Landessozialgericht Niedersachsen
Urt. v. 20.02.2001, Az.: L 8 KG 5/00 3
Anspruch auf Kindergeld für sich selbst bei Ikognito-Adaption; Überprüfbarkeit von Ermessensentscheidungen höherer gerichtlicher Instanzen; Notwendige Beiladung gemäß § 75 Abs. 2 SGG; Anforderungen an den Erhalt von Kindergeld nach § 1 Abs. 2 Satz 1 BKGG; Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen
- Datum
- 20.02.2001
- Aktenzeichen
- L 8 KG 5/00 3
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2001, 25203
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2001:0220.L8KG5.00.3.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 15.02.2000 - S 4 KG 22/98
Rechtsgrundlagen
- § 1 Abs. 2 BKGG
- § 2 Abs. 1 Nr 2 BKGG
- § 15 BKGG
- § 75 Abs. 2 SGG
- § 1758 Abs. 1 BGB
Prozessführer
B.
Prozessgegner
Bundesanstalt für Arbeit in Nürnberg, vertreten durch den Präsidenten des Landesarbeitsamtes Bayern,Regensburger Straße 100, 90478 Nürnberg,
Der 8. Senat des Landessozialgerichts Niedersachsen in Celle
hat auf die mündliche Verhandlung
vom 20. Februar 2001
durch die Richter
D. - Vorsitzender -, E. und F.
sowie die ehrenamtlichen Richter G. und H.
für Recht erkannt:
Tenor:
Das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Februar 2000 wird mit der Maßgabe abgeändert, dass die Beklagte verurteilt wird, der Klägerin Kindergeld für sich selbst für den Zeitraum von August 1997 bis Juni 1999 zu zahlen.
Im Übrigen wird die Berufung der Beklagten zurückgewiesen.
Die Beklagte hat auch die zweitinstanzlichen außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von August 1997 bis Juni 1999 Kindergeld (Kg) für sich selbst (§ 1 Abs 2 Bundeskindergeldgesetz - BKGG -). Streitig ist allein die Frage, ob die Klägerin so behandelt werden darf, als ob sie den Aufenthalt ihrer Mutter kennen würde.
Die Klägerin wurde am 14. Dezember 1975 geboren und bereits am 15. Oktober 1976 als Pflegekind in den Haushalt der Eheleute J. untergebracht. Diese Vermittlung erfolgte inkognito, sodass der leiblichen Mutter der Aufenthaltsort der Klägerin nicht bekannt ist. Die Vaterschaft für die Klägerin wurde bislang nicht festgestellt. Im Alter von ca 10 Jahren erfolgte eine Namensänderung, jedoch keine Adoption. Allerdings herrschte nach Auskunft des Jugendamtes der Stadt K., welches bis zur Volljährigkeit der Klägerin ihr Vormund war, zwischen der Klägerin und den Pflegeeltern von Anfang an ein Quasi-Adoptionsverhältnis. Kontakte zur leiblichen Mutter gab es zu keinem Zeitpunkt.
Am 22. Februar 1997 verstarb die Pflegemutter. Der Pflegevater, der bis Juli 1997 Kg für die Klägerin bezog, kehrte im Laufe des Monats Juli 1997 endgültig nach Italien zurück. Spätestens seit dem 1. August 1997 führte die Klägerin allein einen eigenen Haushalt und erhielt von ihrem Pflegevater keinen Unterhalt mehr.
Am 4. Mai 1998 beantragte die Klägerin die Gewährung von Kg für sich selbst. Sie befand sich seit dem 15. Oktober 1996 in einer Berufausbildung zur Bürokauffrau, die am 24. Juni 1999 endete. Sie erhielt im ersten Ausbildungsjahr eine Ausbildungsvergütung von 500,00 DM, im zweiten Ausbildungsjahr eine solche von 525,00 DM und im dritten Ausbildungsjahr eine Ausbildungsvergütung von 551,25 DM. Gleichzeitig bezog die Klägerin von der Beklagten Berufsausbildungsbeihilfe in unterschiedlichen Höhen zwischen 350,00 DM bis höchstens 458,00 DM monatlich. Weitere Einkünfte hatte die Klägerin nicht.
Im Verwaltungsverfahren bat die Beklagte die Stadt K. um Mitteilung der Namen und Anschriften der leiblichen Eltern der Klägerin. Unter dem 4. August 1998 teilte die Stadt K. - Jugendamt - der Beklagten den Namen und die Adresse der Mutter der Klägerin mit. Zugleich wurde darauf hingewiesen, dass der Kindesmutter der Aufenthalt der Klägerin unbekannt ist, da sie inkognito untergebracht worden war. Es wurde um entsprechende Berücksichtigung gebeten.
