Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 05.06.2023, Az.: 4 B 87/23

Erste Staatsprüfung; Erstes Staatsexamen; Kein Anordnungsgrund; Pflichtfachprüfung; Vorwegnahme der Hauptsache; Kein Anordnungsgrund für die Verpflichtung der Behörde zur Neubeurteilung/Überdenkung von Prüfungsergebnissen der Ersten (juristischen) Prüfung im Wege der einstweiligen Anordnung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
05.06.2023
Aktenzeichen
4 B 87/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 21095
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:0605.4B87.23.00

Amtlicher Leitsatz

Keine unzumutbare Beeinträchtigung beruflicher Entwicklungsmöglichkeiten bei Vorenthaltung einer besseren Note in der Pflichtfachprüfung. Die zum Abschluss des rechtswissenschaftlichen Studiums abzulegende Prüfung, die vor der Reform des Jurastudiums im Jahr 2003 offiziell als Erste Staatsprüfung und im allgemeinen Sprachgebrauch als Erstes Staatsexamen bezeichnet wurde, wird auch nach der Studienreform und seitdem sie den offiziellen Titel Erste Prüfung trägt, im allgemeinen Sprachgebrauch weiterhin als Erstes Staatsexamen bezeichnet.

Gründe

Die Anträge des Antragstellers,

der Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung aufzugeben,

hinsichtlich der mündlichen Prüfung:

  • nochmalige Überdenkung durch den bisherigen Prüfungsausschuss ohne bisher vorhandene Beurteilungsfehler,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch den bisherigen Prüfungsausschuss ohne bisher vorhandene Beurteilungsfehler,

hinsichtlich der Anpassung der Gesamtnote gem. § 12 Abs. 5 NJAG:

  • Entscheidung eines neuen Prüfungsausschusses nach dessen Sichtung der Prüfungsakte,

  • hilfsweise erneute Entscheidung über das Eingreifen des § 12 Abs. 5 NJAG durch den bisherigen Prüfungsausschuss ohne bisher vorhandene Rechtsfehler,

hinsichtlich der Klausur Zivilrecht I:

  • Ermöglichung erneuter Teilnahme an einer Zivilrechtsklausur mit dem gem. § 16 Abs. 1 und 4 NJAVO in der Fassung vom 11.09.2009 geltenden Prüfungsstoff,

hinsichtlich der Klausur Zivilrecht II:

  • Neubeurteilung durch zwei neue Prüfer,

  • hilfsweise nochmalige Überdenkung durch den bisherigen Erstprüfer, sowie Neubeurteilung durch einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch den bisherigen Erstprüfer und einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise nochmalige Überdenkung durch die bisherigen Prüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch die bisherigen Prüfer,

hinsichtlich der Klausur Öffentliches Recht I:

  • nochmalige Überdenkung durch den bisherigen Erstprüfer, sowie Neubeurteilung durch einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch den bisherigen Erstprüfer und einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise nochmalige Überdenkung durch die bisherigen Prüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch die bisherigen Prüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch zwei neue Prüfer,

hinsichtlich der Klausur Öffentliches Recht II:

  • Neubeurteilung durch zwei neue Prüfer,

  • hilfsweise nochmalige Überdenkung durch den bisherigen Erstprüfer, sowie Neubeurteilung durch einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch den bisherigen Erstprüfer und einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise nochmalige Überdenkung durch die bisherigen Prüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch die bisherigen Prüfer,

hinsichtlich der Strafrechtsklausur:

  • Neubeurteilung durch zwei neue Prüfer,

  • hilfsweise nochmalige Überdenkung durch den bisherigen Erstprüfer, sowie Neubeurteilung durch einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch den bisherigen Erstprüfer und einen neuen Zweitprüfer,

  • hilfsweise nochmalige Überdenkung durch die bisherigen Prüfer,

  • hilfsweise Neubeurteilung durch die bisherigen Prüfer,

haben keinen Erfolg.

Die Anträge sind zulässig.

