Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 10.06.1993, Az.: 1 L 562/92
Voraussetzungen; Mischgebiet; Gewerbliche Nutzung; Prägung; Vergnügungsstätten; Kerngebietstypisch
Bibliographie
- Gericht
- OVG Niedersachsen
- Datum
- 10.06.1993
- Aktenzeichen
- 1 L 562/92
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1993, 13630
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:OVGNI:1993:0610.1L562.92.0A
Rechtsgrundlage
- § 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO
Fundstellen
- BRS 1993, 175-176
- BRS 55 Nr 58
- NdsRpfl 1993, 307
Amtlicher Leitsatz
Zu den Voraussetzungen, unter denen ein Teil eines Mischgebietes überwiegend durch gewerbliche Nutzungen geprägt ist und daher Vergnügungsstätten zulässig sind, die nicht kerngebietstypisch sind.
Tenor:
Die Berufung der Beigeladenen gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stade - 2. Kammer Stade - vom 15. Oktober 1991 wird zurückgewiesen.
Die Beigeladene trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beigeladene darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der Kostenforderung abwenden, wenn nicht der jeweils Vollstreckende vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
Der Kläger, der Mieter eines im Erdgeschoß des Wohn- und Geschäftshauses ... Straße 23 in ... untergebrachten Ladens ist, begehrt die Erteilung eines Bauvorbescheides für die Nutzungsänderung dieser Geschäftsräume in eine Spielhalle.
Das 2 1/2-geschossige Gebäude liegt nördlich der Bremer Straße, einer stark befahrenen innerörtlichen Straße. Im Erdgeschoß sind insgesamt drei Läden untergebracht, und zwar im westlichen Bereich ein Sonnenstudio, das mittlere Ladengeschäft steht z.Zt. leer sowie im östlichen Bereich, einem Flachdachanbau, das für den Einbau der Spielhalle vorgesehene Ladengeschäft. In seiner Bauvoranfrage vom 10. April 1989 führte der Kläger an, daß er in den 93 qm großen Geschäftsräumen eine Spielhalle mit sechs Gewinnspiel-Automaten sowie weiteren elektronischen Spielautomaten und Billardtischen einbauen wolle. Nachdem die Beigeladene dazu ihr Einvernehmen nicht erteilt hatte, lehnte der Beklagte die Bauvoranfrage mit Bescheid vom 6. Dezember 1989 ab. Zur Begründung führte er an, daß sich die Eigenart der näheren Umgebung trotz der erheblichen Vorbelastung durch den Verkehrslärm als ein allgemeines Wohngebiet mit einer kleinteiligen Einzelhandels- bzw. Büronutzung darstelle. In dieser Umgebung sei die geplante Spielhalle mit 93 qm, die nach der Rechtsprechung des OVG Lüneburg mischgebietsverträglich sei, nicht zulässig. Mit seinem dagegen erhobenen Widerspruch vom 3. Januar 1990 wandte sich der Kläger vorrangig gegen die Bewertung des Baugebiets als allgemeines Wohngebiet. Wegen der Nähe zur Stadtmitte müsse eher von einem Kerngebiet, jedenfalls aber von einem Mischgebiet ausgegangen werden. In der unmittelbaren Nachbarschaft seien zahlreiche gewerbliche Betriebe vorhanden, die eine Bewertung als allgemeines Wohngebiet nicht mehr zuließen. In einem Mischgebiet sei die vorgesehene Spielhalle mit 93 qm und sechs Geldspielautomaten zulässig. Im Widerspruchsverfahren hat die Bezirksregierung Lüneburg eine Ortsbesichtigung vorgenommen. Sie ist nach einer detaillierten Bestandsaufnahme zu dem Ergebnis gekommen, daß gemäß § 34 Abs. 2 BauGB iVm § 6 BauNVO von einem Mischgebiet auszugehen sei und die Spielhalle wegen der auf der nördlichen Seite der ... Straße anzutreffenden überwiegenden gewerblichen Nutzung gemäß § 6 Abs. 2 Nr. 8 der inzwischen in Kraft getretenen BauNVO 1990 zulässig sei. Da die Beigeladene nach wie vor an der Versagung ihres Einvernehmens festhielt, wies die Bezirksregierung Lüneburg mit Bescheid vom 5. Juli 1990 den Widerspruch des Klägers allein unter dem Hinweis auf § 36 Abs. 1 BauGB zurück.
