Oberlandesgericht Celle
Beschl. v. 07.03.2005, Az.: 22 W 7/05
Rechtmäßigkeit einer ohne vorherige und mögliche Auflösung der Versammlung erfolgte polizeiliche Ingewahrsamnahme von Versammlungsteilnehmern; Voraussetzungen der Auflösung einer Versammlung; Zulässigkeit einer auf Polizeirecht gestützten freiheitsentziehenden Maßnahme
Bibliographie
- Gericht
- OLG Celle
- Datum
- 07.03.2005
- Aktenzeichen
- 22 W 7/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 11727
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OLGCE:2005:0307.22W7.05.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- LG Lüneburg - 04.01.2005 - AZ: 10 T 35/04
Rechtsgrundlagen
- § 19 Abs. 2 S. 4 NdsGefAG
- § 27 Abs. 1 FGG
- § 15 Abs. 1 VersG
- § 15 Abs. 2 VersG
- § 15 Abs. 3 VersG
- Art. 8 GG
Fundstellen
- EurUP 2005, 190
- Jura 2006, Heft 3 Karteikarte (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- NVwZ-RR 2005, VI Heft 7 (amtl. Leitsatz)
- NVwZ-RR 2005, 543-544 (Volltext mit amtl. LS)
- OLGReport Gerichtsort 2005, 587-588
- jura 2006, Art. 8-Karteikarte (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
Amtlicher Leitsatz
Eine ohne vorherige und mögliche Auflösung der Versammlung (hier: Demonstration gegen den Castor-Transport) erfolgte polizeiliche Ingewahrsamnahme der Versammlungsteilnehmer ist rechtswidrig.
In der Freiheitsentziehungssache
hat der 22. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die weitere sofortige Beschwerde der Polizeidirektion Lüneburg
gegen den Beschluss der Zivilkammer 10 des Landgerichts Lüneburg vom 4. Januar 2005
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ...,
die Richterin am Oberlandesgericht ... und
den Richter am Oberlandesgericht ...
am 7. März 2005
beschlossen:
Tenor:
Die weitere sofortige Beschwerde wird auf Kosten des Landes Niedersachsen als unbegründet zurückgewiesen.
Der Beschwerdewert wird auf 3.000, Euro festgesetzt.
Gründe
1.
Der Antragsteller war am 13. November 2001 in Hitzacker Teilnehmer eines aus etwa 150 Personen bestehenden Demonstrationszuges, der sich gegen den am selben Tage dort durchgeführten Castor-Transport richtete. Den vom Landgericht getroffenen Feststellungen zufolge war zumindest von einigen Teilnehmern eine Blockade des durch Hitzacker verlaufenden Bahngleises geplant. Das Landgericht hat zum weiteren Ablauf der Demonstration folgenden Sachverhalt festgestellt: Die Personengruppe bewegte sich durch Hitzacker und wurde dort durch Polizeikräfte seitlich begleitet. Vereinzelte Teilnehmer warfen sog. Krähenfüße auf die Fahrbahn, wodurch an einigen Einsatzfahrzeugen der Polizei Reifenschäden verursacht wurden. Als einzelne Mitglieder der Demonstrationsgruppe ihr Gesicht verdeckten, setzten die Einsatzkräfte ihre Helme auf. Die Personengruppe erhöhte das Tempo und begab sich in das anliegende Waldstück. Daraufhin lies der Leiter der "Festnahmeeinheit" die Gruppe in den Wald hinein verfolgen, es wurden ca. 120 Personen eingeschlossen und in Gewahrsam genommen, darunter auch der Antragsteller. Eine Auflösung des Aufzuges erfolgte nicht. Bei der Gewahrsamnahme befand sich die Personengruppe noch ca. 1 km von der Bahnstrecke entfernt. Der Antragsteller wurde gegen Mittag in die Gefangenensammelstelle in Neu Tramm verbracht und am 14. November 2001 gegen 01.00 Uhr aus dem Gewahrsam entlassen.