Mit Bescheid vom 4. September 1998 lehnte die Beklagte den Antrag auf Kg-Zahlung ab mit der Begründung, der Aufenthalt der Mutter sei bekannt. Hiergegen erhob die Klägerin Widerspruch und trug vor, niemals Kontakt zu ihrer Mutter gehabt zu haben und deshalb auch deren Aufenthaltsort nicht zu kennen.
Das Widerspruchsverfahren blieb erfolglos. Im Widerspruchsbescheid vom 24. November 1998 führte die Beklagte aus, die Anspruchsvoraussetzungen des § 1 Abs 2 BKGG lägen nicht vor, weil die genaue Anschrift der Kindesmutter bekannt sei. Die Gesetzesformulierung "den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt” bedeute, dass aus objektiver Sicht der Aufenthalt nicht zu ermitteln sein müsse. Auf die subjektive Nichtkenntnis der Klägerin komme es dabei nicht an.
Die am 21. Dezember 1998 erhobene Klage führte zur Aufhebung des angefochtenen Bescheides sowie zur Verurteilung der Beklagten zur Zahlung von Kg an die Klägerin dem Grunde nach ab 1. August 1997 (Urteil des Sozialgerichts - SG - Braunschweig vom 15. Februar 2000). Nach Auffassung des SG sei der Gesetzeswortlaut eindeutig subjektiv ausgerichtet und stelle auf die Nichtkenntnis des das Kg beanspruchenden Kindes ab. Die Klägerin habe keine Kenntnis vom Aufenthaltsort der Mutter, auch wenn dieser der Beklagten bekannt sei. Es könne nicht von einer missbräuchlichen Nichtkenntnis der Klägerin gesprochen werden, da es der Klägerin angesichts ihrer gesamten Lebensumstände nicht zumutbar sei, sich mit ihrer Mutter in Verbindung zu setzen, um über diesen Weg Kg zu bekommen. Es müsse akzeptiert werden, wenn die Klägerin nach mehr als 20 Jahren den Kontakt nicht wiederherstellen wolle. Eine ungewünschte Kontaktaufnahme wäre in seiner solchen Situation mit psychischen Belastungen unvorhersehbaren Ausmaßes verbunden, die in keinem Verhältnis mit dem positiven Effekt der Erlangung von Kg stünden.
Gegen das am 13. März 2000 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 13. April 2000 Berufung eingelegt. Sie bemängelt, dass das SG die weiteren Anspruchsvoraussetzungen nicht geprüft und die Klageforderung zeitlich unbefristet zugesprochen habe. Die Erwägungen des SG, der Klägerin seien Nachforschungen in Bezug auf den Aufenthaltsort der Mutter nicht zumutbar, auch wenn dieser leicht zu ermitteln sei, ließen sich nicht mit der Intention des Gesetzgebers vereinbaren. Von der gesetzlichen Ausnahmeregelung seien jene Fälle nicht erfasst, in denen die Kinder den Kontakt nicht herstellen wollen und für das betreffende Kind eine Kontaktaufnahme oder Ermittlung des Aufenthalts nach subjektivem Empfinden unzumutbar erscheine.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Braunschweig vom 15. Februar 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Klägerin erwidert, es könne nicht darauf abgestellt werden, ob die Beklagte die Adresse der Mutter kenne. Denn andernfalls müsse es die logische Konsequenz sein, dass das Kg an die Mutter auszuzahlen wäre und diese es an die Klägerin weiterzuleiten habe. Die Klägerin wünsche jedoch keinen Kontakt zur Mutter.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Prozessakte sowie auf die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen. Diese waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung. Der Senat hat die Klägerin persönlich angehört.
Entscheidungsgründe
Die gemäß § 144 Abs 1 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte und auch sonst zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Zu Recht hat das SG der Klage stattgegeben. Der Klägerin steht von August 1997 bis Juni 1999 Kg für sich selbst zu.
Streitgegenstand sind Leistungen nach dem BKGG idF der Bekanntmachung vom 23. Januar 1997 (BGBl I S 46), für die der Rechtsweg zu den Sozialgerichten gegeben ist (§ 15 BKGG). Richtige Verfahrensart ist die kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs 4 SGG), über die das SG in erster Instanz durch Grundurteil gemäß § 130 SGG entschieden hat. Die Entscheidung darüber, ob eine Verurteilung dem Grunde nach oder zur bezifferten Leistung erfolgen soll, liegt im Ermessen des erstinstanzlichen Gerichtes. Diese Ermessensentscheidung ist in einer höheren Instanz nicht überprüfbar (BSG SozR § 130 Nr 1). Lediglich zur Klarstellung hat der Senat im Urteilstenor festgelegt, bis wann die begehrte Leistung zu zahlen ist.
