Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 25.04.2018, Az.: 6 A 2801/17

Familien-Flüchtlingsschutz; familiäre Lebensgemeinschaft

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
25.04.2018
Aktenzeichen
6 A 2801/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 74156
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Familien-Flüchtlingsschutz für minderjähriges, lediges Kind auch ohne familiäre Lebensgemeinschaft mit dem als Flüchtling anerkannten Vater.

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger zu 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und den Bescheid vom H. aufzuheben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.

Soweit die Klage bezüglich der Klägerin zu 1) zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.

Kläger und Beklagte tragen die Kosten je zur Hälfte.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweiligen Vollstreckungsschuldner dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die jeweiligen Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die Kläger begehrten zunächst beide die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und hilfsweise die Zuerkennung subsidiären Schutzes.

Die I. geborene Klägerin zu1) und ihr J. geborener Sohn, der Kläger zu 2), sind irakische Staatsangehörige, kurdischer Volkszugehörigkeit und yezidischen Glaubens.

Sie reisten eigenen Angaben zufolge am K. mit einem Visum zum Zwecke der Familienzusammenführung in die Bundesrepublik Deutschland ein, nachdem ihrem damaligen Ehemann bzw. Vater mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) vom L. die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden war.

Die Kläger stellten zunächst keinen eigenen Asylantrag, sondern erhielten auf entsprechenden Antrag hin lediglich eine Aufenthaltserlaubnis.

Am M. stellten die Kläger einen Asylantrag und gaben zur Begründung im Wesentlichen Folgendes an: Sie kämen ursprünglich aus dem Ort N. in der Provinz O.. Dort hätten sie bis zu ihrer Ausreise gelebt. Ihr Ehmann bzw. Vater sei zwei Jahre vor ihnen ausgereist. Ihnen persönlich sei bis zu ihrer Ausreise nichts geschehen. Nunmehr hätten sie jedoch für den Fall ihrer Rückkehr Angst, in ihrer Heimat als Yeziden verfolgt zu werden. Die Klägerin zu 1) gab weiter an, mittlerweile von ihrem Ehemann getrennt zu leben.

Die Beklagte erkannte den Kläger mit Bescheid vom H. weder die Flüchtlingseigenschaft (Ziffer 1) noch subsidiären Schutz (Ziffer 2) zu. Sie stellte jedoch fest, dass für beide ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegt (Ziffer 3). Zur Begründung führte sie aus, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht vorlägen. Eine eigene Verfolgung hätten die Kläger selbst nicht behauptet. Eine konkrete Verfolgung oder Bedrohung durch den IS habe in O. nie bestanden. Die Zuerkennung subsidiären Schutzes scheide ebenfalls aus. In den kurdisch kontrollierten Gebieten des Nordiraks bestehe kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt. Auch sonst habe ihr kein ernsthafter Schaden gedroht. Aufgrund ihrer persönlichen Situation als getrenntlebende Frau mit einem minderjährigen Kind liege jedoch ein Abschiebungsverbot vor.

Die Kläger haben am P. Klage erhoben, zu deren Begründung sie vortragen, sie hätten Anspruch auf Familien-Flüchtlingsanerkennung, da ihr Ehemann bzw. Vater als Flüchtling anerkannt worden sei. Die Ehe sei zwar inzwischen geschieden worden, aber die Klägerin zu 1) übe mit ihrem Ehemann gemeinsam das Sorgerecht für den Kläger zu 2) aus, welcher auch regelmäßigen Kontakt zu seinem Vater habe.

Im Termin der mündlichen Verhandlung wurde die Klage bezüglich der Klägerin zu 1) zurückgenommen.

Der Kläger zu 2) beantragt nunmehr,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides von H. zu verpflichten, ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen und

hilfsweise ihm subsidiären Schutz zuzuerkennen.

Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf ihre angefochtene Entscheidung,

die Klage abzuweisen.

Sie führt weiter aus, eine Familien-Flüchtlingsanerkennung setzt eine noch bestehende Familieneinheit voraus, welche vorliegend nicht gegeben sei, da die Kläger in A-Stadt und der Ehemann bzw. Vater in Q. leben würde.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen. Diese sind ebenso wie die in der Ladung genannten Erkenntnismittel Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung ergeht durch die Berichterstatterin als Einzelrichterin, der die Kammer den Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen hat (§ 76 Abs. 1 AsylG). Sie kann trotz Ausbleibens der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung ergehen, weil diese form- und fristgerecht geladen worden sind und in der Ladung darauf hingewiesen wurde, dass auch im Fall des Ausbleibens eines Beteiligten verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Das Verfahren ist gem. § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen, soweit die Klage bezüglich der Klägerin zu 1) zurückgenommen wurde.

Die Klage hat mit dem noch aufrecht erhaltenen Antrag bezüglich des Klägers zu 2) Erfolg. Die zulässige Klage ist hinsichtlich des Klägers zu 2) begründet. Der Kläger zu 2) hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid der Beklagten ist insoweit rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§113 Abs. 5 VwGO).

Der Kläger zu 2) erfüllt die Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 und Abs. 5 AsylG, da er ein minderjähriges Kind ist, dessen Vater durch Bescheid vom 02.06.2009 unanfechtbar als Flüchtling anerkannt worden ist. Anhaltspunkte dafür, dass diese Anerkennung zu widerrufen oder zurückzunehmen ist, sind nicht ersichtlich und wurden von der Beklagten nicht vorgetragen. Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es auch nicht erforderlich, dass der Kläger zu 2) derzeit mit seinem Vater in einer familiären Lebensgemeinschaft lebt. Der Wortlaut des § 26 Abs. 2 AsylG verlangt dies nicht. Abzustellen ist allein auf die Beziehung als leibliches Kind. Diese liegt unstreitig vor (vgl: BeckOK AuslR/Günther AsylG § 26 Rn. 20).

Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.