen habe. Der technische Aufsichtsbeamte hielt die Angaben für plausibel und realistisch. Nach seiner Sicht stellten sie keine außergewöhnliche Exposition dar. Die dargestellten Anwendungen würden auch in anderen gleichgelagerten Betrieben eingesetzt. Ob die darin enthaltenen Wirkstoffe geeignet seien, Parkinson zu verursachen, vermochte er nicht zu beurteilen. Der Kläger legte eine weitere Auflistung der durchgeführten Dünge- und Pflanzenschutzmaßnahmen sowie eine Beschreibung des Beizvorganges vor. Anschließend bat die Beklagte Dr H. um erneute Prüfung. In der ergänzenden Stellungnahme vom 25. Juni 2012 hielt der Gutachter an seiner Beurteilung fest: Die verwendeten Pflanzenschutzmittel zählten nicht zu den potentiell ein Parkinson-Syndrom verursachenden Substanzen. Mehr als 90 % aller Parkinson-Syndrome seien idiopathisch. Das erhöhe automatisch die Wahrscheinlichkeit, dass das beim Kläger und zudem in einem typischen Lebensalter erstmals aufgetretene Parkinson-Syndrom idiopathischer Natur und nicht toxisch sei. Zu den weiteren Einwänden des Klägers holte die Beklagte die Stellungnahme des technischen Aufsichtsbeamten J. vom 26. September 2012 ein. Anschließend wies sie den Widerspruch zurück (Widerspruchsbescheid vom 19. Dezember 2012).

Dagegen richtet sich die am 21. Januar 2013 vor dem Sozialgericht (SG) Lüneburg erhobene Klage.

Das SG hat die Auskunft des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) vom 13. März 2013 eingeholt. Darin wird ausgeführt: Wissenschaftliche Diskussionen über Parkinson-Erkrankungen durch Pestizideinwirkung in der Landwirtschaft seien seit längerem bekannt. Der sie zur Aufnahme von Erkrankungen in die BK-Liste beratende Ärztliche Sachverständigenbeirat (ÄSVB) habe sich in den Jahren 2011/2012 mit der Thematik befasst. Er bestehe aus unabhängigen Fachmedizinern sowie Epidemiologen und repräsentiere die wissenschaftliche Arbeitsmedizin. Nach seiner Auffassung zeigten die vorhandenen epidemiologischen Studien zwar Hinweise auf einen Ursachenzusammenhang. Die getroffenen Aussagen seien im Ergebnis aber sehr heterogen. Die erforderliche Gruppentypik könne derzeit nicht ausreichend nachgewiesen werden. Es handele sich um eine Erkrankung, deren eigentliche Ursachen noch unklar seien und die im privaten Umfeld wie in Bereichen der Arbeitswelt auftrete. Eine besondere abstrakte Gefährdung bestimmter Personengruppen im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sei deshalb nicht feststellbar. Vor diesem Hintergrund habe der ÄSVB im Frühjahr 2012 beschlossen, zunächst keine offiziellen Beratungen zu beginnen, sondern die Ergebnisse weiterer Studien abzuwarten.

Auf die Rüge des Klägers, die Beklagte habe im Verwaltungsverfahren unzureichend ermittelt, erklärte diese sich zu weiteren Ermittlungen bereit. Auf ihre Veranlassung erstattete Prof Dr K. das arbeitsmedizinische Fachgutachten vom 30. April 2014.

