Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 21.01.2003, Az.: 4 A 247/01

Schülerbeförderung; Sonderschule; Waldorfschule

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
21.01.2003
Aktenzeichen
4 A 247/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 47672
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Die Klägerin begehrt Schülerbeförderung zur D. - Schule in E., einer Schule in freier Trägerschaft für Lernhilfe, Erziehungshilfe, geistig Behinderte und Körperbehinderte. Es handelt sich dabei um eine als Ganztagsschule geführte heilpädagogische Schule auf der Grundlage der Menschenkunde Rudolf Steiners. Die Bezirksregierung F. genehmigte die Errichtung und den Betrieb der Schule als Ersatzschule mit Bescheid vom 29. September 2000.

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Mit Bescheid vom 21. Juni 2000 stellte die Bezirksregierung F. fest, dass bei der Klägerin sonderpädagogischer Förderbedarf vorliege und ordnete an, dass sie mit Beginn des Schuljahrs 2000/2001 die Schule "G. ", Schule für geistig Behinderte, in H. zu besuchen habe. Später erklärte sich die Bezirksregierung F. damit einverstanden, dass die Klägerin die D. - Schule besuche, da der festgestellte sonderpädagogische Förderbedarf auch dort erfüllt werden könne.

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Am 25. September 2000 beantragten die Eltern der Klägerin bei dem Beklagten die Durchführung der Schülerbeförderung. Dies lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 12. Oktober 2000 ab. Eine Beförderungs- oder Erstattungspflicht bestehe nur für den Weg zur nächsten Schule der für den Schüler festgelegten Schulform. Dies sei hier die Schule "G. " in H.. Die Klägerin erhob am 19. Oktober 2000 Widerspruch. Waldorfschulen seien eigenständige Schulformen, für die ein Anspruch auf Schülerbeförderung bzw. auf Übernahme der Kosten bestehe.

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Der Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 8. November 2000 zurück. Die D. - Schule biete als Ersatzschule ein im Verhältnis zur Schule "G. " gleichwertiges Bildungsangebot und erteile denselben Abschluss. Die individuellen Hilfen zur schulischen Förderung der Kinder auf der Grundlage der Pädagogik Rudolf Steiners erreichten dabei auch das Bildungsangebot der öffentlichen Schulen begründeten aber keinen eigenen Bildungsgang.

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Die Klägerin hat am 8. Dezember 2000 Klage erhoben. Im März 2001 hat sie den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Mit Beschluss vom 11. April 2001 (1 B 12/01) hat das Gericht den Beklagten verpflichtet, bis zu einer Entscheidung des vorliegenden Verfahrens die Klägerin zur D. - Schule zu befördern oder ersatzweise die ab April 2001 anfallenden Aufwendungen für die Schülerbeförderung zu erstatten.

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Zur Begründung ihrer Klage beruft sich die Klägerin u.a. auf die Rechtsprechung der ersten Kammer des erkennenden Gerichts sowie des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, wonach Freie Waldorfschulen im Vergleich zu sonstigen Regelschulen einen eigenen Bildungsgang darstellten. Dies gelte auch für die D. - Schule. Organisatorisch und inhaltlich bestünden erhebliche Unterschiede zu einer normalen Sonderschule. Es erfolge keine Selektion oder Differenzierung der Schüler; Lerninhalte, Methodik und Didaktik seien ebenso spezifisch ausgerichtet wie in den Waldorfschulen. Sowohl hinsichtlich des Bildungsziels und des pädagogischen Ansatzes als auch hinsichtlich des Bildungsinhalts, des Lehrplans, der täglichen Unterrichtsgestaltung sowie der Erziehungs- und Unterrichtsmethoden unterscheide sich die D. - Schule von herkömmlichen Sonderschulen. Gerade im Hinblick auf die Auswahl und die Anordnung des Lehrstoffes gehe die D. - Schule andere Wege. Dies ergebe sich aus dem Arbeitskonzept und dem Lehrplan der Schule. Eine besondere Ausprägung erhalte die Schule auch dadurch, dass sie als Tagesheimschule ausschließlich behinderte Kinder anspreche und auf der Pädagogik Rudolf Steiners basiere. Deshalb könne sie ebenso wie die Freien Waldorfschulen nicht dem Bildungsgang der im Niedersächsischen Schulgesetz aufgeführten allgemeinbildenden öffentlichen Schulen zugeordnet werden. Die besondere pädagogische Bedeutung bestehe nicht nur darin, dass es sich um eine Schule handele, die den Waldorflehrplan zu Grunde lege sondern auch darin, dass darüber hinaus Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Behinderungsarten gemeinsam unterrichtet würden.