Der Kläger hat in seiner am 7. August 1990 erhobenen Klage daran festgehalten, daß wegen der vorhandenen gewerblichen Nutzung eine Einstufung als allgemeines Wohngebiet nicht zulässig sei. Unabhängig davon, ob von einem Kern- oder von einem Mischgebiet auszugehen sei, sei die nur eine Nutzfläche von 93 qm beanspruchende Spielhalle zulässig.
Der Kläger hat beantragt,
den Bauvorbescheid des Beklagten vom 6. Dezember 1989 sowie den Widerspruchsbescheid der Bezirksregierung Lüneburg vom 5. Juli 1990 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, ihm einen Bauvorbescheid dahingehend zu erteilen, daß der im Erdgeschoß des Hauses ... Straße 23 in ... außen rechts befindliche Laden als Spielhalle mit einer Nutzfläche von ca. 93 qm zum Betrieb von sechs Geldspielgeräten genutzt werden darf.
Der Beklagte hat beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er hat auf die von der Beigeladenen vorgenommene Gebietseinstufung mit der vorherrschenden Wohnnutzung verwiesen.
Die Beigeladene vertritt ergänzend die Auffassung, daß die Grenze der Mischgebietsverträglichkeit in einer Kleinstadt wie ... niedriger anzusetzen sei als in einer größeren bzw. einwohnerstärkeren Stadt. Unabhängig davon würde in der näheren Umgebung der vorgesehenen Spielhalle die Wohnnutzung überwiegen.
Mit Urteil vom 15. Oktober 1991 hat das Verwaltungsgericht nach Ortsbesichtigung durch die Kammer der Klage stattgegeben und den Beklagten verpflichtet, dem Kläger den beantragten Bauvorbescheid zu erteilen. Die Spielhalle sei gemäß § 34 Abs. 2 BauGB iVm § 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO 1990 zulässig. Auf der maßgeblichen Nordseite der ... Straße überwiege die gewerbliche Nutzung. Wegen der Begründung im einzelnen wird auf die verwaltungsgerichtlichen Ausführungen Bezug genommen.
Gegen das ihr am 6. Dezember 1991 zugestellte Urteil richtet sich die am 27. Dezember 1991 eingelegte Berufung der Beigeladenen. Sie trägt ergänzend vor: Sie wende sich nicht - mehr - dagegen, daß die im maßgeblichen Bereich vorhandene Bebauung ihrer Eigenart nach einem Mischgebiet i.S.d. § 6 BauNVO entspreche. Unzutreffend sei das Verwaltungsgericht aber davon ausgegangen, daß das vorhandene Mischgebiet überwiegend durch gewerbliche Nutzungen geprägt sei. Zum einen sei zu beanstanden, daß das Verwaltungsgericht die auf der Südseite der ... Straße anzutreffende Bebauung nicht mit in die Bewertung einbezogen habe. Zum anderen treffe es auch nicht zu, daß die gewerbliche Nutzung auf der Nordseite überwiege. Dies ergebe sich unschwer aus einer Gegenüberstellung der gewerblichen Nutzung zur Wohnnutzung (Bremer Straße Nr. 19: 112 qm zu 190 qm; Nr. 21: nur Wohnnutzung; Nr. 25: 53 qm zu 88 qm; Nr. 27: nur Wohnnutzung; Nr. 29/31: 230 qm zu 252 qm). Unabhängig davon werde die Spielhalle auch zu Störungen der Anwohner führen. Dies gelte jedenfalls für den Zeitraum nach 20.00 Uhr, wenn die verkehrliche Belastung zurückgegangen sei.
Die Beigeladene beantragt,
unter Änderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung der Beigeladenen zurückzuweisen.
Er bewertet die von weitgehend nicht überprüfbaren Quadratmeter-Angaben ausgehende Berechnung der Beigeladenen als unangemessen. Tatsächlich seien nahezu in allen Gebäuden nördlich der ... Straße gewerbliche Nutzungen untergebracht, teilweise sogar in den Obergeschossen.
Der Beklagte stellt keinen Antrag.
Der Senat hat das Grundstück ... Straße 23 und die nähere Umgebung in Augenschein genommen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 10. Juni 1993 Bezug genommen. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakten und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.
II.