Der vom Antragsteller gegen diese Freiheitsentziehung gerichtete Antrag auf nachträgliche Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme wurde vom Amtsgericht Dannenberg als unbegründet zurückgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete sofortige Beschwerde hat das Landgericht Lüneburg die Entscheidung des Amtsgerichts aufgehoben und festgestellt, dass die Freiheitsentziehung des Betroffenen rechtswidrig war, weil eine Auflösung der Versammlung nicht erfolgt war. Gegen diese Entscheidung wendet sich die Polizeidirektion Lüneburg (vormals Bezirksregierung Lüneburg) mit der vom Landgericht nach § 19 Abs. 2 Satz 4 NdsGefAG zugelassenen weiteren sofortigen Beschwerde.
2.
Die weitere sofortige Beschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
Die angefochtene Entscheidung des Landgerichts hält der rechtlichen Nachprüfung nach § 27 Abs. 1 FGG stand. Die Entscheidung beruht nicht auf einer Verletzung des Gesetzes. Das Landgericht ist rechtlich beanstandungsfrei zu der Feststellung gelangt, dass die Freiheitsentziehung des Antragstellers rechtswidrig war. Auf die Gründe der angefochtenen Entscheidung wird zum Vermeiden von Wiederholungen zunächst Bezug genommen.
Das Landgericht hat bei seiner Entscheidung insbesondere rechtlich beanstandungsfrei darauf abgestellt, dass die durch Hitzacker ziehende Personengruppe eine durch Art. 8 GG grundsätzlich geschützte Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes war und eine ohne deren Auflösung erfolgende Freiheitsentziehung nicht in Betracht kam. Das hiergegen gerichtete Vorbringen der Polizeidirektion Lüneburg erlaubt keine abweichende Beurteilung.
Nach § 15 Abs. 1 VersG kann eine Versammlung verboten werden, wenn die öffentliche Sicherheit hierdurch unmittelbar gefährdet wird. Nach § 15 Abs. 2 VersG kann eine Versammlung - oder ein Aufzug - aufgelöst werden, wenn die Voraussetzungen zu einem Verbot gegeben sind. Nach § 15 Abs. 3 VersG ist eine verbotene Versammlung auszulösen. Eine Auflösung in diesem Sinne ist vorliegend zu keinem Zeitpunkt erfolgt.
a)
Allein der Umstand, dass den getroffenen Feststellungen zufolge einzelne Teilnehmer sog. Krähenfüße oder Mülltonnen auf die Fahrbahn warfen und ihr Gesicht verdeckten, machte eine Auflösung der Versammlung hiernach ebenso wenig entbehrlich wie das Ziel zumindest einiger Teilnehmer, eine Gleisblockade durchzuführen. Gewaltsame Handlungen nur einzelner Teilnehmer einer Demonstration führen nicht dazu, dass die gesamte Versammlung sich außerhalb des Schutzbereichs aus Art. 8 GG bewegt. Das Ziel einer - fraglos rechtswidrigen (vgl. nur OVG Lüneburg, NVwZRR 2004, 575; OLG Celle vom 29. Januar 2004, 22 Ss 189/03) - Gleisblockade könnte allenfalls dazu führen, dass der Charakter der Versammlung verbotener Natur war oder wurde. Dies macht eine Auflösung aber nicht entbehrlich (BVerwG, NVwZ 1988, 250). Denn nach § 15 Abs. 3 VersG ist (auch) eine verbotene Versammlung aufzulösen. Der Umstand des Verbotenseins einer Versammlung führt weder von sich heraus zu deren Beendigung, noch lässt er das Erfordernis einer Auflösung entfallen; vielmehr setzt eine Auflösung nach § 15 VersG den Tatbestand des Verbotenseins der Versammlung oder einer Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung erst voraus. Eine ohne Auflösung einer Versammlung erfolgte Freiheitsentziehung aus Gründen präventivpolizeilicher Gefahrenabwehr ist rechtswidrig (OVG NRW, NVwZ 2001, 1315 [OVG Nordrhein-Westfalen 02.03.2001 - 5 B 273/01]).