Der Gutachter bestätigte die Diagnose eines idiopathischen Parkinson-Syndroms und unklare Kausalbeziehungen. Er führte aus: Zu Dosis-Wirkungs-Beziehungen, Expositionszeiträumen und Latenzzeiten bis zum Erkrankungsbeginn würden keine belastbaren Ergebnisse vorliegen. Es gebe bisher kein konsistentes neurotoxikologisches Erklärungsmodell zu der Frage, wie eine chronische oder wiederkehrende Exposition gegenüber Pestiziden (oder anderen Schadstoffen) unterhalb toxischer Schwellen mit Latenz eine progrediente neurodegenerative Erkrankung auslösen könne. Hiervon zu unterscheiden seien sekundäre Parkinson-Syndrome, die toxisch bedingt seien könnten und bei entsprechenden Expositionen als BKen anzuerkennen seien. Die Berufs- und Krankheitsanamnese des Klägers sei diesbezüglich leer. Der Vorschlag des Klägers zur Ermittlung sämtlicher jemals angewendeter Pestizide im Einzelnen und zur Prüfung auf ihre Parkinson-Relevanz sei schon wegen der Stoffrecherche kaum praktikabel und auch nicht umzusetzen, weil keine Matrix existiere, vor deren Hintergrund Pestizide, Lösungsmittel und deren Kombinationen als Auslöser eines idiopathischen Parkinson-Syndroms identifiziert werden könnten. Die Forschungslage sei unübersichtlich und liefere bislang keine konsistenten Befunde. Die in der Vergangenheit vereinzelt anerkannten Parkinson-Syndrome als Versicherungsfälle seien in Anbetracht der aktuellen Datenlage nicht nachzuvollziehen: Der ÄSVB habe sich zuletzt im Jahr 2012 mit der Problematik befasst und aufgrund der heterogenen Studienlage offizielle Beratungen zurückgestellt. Neue Erkenntnisse seien seitdem nicht zu verzeichnen. An dieser Beurteilung hielt der Gutachter auch auf Einwände des Klägers fest und führte in der Stellungnahme vom 20. August 2015 aus: Der Kläger beziehe sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus Frankreich zu einem Ursachenzusammenhang, die durch die zuständige Kommission generiert und auf ihre Empfehlungen an den französischen Gesetzgeber umgesetzt worden seien. Bei dieser Kommission handele es sich seines Erachtens nicht um ein wissenschaftliches Gremium im strengen Sinn, das dem ÄSVB entspreche. Die Kommission setze sich aus 32 Mitgliedern, darunter Repräsentanten von staatlichen Behörden, Gewerkschaften, Opferverbänden sowie landwirtschaftlichen Arbeitnehmern und Ärzten zusammen. Diese Zusammensetzung lege nahe, dass für die Entscheidung über die Aufnahme neuer BKen im französischen System außer wissenschaftlichen Erkenntnissen auch sozialpolitische Erwägungen einschließlich medialer Einflüsse eine größere Rolle spielen könnten. Vor dem Hintergrund zahlreicher ungeklärter wissenschaftlicher Probleme ließen sich die Bedingungen, die in Frankreich zur Anerkennung der entsprechenden BK führten, nicht gut nachvollziehen. Insgesamt wirkten die Vorgaben der französischen BK eher willkürlich und undifferenziert. Sie könnten nicht zur Orientierung beitragen.

Dagegen hat der Kläger die Stellungnahme des Prof Dr Dipl-Chem L. vom 18. Januar 2016 vorgelegt. Danach wiesen zahlreiche epidemiologische Studien überwiegend auf eine positive statistische Assoziation hin. In neueren Studien werde auch eine Risikoverdopplung in höheren Expositionskategorien angegeben. Gestützt werde der statistische Zusammenhang durch toxikologische Erkenntnisse zu einzelnen Stoffen und Stoffgruppen, die als neurotoxisch für das zentrale Nervensystem zu interpretieren seien. Aus diesem Grund sei nach seiner Auffassung die Frage zu bejahen, dass in bestimmten Einzelfällen die Voraussetzungen für eine Anerkennung wie eine BK zu bestätigen seien. Im Einzelfall müsse eine langjährige und hohe Exposition gegenüber Pflanzenschutzmitteln nachgewiesen sein, wobei ihm derzeit konkrete Kriterien für Langjährigkeit und Intensität noch fehlten.