Die zulässige die Berufung der Beigeladenen hat keinen Erfolg. Zu Recht hat das Verwaltungsgericht den Beklagten in dem angegriffenen Urteil verpflichtet, dem Kläger einen Bauvorbescheid für die Nutzungsänderung eines früheren Ladengeschäftes in dem Gebäude ... Straße 23 nunmehr in eine Spielhalle mit 93 qm Nutzfläche zu erteilen. Dieses Vorhaben entspricht dem öffentlichen Baurecht (§ 75 Abs. 1 NBauO).
Nachdem die Berufungsführerin im Berufungsverfahren entsprechend den konkreten örtlichen Gegebenheiten der Einsicht gefolgt ist, daß die Bebauung in der näheren Umgebung des Grundstücks ... Straße 23 als ein Mischgebiet iSd § 6 BauNVO einzustufen ist, stellt sich nunmehr nur noch die Frage, ob die Spielhalle als Vergnügungsstätte gemäß § 34 Abs. 2 BauGB iVm § 6 Abs. 2 Nr. 8 der inzwischen in Kraft getretenen BauNVO 1990 zulässig ist. Nach dieser Vorschrift sind Vergnügungsstätten, soweit sie nicht wegen ihrer Zweckbestimmung oder ihres Umfangs nur in Kerngebieten allgemein zulässig sind, in den Teilen des Gebietes zulässig, die überwiegend durch gewerbliche Nutzungen geprägt sind. Bei der zur Genehmigung gestellten Spielhalle mit der - relativ geringen - Nutzfläche von 93 qm handelt sich nicht um eine kerngebiets-, sondern um eine mischgebietstypische Spielhalle; nach der Rechtsprechung liegt die maßgebliche Schwelle bei 100 qm Nutzfläche (OVG Lüneburg, Urt. v. 11. 9. 1987 - 6 OVG A 139/86, NVwZ 1988, 1141 = BRS 47 Nr. 51; Urt. d. Sen. v. 14. 6. 1988 - 1 OVG A 31/87 -, Die Gemeinde 1988, 358).
Entscheidungserheblich ist daher die Feststellung, ob das Grundstück ... Straße 23 in einem Mischgebiet liegt, das "überwiegend" durch gewerbliche Nutzungen geprägt wird. Diese Frage ist mit dem Verwaltungsgericht zugunsten des Klägers zu beantworten.
Dabei bestimmt der Senat zunächst den maßgeblichen Rahmen der prägenden näheren Umgebung - wie schon das Verwaltungsgericht - auf die Bebauung nördlich der ... Straße. Die durchgeführte Ortsbesichtigung hat bestätigt, daß durch die stark befahrene ... Straße eine trennende Wirkung zwischen der südlich und nördlich liegenden Bebauung eintritt. Dieser Eindruck wird nicht nur durch die jedenfalls tagsüber starke Frequentierung dieser Straße erweckt, die nahezu ein gefahrloses Überqueren der Fahrbahn nicht zuließ, sondern auch durch die Breite der ... Straße und die sich unterschiedlich darstellende Bebauung (südlich der ... Straße eher eine aufgelockerte Bebauung mit überwiegender Wohnung, nördlich dagegen eine eher verdichtete Bebauung mit einem höheren Anteil von gewerblichen Nutzungen).