Die leibliche Mutter der Klägerin war nicht gemäß § 75 Abs 2 SGG an dem Verfahren notwendig beizuladen. Zwar würde sie einen Anspruch auf Kg haben, weil die Klägerin ihr leibliches Kind ist und im Falle des Obsiegens durch die Klägerin ihre Mutter kein Kg mehr beanspruchen könne, weil gemäß § 3 Abs 1 BKGG für jedes Kind nur einer Person Kg gewährt werden kann. Im vorliegenden Fall ist die Mutter jedoch nicht durch die gerichtliche Entscheidung betroffen, sondern bereits durch die Tatsache, dass Name und Aufenthalt der Tochter ihr auf Grund der seinerzeitigen anonymen Vermittlung unbekannt geblieben sind. Nicht durch die gerichtliche Entscheidung, sondern durch die seinerzeitige anonyme Pflegschaft wird die Mutter nachteilig betroffen. Sinn und Zweck der notwendigen Beiladung nach § 75 Abs 2 SGG verlangen daher nicht die Beiladung der Kindesmutter, zudem das Recht der Klägerin auf Unkenntnis ihrer leiblichen Abstammung dadurch irreparabel vernichtet wäre.
Rechtsgrundlage für das streitige Kg ist § 1 Abs 2 Satz 1 BKGG. Danach erhält Kg für sich selbst, wer
1. in Deutschland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat,
2. Vollwaise ist oder den Aufenthalt seiner Eltern nicht kennt und
3. nicht bei einer anderen Person als Kind zu berücksichtigen ist.
§ 2 Abs 2 und 3 sowie §§ 4 und 5 BKGG sind entsprechend anzuwenden (§ 1 Abs 2 Satz 2 BKGG). Diese Voraussetzungen sind im Falle der Klägerin erfüllt.
Die Klägerin hat ihren Wohnsitz in Deutschland und ist bei einer anderen Person als Kind nicht zu berücksichtigen. Ihr Pflegevater lebt spätestens seit August 1997 in Italien und nicht mehr in dem selben Haushalt mit der Klägerin. Er kann bereits nach nationalem Recht für die Klägerin kein Kg verlangen (§ 2 Abs 1 Nr 2 BKGG), sodass es auf die Regelung im koordinierenden europäischen Sozialrecht (Art 77 EWG-VO 1408/71) nicht ankommt. Auch eine Berücksichtigung der Klägerin als Kind bei ihrer leiblichen Mutter scheidet aus. Der Mutter ist die Existenz der Klägerin sowie deren Eintritt in ein Berufsausbildungsverhältnis nicht bekannt. Der Anspruchsausschluss des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG will - entsprechend dem Ausnahmecharakter der Regelung über das Kg für alleinstehende Kinder - nur klarstellen, dass das Kind nicht bei einem anderen Berechtigten vorrangig zu berücksichtigen wäre. Ein tatsächlicher Bezug des Kindergeldes bei einem anderen Berechtigten ist zwar nicht erforderlich. Die negative Anspruchsvoraussetzung der hier maßgeblichen Vorschrift stellt aber auf die Realisierbarkeit des Kg-Bezuges bei einem Dritten ab. Das trifft auf die Mutter der Klägerin nicht zu.
Des Weiteren kennt die Klägerin nicht den Aufenthalt ihrer Eltern. Der Vater ist unbekannt, weil eine Vaterschaftsfeststellung nicht erfolgt ist. Auch kennt die Klägerin nicht ihre Mutter und deren Aufenthaltsort, weil sie im Säuglingsalter zu Pflegeeltern inkognito vermittelt wurde und seitdem keinerlei Kontakt zur Mutter bestand. Der Name der Klägerin wurde geändert und der Nachname der Pflegeeltern angenommen. Unerheblich ist es, dass die Beklagte den Namen und die Adresse der Mutter vom Jugendamt in Erfahrung gebracht hat. Entscheidend bei der Auslegung des § 1 Abs 2 Satz 1 Nr 2 BKGG ist allein die subjektive Kenntnis der Klägerin und nicht die Kenntnis der Beklagten bzw anderer Personen.