Das SG hat sich der Beurteilung des Prof Dr K. angeschlossen und nach Anhörung der Beteiligten die Klage durch Gerichtsbescheid vom 9. August 2017 abgewiesen: Weitere medizinische Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen sei nicht vorzunehmen. Sofern es Prof Dr L. für angezeigt halte, weitere epidemiologische Studien durchzuführen, sei dieses nicht zu berücksichtigen. Es sei nicht Aufgabe der Gerichte, epidemiologische Studien in Auftrag zu geben. Vielmehr komme es nur darauf an, ob sich zum Entscheidungszeitpunkt die medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisse aufgrund der bereits vorliegenden Studien zur BK-Reife verdichtet haben.

Gegen die am 11. August 2017 zugestellte Entscheidung wendet sich der Kläger mit der am 11. September 2017 eingelegten Berufung, die er auf die Ausführungen des Prof Dr L. sowie auf die Anerkennung des Zusammenhangs zwischen Parkinson-Krankheit und der Verwendung von Pestiziden in der Landwirtschaft in Frankreich stützt. Er hält eine Entscheidung nach § 9 Abs 2 VII nicht deshalb für gesperrt, weil der ÄSVB nunmehr eine Verursachung der Parkinson-Krankheit durch bestimmte Pestizid-Inhaltsstoffe prüfe. Nach der Rechtsprechung (Rspr) des Bundessozialgerichts (BSG) sei dieses nur dann der Fall, wenn die Beratungen aktiv betrieben würden und ihr Abschluss innerhalb einer sozialverträglichen Zeitspanne zu erwarten seien. Aufgrund seines hohen Alters erscheine es sozialwidrig, eine jahrelange Sperrwirkung für die Prüfung im ÄSVB anzunehmen. Der Kläger hat die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage von Abgeordneten zur Anerkennung von Morbus Parkinson als BK im landwirtschaftlichen Bereich (Drs 19/12242) vorgelegt und ist der Ansicht, eine Anerkennung wie eine BK sei mit dem Zeitpunkt des Beschlusses des ÄSVB vom 6. Juni 2019 begründet, es bestehe eine generelle Eignung bestimmter Stoffe aus dem Bereich der Pestizide zur Verursachung des Morbus Parkinson und Beratungen aufzunehmen.

Der Kläger beantragt,

  1. 1.

    den Gerichtsbescheid des SG Lüneburg vom 9. August 2017 und den Bescheid der Beklagten vom 7. Dezember 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Dezember 2012 aufzuheben,

  2. 2.

    die Beklagte zu verurteilen, die Parkinson-Krankheit wie eine BK als Versicherungsfall anzuerkennen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des SG Lüneburg vom 9. August 2017 zurückzuweisen.

Sie verteidigt die angefochtenen Entscheidungen und hält eine Entscheidung für gesperrt, solange der Prüfprozess des ÄSVB andauere.

Der Senat hat den Beteiligten Kopien der gutachterlichen Äußerungen des Prof Dr L. in einem anderen bei ihm anhängigen Berufungsverfahren (L 6 U 9/19) übersandt. Darin ist Prof Dr L. als vom SG beauftragter Sachverständiger in den Jahren 2017 und 2018 zu dem Ergebnis gelangt, dass eine epidemiologische Konsistenz des Zusammenhangs einer Exposition gegenüber Pflanzenschutzmitteln und einer Parkinson-Krankheit fehle und dass die Voraussetzungen für eine Erkrankung nach § 9 Abs 2 SGB VII nicht erfüllt seien.