Der Antragsteller verfügt auch über das notwendige Rechtsschutzinteresse. Er hat gegen das ihm mit Schreiben vom 07.03.2022 übersandte Zeugnis über die Pflichtfachprüfung am 15.03.2022 Widerspruch eingelegt (vgl. §§ 68 Abs. 1 VwGO, 13 Abs. 5 NJAG). Den Widerspruch hat der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 09.01.2023, dem Antragsteller zugestellt am 10.01.2023, überwiegend zurückgewiesen. Hiergegen hat der Antragsteller fristgerecht am 10.02.2023 Klage (4 A 44/23) erhoben, sodass der Widerspruchsbescheid nicht bestandskräftig ist. Dies gilt auch hinsichtlich der Einwendungen des Antragstellers betreffend die Zivilrechtsklausur I. Der Antragsteller hat mit seinem Widerspruchsschreiben vom 14.03.2022 auch die Bewertung dieser Klausur angegriffen, denn er hat vollumfänglich und uneingeschränkt Widerspruch gegen die "Prüfungsentscheidung vom 07.03.2022" eingelegt (s. S. 26 Prüfungsakte, Beiakte 001). Dabei dürfte mit der "Prüfungsentscheidung vom 07.03.2022" das Zeugnis über die Pflichtfachprüfung vom 08.03.2022 gemeint sein (s. S. 21 Prüfungsakte, Beiakte 001). Bei der falschen Datumsangabe "07.03.2022" - anstatt "08.03.2022" - handelt es sich offensichtlich um ein Versehen. In seinem Schreiben vom 01.08.2022 an den Antragsgegner hat der Antragsteller seinen Widerspruch betreffend die Zivilrechtsklausur I näher konkretisiert. Er hat dort zu Punkt D. § 12 V NJAG ausgeführt, der Ausreißer bei dieser Klausur mit einer Bewertung von lediglich zwei Punkten sei darauf zurückzuführen, dass er für die Bearbeitung der Klausur besonders viel Zeit benötigt habe, um sich daran zu gewöhnen, dass im Klausursaal wegen des extremen, zwecks Infektionsschutzes erfolgten Lüftens eine stark unterdurchschnittliche Temperatur mit Windböen geherrscht habe (s. S. 145 Prüfungsakte, Beiakte 001). Unerheblich ist, dass der Antragsgegner auf die Zivilrechtsklausur I in seinem Widerspruchsbescheid nicht eingegangen ist. Dies ändert nichts daran, dass der Widerspruch auch insoweit wirksam eingelegt wurde, was vom Antragsgegner auch nicht in Frage gestellt wird. Vielmehr hat dieser sich im vorliegenden Verfahren in seinem Schriftsatz vom 23.05.2023 inhaltlich zu den äußeren Umständen der Zivilrechtsklausur I geäußert und den diesbezüglichen Einwand des Antragstellers verworfen.

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist jedoch unbegründet.

Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht auch schon vor Klageerhebung auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte (Sicherungsanordnung). Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Nach § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. mit § 920 Abs. 2 ZPO sind in beiden Fällen der Anordnungsgrund und der Anordnungsanspruch glaubhaft zu machen. Dabei dient das einstweilige Rechtsschutzverfahren grundsätzlich allein der vorläufigen Regelung eines Rechtsverhältnisses.

Hieran gemessen fehlt es dem Antragsteller an einem Anordnungsgrund. Der Antragsteller, der in Niedersachsen erfolgreich ein rechtswissenschaftliches Studium abgeschlossen hat, begehrt mit seinen Anträgen auf erneute Überdenkung und Neubewertung der angegriffenen Prüfungsentscheidungen und auf Zulassung zur erneuten Teilnahme an der Klausur Zivilrecht I keine vorläufigen Maßnahmen, sondern die Vorwegnahme der Entscheidung in der Hauptsache. Seine Anträge im vorliegenden einstweiligen Rechtsschutzverfahren stimmen mit seinen Klageanträgen wörtlich überein und stehen nicht unter dem Vorbehalt des Ausgangs des Klageverfahrens. Der Antragsteller hat auch nicht lediglich die vorläufige Wiederholung der Zivilrechtsklausur I beantragt. Sein Begehren richtet sich vielmehr auf eine sofortige Notenverbesserung, um sich mit einer besseren Pflichtfachnote für die Anwaltsstation im Referendariat bei der von ihm favorisierten Rechtsanwaltskanzlei bewerben zu können. Diesem Rechtsschutzziel kann im Wege einer einstweiligen Anordnung nur ausnahmsweise aus Gründen des Gebotes effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) entsprochen werden, nämlich dann, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstünden, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen. (vgl. BverwG, Beschluss vom 27.05.2004 - 1 WDS-VR 2/04 -, Rn. 3 und 4, juris; Nds. OVG, Beschluss vom 11.07.2022 - 13 ME 141/22 -, Rn. 21, juris, jeweils mit weiteren Rechtsprechungshinweisen.