Die subjektive Ausrichtung des § 1 Abs 2 BKGG ergibt sich aus dem Wortlaut, der eindeutig nur auf die Nichtkenntnis des Kindes abstellt (BSG SozR 3-5870 § 1 Nr 1). Hätte der Gesetzgeber gewollt, dass bereits die objektive Nichtkenntnis maßgeblich sein sollte, so hätte er dies ohne Probleme im Wortlaut zum Ausdruck bringen können und müssen. Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich nichts Anderes. Insbesondere ist nicht der Begriff der Verschollenheit aus dem Verschollenheitsgesetz heranzuziehen, da es sich bei der Zahlung von Kg nicht um eine Leistung an Hinterbliebene handelt. Intention des Gesetzgebers war es vielmehr, dass allgemein in Fällen, in denen kein Leistungsberechtigter für das Kind vorhanden ist, der Kg-Anspruch nicht verloren gehen sollte (BSG, aaO).
Allerdings könnte die Klägerin ohne Weiteres den Namen und die Adresse der Mutter in Erfahrung bringen, in dem sie Akteneinsicht beantragt oder eine Auskunft des Jugendamtes einholt. Bislang hat die Klägerin dies unterlassen und erklärt, dass sie keinerlei Kontakt zu ihrer Mutter wünscht, weil sie bereits als Säugling zu Pflegeeltern gekommen ist und zu diesen ein elternähnliches Verhältnis entwickelt hat. In diesem Verhalten kann kein Vorwurf an die Klägerin gesehen werden, dass sie vorsätzlich bzw grob fahrlässig die Nichtkenntnis verursacht hat, die dann der Kenntnis gleichzusetzen wäre (vgl BSG, aaO, das diese Möglichkeit offen gelassen hatte). Vielmehr hält es der Senat für unzumutbar, dass die Klägerin allein zum Zwecke der Kg-Erlangung Kontakt zur Mutter aufnehmen müsste. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Klägerin bereits als Säugling zu ihren Pflegeeltern gegeben wurde und sogar deren Nachnamen angenommen hat. Obwohl es nicht zur Adoption kam, war das Verhältnis zwischen der Klägerin und den Pflegeeltern elternähnlich. Ein Kontakt zur Kindesmutter ist bis heute nicht erfolgt. Das steht für den Senat nach der persönlichen Anhörung der Klägerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 20. Februar 2001 fest.
Vor diesem Hintergrund ist der Wunsch der Klägerin, keinen Kontakt zur Mutter aufzunehmen, zu respektieren. Die aufgedrängte Kenntnis würde gegen ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht aus Art 2 Abs 1 iVm Art 1 Abs 1 Grundgesetz (GG) verstoßen. Insoweit ist anerkannt, dass ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abzuleiten ist (ausführlich dazu: Dieter Giesen, Genetische Abstammung und Recht, JZ 1989, 364-377). Das Recht der freien Entfaltung der Persönlichkeit und die Menschenwürde sichern jedem Einzelnen einen autonomen Bereich privater Lebensgestaltung, in dem er seine Individualität entwickeln und wahren kann (BVerfGE 35, 202, 220 [BVerfG 05.06.1973 - 1 BvR 536/72]; 79, 256, 268) [BVerfG 31.01.1989 - 1 BvL 17/87]. Die Entwicklung der Individualität wird maßgeblich von der Kenntnis bzw Nichtkenntnis der eigenen Abstammung beeinflusst; diese prägt die Persönlichkeit und nimmt im Bewusstsein des Einzelnen eine Schlüsselstellung zur Individualitätsfindung und Selbstverständnis ein (BVerfGE 79, 256, 270) [BVerfG 31.01.1989 - 1 BvL 17/87]. Wenn aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht sich ein Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung ergibt, so muss dies auch für das Gegenteil gelten, wenn das Kind gerade ausdrücklich keine Kenntnis wünscht. Die Klägerin allein muss entscheiden können, inwieweit sie sich in der Lage sieht, Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter aufzunehmen. Ist sie der Ansicht, ihr Leben ohne Kenntnis ihrer Abstammung verbringen zu wollen, so ist dieser Entschluss ebenfalls Gegenstand ihrer Individualitätsfindung. Denn auch die bewusst nicht gewollte Kenntnis der Abstammung prägt die Persönlichkeit des Einzelnen. In diesen Fällen ist die Identitätsfindung bereits abgeschlossen oder soll jedenfalls nicht von der Kenntnis der Abstammung abhängig gemacht werden.