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Die Klägerin beantragt,

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den Bescheid des Beklagten vom 12. Oktober 2000 und seinen Widerspruchsbescheid vom 8. November 2000 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, sie von ihrer Wohnung zur D. - Schule in E. und zurück zu befördern bzw. die Beförderungskosten für den vergangenen Zeitraum zu erstatten.

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Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Die in der D. - Schule angewandten Erziehungsgrundsätze wichen nicht so wesentlich von denen der Schule "G. " ab, dass von einem besonderen Bildungsgang gesprochen werden könne. Auch die  Schule "G. " in H. biete einen ganzheitlichen Ansatz und betreue die Kinder ganztags. Es werde projektbezogener Unterricht in ähnlich kleinen Gruppen wie an der D. - Schule geboten. Der Lehrplan gliedere sich in einen entwicklungsorientierten, einen handlungsorientierten und einen fachorientierten Lernbereich. Es würden nahezu alle Bereiche erfasst, die für die Weiterentwicklung der Schüler von Bedeutung seien. In der Abschlussklasse bereite man die Schüler schrittweise auf das Leben nach der Schule vor. Es erfolge eine Vermittlung von Werten wie "Ich  - Erfahrung", " Wohnen", "Freizeit", "Arbeit", "Beruf" und "Öffentlichkeit". Es würden vielfältige Arbeitsgemeinschaften und kleinere Ausflüge wie auch Klassenreisen angeboten. Die D. - Schule müsse als staatlich anerkannte Ersatzschule grundsätzlich in ihren Lern - und Erziehungszielen der öffentlichen Schule entsprechen. Das dem Bildungsgang beider Schulen zu Grunde liegende Konzept sei darauf ausgerichtet, den Anspruch auf Bildung und Erziehung zu erfüllen und gleichzeitig die Eingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Es seien vor allem Hilfestellungen bei der Bewältigung des Alltags zu leisten. Es begründe keinen eigenen Bildungsgang, wenn an der D. - Schule darüber hinaus individuelle Hilfe zur Förderung auf der Grundlage der Waldorfpädagogik angeboten werde.

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Im Übrigen seien die Kosten der Beförderung nur erstattungsfähig, wenn es sich um einen anderen Bildungsgang innerhalb derselben Schulform handele. Auf die Frage, ob ein anderer Bildungsgang vorliege, könne es deswegen nur ankommen, wenn die D. - Schule der gleichen Schulform angehöre, wie die Schule "G. ". Dies sei nicht der Fall. Die D. - Schule sei keine Sonderschule im Sinne von §§ 5, 14 NSchG, weil Waldorfschulen ganzheitliche schulische Einrichtungen von besonderer pädagogischer Bedeutung mit den Jahrgängen 1 - 12 bzw. bis 13 seien, bei denen eine innere schulformspezifische Differenzierung nicht vorliege. Die D. - Schule könne nicht gleichzeitig eine Sonderschule im Sinne des Niedersächsischen Schulgesetzes und eine Schule in der Schulform "Waldorfschule" sein. Nach niedersächsischem Recht gebe es keine Waldorfsonderschulen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die im Gerichtsverfahren gewechselten Schriftsätze und auf den beigezogenen Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin kann auf der Grundlage des § 141 Abs. 3 NSchG i.V. mit § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG von dem Beklagten die Beförderung zu der D. - Schule bzw. - für den Zeitraum bis April 2001 - die Erstattung der notwendigen Aufwendungen für die Beförderung verlangen.