Dem Senat haben neben den Prozessakten die Verwaltungsakten der Beklagten vorgelegen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Beratung gewesen. Wegen der Einzelheiten des Sachverhalts und des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf den Akteninhalt Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die statthafte Berufung ist form- und fristgerecht eingelegt und somit insgesamt zulässig. Sie hat jedoch keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten ist rechtmäßig. Die Erkrankung des Klägers ist keine BK und der begehrten Verurteilung der Beklagten zur Anerkennung wie eine BK als Versicherungsfall steht schon entgegen, dass eine Entscheidung darüber bis zum Abschluss der Beratungen des ÄSVB gesperrt ist (dazu unter 1). Dessen ungeachtet erlauben die bisherigen Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft keine Anerkennung einer Parkinson-Krankheit wie eine BK (dazu unter 2).

1. Das deutsche BK-Recht räumt in § 9 Abs 1 und 2 SGB VII der Verordnungsgeberin einen Vorrang der Regelungsbefugnis ein (zB Becker in Krasney, SGB VII - Komm § 9 Rn 300 mN zur Rspr). Das bedeutet, dass im Grundsatz nach § 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII nur die von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates (in der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung - BKV -) bezeichneten Krankheiten als BKen festgestellt werden können und dass nur ausnahmsweise, in dem Zeitraum des Vorliegens der Bezeichnungsvoraussetzungen bis zur Anpassung der BKV, eine Anerkennung nach § 9 Abs 2 SGB VII wie eine BK in Betracht kommt. Die Bezeichnung einer Krankheit als BK setzt voraus, dass eine Krankheit nach den Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaft durch besondere Einwirkungen verursacht ist, denen bestimmte Personengruppen durch ihre versicherte Tätigkeit in erheblich höherem Grade als die übrige Bevölkerung ausgesetzt sind (§ 9 Abs 1 Satz 2 erster Halbsatz SGB VII). Diese Gruppentypik, dh die Voraussetzung einer höheren Gefährdung bestimmter Personengruppen bezieht sich auf das allgemeine Auftreten der Krankheit (BSGE 59, 295/298).

Zur Feststellung des medizinisch-wissenschaftlichen Kenntnisstandes und der Beurteilung der Bezeichnungsvoraussetzungen bedient sich die Verordnungsgeberin der Beratung durch den ÄSVB (zu seiner Stellung näher Anna-Lena Hollo, Das Verfahren zur Anerkennung von BKen, Baden-Baden 2018, § 3 B, S 105 ff). Es ist deshalb konsequent, in dem Fall, in dem der ÄSVB die Bezeichnungsvoraussetzungen einer Krankheit als BK prüft, dem Ergebnis seiner Ermittlungen nicht vorzugreifen und eine "Sperrwirkung" anzunehmen mit der Folge, dass für die Dauer der Beratungen den Berufsgenossenschaften und den Gerichten die Prüfung eines Versicherungsfalls entzogen ist (BSG Urteil vom 4. Juni 2002 - B 2 U 20/01 R - juris Rn 31; Lauterbach/Koch, UV (SGB VII), 4. Aufl, 42. Lfg, März 2010, Rn 286 mwN). Das gilt hier auch deshalb - darauf hat Prof Dr K. aufmerksam gemacht -, weil die Parkinson-Krankheit in der Allgemeinbevölkerung verbreitet ist und zahlreiche Einflussfaktoren diskutiert werden. Ob hinsichtlich einer Risikoerhöhung durch eine Exposition gegenüber Pestiziden gegenüber der Allgemeinbevölkerung belastbare Dosis-Wirkungs-Beziehungen und Aussagen über Expositionszeiträume sowie Latenzzeiten vorliegen und welche konkreten Voraussetzungen für die Anerkennung als Versicherungsfall zu fordern sind, muss deshalb dem Ergebnis der Beratungen des ÄSVB vorbehalten bleiben (hierzu eingehend Koch aaO Rn 288/289, sa die og Antwort der Bundesregierung aaO S 10). Das gilt auch unter Beachtung des vom BSG (aaO Rn 32) formulierten Vorbehalts der Erwartung eines Abschlusses innerhalb einer sozial verträglichen Zeitspanne, die hier mit der Aufnahme der Beratungen im Jahr 2019 nicht überschritten ist. Demgegenüber kann bei ihrer Beurteilung - entgegen der Auffassung der Berufung - nicht das jeweilige Lebensalter eines Versicherten maßgebend sein. Entscheidend ist die Beurteilung der verstrichenen und erforderlichen Zeit im Hinblick auf die Komplexität der Prüfung. Zur Vermeidung eines etwaigen Anspruchsverlusts ist das Ruhen des Verfahrens (§ 202 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz - SGG - in Verbindung mit § 251 Satz 1 Zivilprozessordnung) anzuordnen, das die Beklagte beantragt hat, mit dem der Kläger indes nicht einverstanden ist.