Hinzu kommt, dass durch eine aufgedrängte Kenntnis es der Klägerin abverlangt würde, sich mit einem Kapitel ihrer Vergangenheit auseinander zu setzen, an das sie keine Erinnerung hat. Vielmehr sind ihre Kindheits- und Jugenderlebnisse fest mit ihren Pflegeeltern verbunden. Diese Kindheitserinnerungen könnten durch die aufgedrängte Kenntnis erschüttert werden, wenn sich die Klägerin entgegen ihrem Willen mit ihrer genetischen Abstammung beschäftigen müsste. Gerade dieses Recht auf Nichtkenntnis der biologischen Abstammung wollte der Gesetzgeber mit der Anerkennung der Inkognito-Adoption in § 1758 Abs 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) schützen (BT-Drucksache 7/3061 S 38). Daran kann auch der Umstand nichts ändern, dass im Falle der Heirat die Klägerin sich eine Abstammungsurkunde zur Vorlage beim Standesamt besorgen müsste (§ 5 Abs 1 Personenstandsgesetz) aus der - anders als bei der Geburtsurkunde - der Name der leiblichen Mutter ersichtlich sein wird. Entscheidend ist die Gestaltung des Persönlichkeitsrechts im Streitzeitraum.
Das hier gewonnene Ergebnis wird durch Sinn und Zweck der Regelung in § 1 Abs 2 BKGG bestätigt. Bis Ende 1985 stand Kg ausschließlich den Eltern zu. Erst mit Wirkung vom 1. Januar 1986 wurde durch das BKGG-Änderungsgesetz vom 27. Juni 1985 (BGBl I S 1251) den sog allein stehenden Kindern zur Abdeckung eines aktuellen Bedarfs ein eigener Anspruch auf Kg eingeräumt (vgl BT-Drucksache 10/2563 S 3). Diese Regelung wurde - anders als beim steuerrechtlichen Kg nach §§ 62 ff Einkommenssteuergesetz (EStG) - zur Vermeidung sozialer Härten in das neue BKGGübertragen. Denn Vollwaisen und Kindern, die den Aufenthaltsort ihrer Eltern nicht kennen, kann neben der steuerlichen Freistellung ihres Existenzminimums durch den Grundfreibetrag nicht zusätzlich ein Kinderfreibetrag oder eine Steuervergünstigung für sich selbst gewährt werden (vgl BT-Drucksache 13/1558 S 163). Die Gewährung eines eigenen Anspruchs bei Tod oder bei Unkenntnis über den Aufenthalt der Eltern soll gerade ausschließen, dass eine zusätzliche finanzielle Verschlechterung durch den Wegfall des Kg eintritt. Diese Bedarfslage besteht im Falle der Klägerin nach Rückkehr ihres Pflegevaters nach Italien und nach Wegfall seiner Unterhaltsleistungen ab August 1997 für die Dauer der Berufsausbildung unverändert fort.
Die weiteren Anspruchsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt. Die Klägerin hat in dem Streitzeitraum noch nicht das 27. Lebensjahr vollendet und stand in einem Berufsausbildungsverhältnis (§§ 2 Abs 2 Satz 1 Nr 4, Abs 3 Satz 1 BKGG). Die maßgeblichen Einkommensgrenzen des § 2 Abs 2 Satz 2 iVm § 20 Abs 2 BKGG (im Jahre 1997 12.000,00 DM, ab 1. Januar 1998 12.360,00 DM und ab 1. Januar 1999 13.020,00 DM) sind bei der jeweiligen Zusammenrechnung der Ausbildungsvergütung mit der Berufausbildungsbeihilfe nicht überschritten. Gemäß § 5 BKGG wird das Kg von Beginn des Monats an, in dem die Anspruchsvoraussetzungen erfüllt sind, gezahlt und endet mit dem Ende des Monats, in dem die Anspruchsvoraussetzungen wegfallen. Die Klägerin wohnt seit Juli 1997 in ihrer eigenen Wohnung, weil ihr Pflegevater in diesem Monat nach Italien zurückgekehrt ist. Allerdings hat für den Monat Juli 1997 noch der Pflegevater das Kg erhalten, sodass die Anspruchsvoraussetzungen für die Klägerin erst ab dem Monat August 1997 vorliegen. Am 24. Juni 1999 hat die Klägerin ihre Ausbildung beendet und die Kg-Zahlung endet mit dem Monat Juni 1999. Antragausschlussfristen (früher: § 5 Abs 2 BKGG aF) sind gemäß § 20 Abs 3 BKGG (eingefügt durch das 1. SGB III-Änderungsgesetz vom 16. Dezember 1997 - BGBl I S 2970 - in Kraft ab 1. Januar 1998) ab 1. Juli 1997 nicht mehr einzuhalten.
Die Kostenentscheidung beruht auf der Anwendung des § 193 SGG. Die Beklagte hat der Klägerin ihre Kosten zu erstatten, weil die Berufung im Ergebnis erfolglos geblieben ist.