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Nach § 114 Abs. 1 Satz 2 NSchG hat der Träger der Schülerbeförderung - hier: der Beklagte - u.a. Schüler der 1. bis 10. Schuljahrgänge der allgemeinbildenden Schulen, zu denen nach § 5 Abs. 2 Nr. 1 lit. i NSchG auch die Sonderschule zählt, unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern oder ihnen oder ihren Erziehungsberechtigten die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten. Diese Verpflichtung besteht allerdings lediglich für den Weg zu der nächsten Schule der von dem Schüler oder der Schülerin gewählten Schulform, die den von diesem verfolgten Bildungsgang anbietet (§ 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG). Die Bestimmungen des § 114 NSchG sind nach § 141 Abs. 3 NSchG auf die Schulen in freier Trägerschaft entsprechend anzuwenden. "Bildungsgang" im Sinne des Schülerbeförderungsrechts ist nach ständiger Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, die besondere fachliche Schwerpunktbildung in einem schulischen Angebot, die sich im Allgemeinen zugleich in einer besonderen Gestaltung des Abschlusses auswirkt (Urt. v. 30.11.1983 - 13 A 56/83 - NVwZ 1984, 812; Urt. v. 20.12.1995 - 13 L 7975/94 - m.w.N.).

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Soweit die D. - Schule Schüler und Schülerinnen mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich der geistigen Behinderung aufnimmt, bietet sie gegenüber der Schule "G. " in H. einen besonderen Bildungsgang im Sinne des § 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG. Die D. - Schule ist nach der Genehmigung der Bezirksregierung F. vom 29. September 2000 eine Ersatzschule in freier Trägerschaft (§ 142 NSchG) für Lernhilfe, Erziehungshilfe, geistig Behinderte und Körperbehinderte. Der Schulform nach ist sie damit ebenso wie die Schule "G. "  eine Sonderschule im Sinne des § 5 Abs. 2 Nr. 1 lit i NSchG. Ihrer Arbeit liegt die anthroposophische Heilpädagogik zu Grunde, eine erweiterte Form der Waldorfpädagogik, die auf der Menschenkunde Rudolf Steiners beruht (vgl. Konzeptionsentwurf der D. - Schule S. 2). Sie bietet u.a. entwicklungsbezogenen Unterrichtsstoff nach Rudolf Steiner. Der Hauptunterricht gliedert sich in drei Bereiche, in einen "rhythmischen Teil" einen "Lernteil" sowie einen "Erzählteil" und findet in Epochen statt. Angeboten werden die Fächer Lesen/Schreiben, Rechnen, Formenzeichnen, Heimatkunde/Naturkunde, Projekte wie Ackerbau, Handwerk, Hausbau (in der Unterstufe) künstl. u. technisches Zeichnen, Musik im Orchester, Chor, Theater Jahresreferat, Gartenbau, Werken ( in der Mittelstufe),  Feldmessen, Forsten, Landwirtschaft, Industrie-, Sozial-, Werkpraktika, Schauspiel, Kunstgeschichtliche Reise (in der Werkoberstufe).

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Damit ist die D. - Schule einer Freien Waldorfschule vergleichbar. Dabei geht die Begründung zum Entwurf des Fünften Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes davon aus, dass Freie Waldorfschulen auf Grund ihres pädagogischen Konzepts wie eine eigenständige Schulform anzusehen seien; auf ihre Schüler und Schülerinnen seien die Regelungen über die Schülerbeförderung anzuwenden (LT.Drs. 13/1938 S. 4). Nach der ständigen Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts stellen die Freien Waldorfschulen im Vergleich zu sonstigen Regelschulen einen eigenen Bildungsgang dar (vgl. statt vieler, Urt. v. 30.11.1983 - 13 A 56/83 - NVwZ 1984, 812).