Der damit maßgebliche Rahmen auf der nördlichen Seite der ... Straße erstreckt sich nach den in der Beweisaufnahme festgestellten Örtlichkeit im Westen bis zum ...weg und im Osten bis zum nördlich abschwenkenden Kurvenverlauf der ... Straße. Dieser Bereich ist als ein Mischgebiet einzustufen, das "überwiegend" durch gewerbliche Nutzungen geprägt ist (§ 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO 1990). Objektive bzw. einheitliche Kriterien für die Annahme einer "überwiegenden Prägung" sind bislang - soweit ersichtlich - weder von der Rechtsprechung noch von der Literatur erarbeitet worden. So weisen Fickert/Fieseler (BauNVO, Kommentar, 7. Aufl. 1992, § 6 BauNVO RdNr. 16.2) auf die Nachteile etwa einer grundstücksbezogenen Betrachtung hin. Diese würde z.B. dann zu zweifelhaften Ergebnissen führen, wenn in den Erdgeschossen eines viergeschossigen Gebietsteiles ausschließlich gewerbliche Nutzungen, in den drei Obergeschossen dagegen nur Wohnungen vorhanden seien. Nach dieser grundstücksbezogenen Betrachtung würde zwar die gewerbliche Nutzung überwiegen (jedes Grundstück sei auch gewerblich genutzt), tatsächlich überwiege aber die Wohnnutzung mit 75 % der Geschoßfläche gegenüber nur 25 % der gewerblichen Geschoßfläche; sie "präge" auch diesen Gebietsteil. Dieser Bewertung ist zu folgen. Es ist mithin nach anderen Kriterien zu suchen. Nach Auffassung des Senates bietet sich eine Ausrichtung an den Geschoßflächen bzw. den Baumassen an, wobei - im Gegensatz zu der Quadratmeter-Betrachtung der Beigeladenen - allerdings eine pauschalere Bewertung zulässig bzw. geboten ist. Der Senat richtet dabei seine Bewertung an der Eigenart des Mischgebiets als Baugebietstyp aus. Mischgebiete sind dadurch gekennzeichnet, daß sie sowohl dem Wohnen als auch der Unterbringen von Gewerbebetrieben dienen sollen, die das Wohnen nicht wesentlich stören. Diese beiden Hauptnutzungsarten stehen dabei nicht in einem Rangverhältnis zueinander. Mischgebiete sind vielmehr nach ihrer typischen Eigenart sowohl für das Wohnen als auch für nicht störende Gewerbe gleichermaßen offen; sie sollen in diesen beiden Nutzungsarten auch in der Quantität "gemischt" sein. Bei der somit auch wesentlichen quantitativen Mischung kommt es nicht darauf an, daß die beiden Hauptnutzungsarten sich genau oder annähernd gleichen, insbesondere kann dabei nicht von wie auch immer rechnerisch zu bestimmenden Anteilen in dem jeweiligen Gebiet ausgegangen werden (zu dieser Betrachtung BVerwG, Urt. v. 4. 5. 1988 - 4 C 34.86 -, DVBl 1988, 848 = BVerwGE 79, 309). Ist etwa im Erdgeschoß eines Gebäudes eine gewerbliche Nutzung anzutreffen und im Obergeschoß eine etwa vergleichbare Wohnnutzung, so gleichen sich diese Nutzungen grundsätzlich gewissermaßen in dem Sinne aus, daß jedenfalls weder die gewerbliche noch die Wohnnutzung überwiegt. So ist auch die Untersuchung der Beigeladenen zu "genau", daß etwa im Haus Nr. 29/31 "nur" 230 qm gewerbliche Nutzung und dagegen 252 qm Wohnnutzung vorhanden seien, im Haus Nr. 19 112 qm zu 119 qm und im Haus Nr. 25 53 qm zu 88 qm. Vielmehr kommt es auf eine gewissermaßen saldierende Gesamtbewertung im hier maßgeblichen Bereich an. Von diesem Maßstab ausgehend "überwiegt" die gewerbliche Nutzung nördlich der ... Straße. Die Beweisaufnahme hat nicht nur ergeben, daß nahezu in jedem Gebäude - mit Ausnahme der Nr. 27 - eine gewerbliche Nutzung im Erdgeschoß untergebracht ist, sondern diese sich teilweise auch auf die Obergeschosse ausgedehnt hat. Gebietsprägend ist zusätzlich die Stadtbäckerei mit umfänglichen Gebäuden, die aufgrund ihrer jahrzehntelangen Produktion an dieser Stelle keineswegs, wie die Beigeladene meint, als nicht gebietsprägender Fremdkörper bei der Bewertung auszuscheiden hat. Diese gewerblichen Nutzungen überwiegen auch die vorhandene Wohnnutzung, so daß die Voraussetzungen des § 6 Abs. 2 Nr. 8 BauNVO damit erfüllt sind.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO iVm §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
Gründe, die Revision zuzulassen (§ 132 Abs. 2 VwGO), liegen nicht vor.
Beschluß
Der Wert des Streitgegenstandes für das Berufungsverfahren wird auf 27.900,-- DM (in Worten: siebenundzwanzigtausendneunhundert Deutsche Mark) festgesetzt.
Schmaltz
Richter am Oberverwaltungsgericht Dr. Bock hat Urlaub und ist daher an der Beifügung seiner Unterschrift gehindert.
Schmaltz
Dr. Jenke