Die in der Literatur gegen diese Sperrwirkung vorgebrachten Argumente (Brandenburg in: Schlegel/Voelzke jurisPK-SGB VII 2. Aufl § 9 SGB VII (Stand: 08.12.2017) Rn 132) vermögen vor dem Hintergrund des Vorrangs der Regelungsbefugnis der Verordnungsgeberin und der dargestellten auch sachlichen Rechtfertigung nicht zu überzeugen. Die Sperrwirkung ist - entgegen der weiteren Auffassung in der Literatur (Mehrtens/Brandenburg BKV Komm E § 9 SGB VII Anm 29.3) - auch nicht vom BSG aufgegeben worden. Vielmehr hat das BSG in den genannten Urteilen vom 27. Juni 2006 (B 2 U 5/05 R) und 2. Dezember 2008 (B 2 KN 1/08 U R) der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 23. Juni 2005 (1 BvR 791/95, SozR 4-1100 Art 3 Nr 32) insoweit Rechnung getragen, als eine mit der Bezeichnung einer Krankheit als BK verbundene Rückwirkungsregelung solchen Sachverhalten nicht entgegensteht, bei denen ein gestellter entscheidungsreifer Antrag trotz Vorliegens der Voraussetzungen des § 9 Abs 2 SGB VII allein mit Rücksicht auf das künftige Recht abgelehnt wird (aaO juris Rn 22 f / Rn 18 ff, hierzu auch Koch aaO Rn 288a f). Auch der Entscheidung des BVerfG vom 9. Oktober 2000 (1 BvR 791/95) liegt der Sachverhalt einer Entscheidungsreife nach § 9 Abs 2 SGB VII zugrunde, die hier bei noch anhaltenden Beratungen gerade nicht gegeben ist. Erst wenn diese vom ÄSVB bejaht wird und eine Ergänzung der BKV in Sicht ist, ist zügig der Versicherungsfall wie eine BK anzuerkennen (aaO juris Rn 29 - Koch aaO). Insgesamt ist deshalb weiterhin von einer Sperrwirkung auszugehen (Koch aaO Rn 289 aE; sa BayLSG Urteil vom 18. Januar 2008 - L 3 U 137/06 -, aA LSG für das Saarl Urteil vom 18. Februar 2009 - L 2 U 61/05 -).

2. Dessen ungeachtet kann ein Versicherungsfall nach § 9 Abs 2 SGB VII wie eine BK deshalb nicht anerkannt werden, weil ein erheblich erhöhtes Risiko von Landwirten, nach einer Exposition gegenüber Pestiziden an Parkinson zu erkranken, mithin die BK-Reife medizinisch-wissenschaftlich nicht gesichert ist (sa LSG Rheinland-Pfalz Urteil vom 17. Oktober 2017 - L 3 U 6/17 -, Hess LSG Urteil vom 19. Juli 2016 - L 3 U 32/13 - und das Urteil des 14. Senats des Gerichts vom 22. Oktober 2014 - L 14 U 83/12 -). Insoweit nimmt der Senat Bezug auf die Begründungen der angefochtenen Entscheidungen (§§ 153 Abs 2, 136 Abs 3 SGG), die sich im Berufungsverfahren bestätigt haben. Dem steht die im erstinstanzlichen Verfahren vorgelegte Stellungnahme des Prof Dr L. nicht entgegen, zumal Prof Dr L. als Sachverständiger in einem weiteren vor dem erkennenden Senat anhängigen Berufungsverfahren die Voraussetzungen des § 9 Abs 2 SGB VII mit ausführlicher Begründung verneint hat.