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Allerdings legt auch die Schule für geistig Behinderte "G. " ihrer Arbeit den Grundsatz der Ganzheitlichkeit zu Grunde. Sie arbeitet nach dem Erlass des Nds. Kultusministerium vom 18.4.1989 "Die Arbeit in der Schule für Geistigbehinderte" (SVBl. S. 103). Dieser sieht u.a. vor, dass ganztags Unterricht  in Form von Projekten, Vorhaben, Kursen, Lehrgängen, Arbeitsgemeinschaften und speziellen Erlebnis - und Handlungseinheiten von unterschiedlicher Dauer erteilt wird. Jede Unterrichtsstunde enthält mehrere Lernbereichsteile, d.h. entwicklungsorientierte (Motorik, Wahrnehmung, Sprache, Denken), handlungsorientierte (z.B. Spielen, Technik, Freizeit, Soziale Beziehungen) und fachorientierte ( z.B. Musik, Rhythmik, Ästhetische Erziehung, Werken). Ebenso wie in der D. - Schule verbleiben die Schüler der Schule "G. " in ihrem Klassenverband, Versetzungen sind nicht vorgesehen, Zeugnisse werden in Form von Textzeugnissen erstellt. Einzelförderung  und Therapien unterstützen den Unterricht.

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Dennoch bietet die D. - Schule im Vergleich zu der Schule "G. " einen eigenen Bildungsgang. Die Orientierung der D. - Schule an der Menschenkunde Rudolf Steiners stellt nicht nur einen besonderen pädagogischen Ansatz dar sondern wirkt sich  organisatorisch und auch auf die Lerninhalte aus. So finden sich dort u.a. die Fächer "Formenzeichnen", "Eurythmie" und "Heileurythmie", die an der Schule "G. "  - wie auch an anderen öffentlichen Sonderschulen - nicht unterrichtet werden. Weiter findet an der D. - Schule - anders als an der Schule für geistig Behinderte "G. " - eine integrative Beschulung von Kindern mit verschiedenen Förderbedarfen in den Bereichen Lernhilfe, Erziehungshilfe, Körperbehinderte sowie von Kindern mit geistigen Behinderungen statt. Dabei ist anerkannt, dass die Sonderschulen der verschiedenen Behinderungsarten jeweils eigene Bildungsgänge bieten (Seyderhelm/Nagel, NSchG, § 59 Ziff. 2.1). Einen eigenständigen Bildungsgang stellt mithin auch der gemeinsame Unterricht von Schülern mit unterschiedlichen Arten der Behinderung nach einem einheitlichen Konzept dar, wie er  an der D. - Schule und an anderen heilpädagogischen Sonderschulen, die auf der Grundlage der Menschenkunde Rudolf Steiners arbeiten, praktiziert wird (so auch VG Hannover, Urt. v. 27.2.2002 - 6 A 5408/01 -; vgl. weiter VG Hannover Urt. v. 22.2.2002 - 6 A 2078/01 - ; Nds.OVG, Beschl. v. 15.8.1997 - 13 M 3217/97 -; Beschl. v. 17.12.1997 - 13 M 5013/97 - zu anderen anthroposophischen heilpädagogischen Schulen).

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Dies gilt auch mit Rücksicht auf den Umstand, dass es sich bei der D. - Schule um eine Ersatzschule im Sinne des § 142 NSchG handelt. Ersatzschulen entsprechen zwar in ihren Lern - und Erziehungszielen den öffentlichen Schulen. Dies allein rechtfertigt aber nicht den Schluss, es seien gleiche Bildungsgänge gegeben, weil auch öffentliche Schulen gleicher Schulformen unterschiedliche  Bildungsgänge anbieten können.