b)
Soweit die Polizeidirektion vorträgt, die Personengruppe habe sich zum Zeitpunkt der Gewahrsamnahme bereits selbst aufgelöst gehabt, weshalb es einer Auflösung nicht mehr bedurft habe, findet dies in den vom Landgericht getroffenen Feststellungen, an die der Senat als Gericht der weiteren Beschwerde grundsätzlich gebunden ist, keine Stütze. Das Landgericht ist den getroffenen Feststellungen zufolge erkennbar von nur einer Gruppe ausgegangen, die sich - nach zwischenzeitlicher Teilung - durch Hitzacker bewegte (und hierbei von Polizeikräften seitlich begleitet wurde), aus der heraus Krähenfüße auf die Fahrbahn geworfen wurden, die das Tempo erhöhte und die sich in das anliegende Waldstück begab, die von Einsatzkräften verfolgt und die dort in einer Stärke von 120 Personen eingeschlossen wurde. Eine Selbstauflösung der Gruppe zum Zeitpunkt der Gewahrsamnahme ist hiernach nicht erkennbar.
c)
Soweit die Polizeidirektion vorträgt, es habe während der gesamten Phase praktisch zu keinem Zeitpunkt die Möglichkeit bestanden, eine Auflösungsverfügung zu erlassen, greift auch dieser Einwand nicht durch. Weshalb der Erlass sowie eine - wie auch immer geartete - Kundgabe einer Auflösungsverfügung praktisch nicht möglich gewesen sein soll, erschließt sich nicht. Den getroffenen Feststellungen zufolge war es den Einsatzkräften möglich, die Personengruppe einzuschließen - und sodann in Gewahrsam zu nehmen. Anhaltspunkte für die Annahme, eine Auflösung der Versammlung sei in dieser Phase nicht möglich gewesen, finden sich weder in den Gründen der angefochtenen Entscheidung, noch werden sie im Rahmen der weiteren Beschwerde vorgetragen. Der Senat verkennt nicht, dass das Geschehen am Tag eines Castor-Transports und der hiergegen gerichteten, teilweise auch massiv gewalttätigen Demonstrationen einer Vielzahl von Personen und teils gut organisierten Personengruppen von einer gewissen Hektik geprägt ist und häufig auch pragmatisches Vorgehen der Einsatzkräfte erfordert. Das kann die Bestimmungen des Art. 8 GG einschränkenden Versammlungsgesetzes aber nicht außer Kraft setzen. Ein "allgemeines Tohuwabohu und Gerenne" - das sich den vom Landgericht getroffenen Feststellungen überdies nicht entnehmen lässt - macht eine Auflösung weder von vornherein unmöglich, noch insbesondere überflüssig.
Hiernach ist nicht erkennbar, weshalb nicht zumindest vor der Entscheidung, die bereits eingeschlossene, d.h. von Polizeikräften bereits umstellte und somit am Fortlaufen gehinderte Personengruppe in Gewahrsam zu nehmen, nicht auch die Möglichkeit bestanden haben soll, eine Entscheidung über die Auflösung zu treffen und die Teilnehmer hierauf hinzuweisen - mit der Folge, dass alle Teilnehmer sich nunmehr zu entfernen haben. Dies gilt umso mehr, als den getroffenen Feststellungen zufolge die Personengruppe sich zu diesem Zeitpunkt noch etwa 1 km von den Bahngleisen und dem dort angeordneten Verbotskorridor entfernt befand, weshalb eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit auch nicht unmittelbar bevorstand. Vor diesem Hintergrund kam auch die Annahme einer konkludenten Auflösung durch zeitgleichen Einschluss der Personengruppe (vgl. hierzu OVG Berlin, NVwZRR 2003, 896; OVG NRW a.a.O.) nicht in Betracht. Erst nach erfolgter Auflösung und für den Fall, dass trotz der Auflösung sämtliche oder einzelne Personen sich nicht - dauerhaft - entfernen, sondern weiter in Richtung des Bahnkörpers sich bewegen, wären auf Polizeirecht gestützte freiheitsentziehende Maßnahmen zulässig gewesen.
3.
Die Nebenentscheidungen folgen §§ 13 a Abs. 1 Satz 2 FGG, 30 KostO.
Streitwertbeschluss:
Der Beschwerdewert wird auf 3.000, Euro festgesetzt.