Seine zum Ende der Stellungnahme vom 1. Februar 2016 geäußerte Auffassung, in "bestimmten Einzelfällen [seien] die Voraussetzungen für eine ‘Wie-Berufskrankheit‘ zu bestätigen", vermag nicht zu überzeugen. Erforderlich seien "eine langjährige und hohe Exposition gegenüber PSM". Konkrete Kriterien vermag er indes schon nicht zu benennen. Des Weiteren - und dieses ist Prof Dr L. als ausgewiesenen Kenner des BK-Rechts bekannt - erlaubt das deutsche BK-Recht eine Entschädigung "bestimmter Einzelfälle" nicht. Vielmehr setzt es - wie unter 1 ausgeführt - eine Gruppentypik, dh voraus, dass bestimmte Personengruppen (hier: Landwirte) durch ihre versicherte Tätigkeit (hier: durch Pflanzenschutzmittel - PSM -) einem erhöhten Erkrankungsrisiko (hier: an Morbus Parkinson) ausgesetzt sind. Diese Voraussetzung hat Prof Dr L. in einem weiteren vor dem erkennenden Senat anhängigen Rechtsstreit verneint. Als vom SG beauftragter Sachverständiger hat er die fehlende wissenschaftlich konsistente Datenlage unterstrichen und im Übrigen bei einem idiopathischen Morbus Parkinson, der auch hier gesichert ist, eine toxische Verursachung verneint. Insgesamt kann nach den Beurteilungen des Prof Dr K. und auch des Prof Dr L. nur davon ausgegangen werden, dass zwar Hinweise auf einen Zusammenhang einer Parkinson-Krankheit mit einer Einwirkung durch Pestizide bestehen, dass aber ein erhöhtes Erkrankungsrisiko von Landwirten medizinisch-wissenschaftlich nicht gesichert ist. Schließlich hat Prof Dr K. darauf aufmerksam gemacht, dass die Inzidenz der Erkrankung, dh die Anzahl der neu aufgetretenen Erkrankungen seit Beginn der Verwendung von Pestiziden nicht erkennbar zugenommen habe (S 28 unten des arbeitsmedizinischen Gutachtens vom 30. April 2014).

Aus der Anerkennung als BK in Frankreich folgt nichts Anderes. Prof Dr K. hat auf den zum deutschen Recht unterschiedlichen Entscheidungsvorgang aufmerksam gemacht. Auch der Beschluss des ÄSVB vom 6. Juni 2019 ändert an der Beurteilung nichts. Allein aus der Bejahung der "generellen Eignung bestimmter Stoffe/Stoffgruppen aus dem Bereich der Pestizide zur Verursachung des Morbus Parkinson" und der Aufnahme von Beratungen zum Vorliegen der Bezeichnungsvoraussetzungen als BK kann - entgegen der Auffassung der Berufung - nicht auf die BK-Reife geschlossen werden. In der Antwort der Bundesregierung (aaO) wird ausgeführt, dass es sich insoweit nur um den ersten Prüfungskomplex für eine neue BK, dh um die Feststellung handele, dass Pestizide als Ursache im naturwissenschaftlich-philosophischen Sinne in Betracht kommen, und dass nunmehr Ermittlungen insbesondere zur gruppentypischen Risikoerhöhung erforderlich seien (näher zu der zweistufigen Prüfung Hollo aaO S 169 ff).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Ein gesetzlicher Grund zur Zulassung der Revision (§ 160 Abs 2 SGG) liegt nicht vor. -