Der Antragsteller begründet die Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung über seine Anträge damit, dass er sich für die im Referendariat zu absolvierende Anwaltsstation bei der Kanzlei "D., E." in F. (im Folgenden: D. pp.) bewerben wolle, hierfür aber nicht die für eine erfolgreiche Bewerbung notwendige Pflichtfachnote von mindestens 9,00 Punkten (Vollbefriedigend) vorweisen könne. Sein Berufsziel sei, in der Kanzlei später als Anwalt zu arbeiten. Würde er bereits im Referendariat seine Anwaltsstation dort absolvieren, würde dies seine Chance auf eine spätere Einstellung erhöhen. Er könne nicht darauf verwiesen werden, für die Anwaltsstation auf eine andere Kanzlei auszuweichen. Denn dies würde ihn unzumutbar in seiner Berufsfreiheit beeinträchtigen.

Mit diesem Vorbringen hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass ihm durch das Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache schwere und unzumutbare, anders als durch den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung nicht abwendbare Nachteile entstehen würden.

Er hat bereits nicht glaubhaft gemacht, dass nur Referendare/Referendarinnen mit einer vollbefriedigenden Pflichtfachnote, über die er mit 8,94 Punkten nicht verfügt, die Chance hätten, die Anwaltsstation in der Kanzlei D. pp. absolvieren zu können. Aus der vom Antragsteller vorgelegten Ausschreibung der Kanzlei ergibt sich dies jedenfalls nicht. In der Ausschreibung bietet die Kanzlei eine Tätigkeit im Referendariat oder zur wissenschaftlichen Mitarbeit an. Unter der Überschrift "Was Sie auszeichnet" heißt es unter anderem: "Sie haben ihr Erstes Staatsexamen mit mindestens vollbefriedigendem Ergebnis erfolgreich abgeschlossen". Soweit der Antragsteller unter Hinweis auf Wikipedia meint, mit "Erstem Staatsexamen" könne nur die Pflichtfachprüfung gemeint sein, weil es sich nur bei dieser - im Gegensatz zu der ebenfalls in die Endnote miteinfließenden universitären Schwerpunktbereichsprüfung - um eine staatliche Prüfung handele, kann dem nicht gefolgt werden. In der vom Antragsteller zitierten Quelle (https://de.wikipedia.org/wiki/Juristenausbildung_in_Deutschland#Erste_Juristische_Prüfung) heißt es, nur die staatliche Pflichtfachprüfung, die gemeinsam mit der universitären Schwerpunktbereichsprüfung das bis zum Jahr 2003 abzulegende "Erste Staatsexamen" abgelöst habe, könne als Staatsexamen bezeichnet werden, weil nur diese Prüfung von den Justizprüfungsämtern der Bundesländer gestellt und bewertet werde. Letzteres ist zwar richtig, im allgemeinen Sprachgebrauch wird jedoch die gesamte erste juristische Prüfung weiterhin als Erstes Staatsexamen bezeichnet. Dies ist in der Historie der ersten juristischen Prüfung begründet. Bis Ende 2002 wurde das Studium der Rechtswissenschaften mit der "Ersten Staatsprüfung", einer ausschließlich staatlichen Prüfung, abgeschlossen. Aus dieser Zeit stammt der Begriff "Erstes Staatsexamen". Seit der Reform des rechtswissenschaftlichen Studiums im Jahr 2003 setzt sich die Prüfung nach dem Studium aus einer staatlichen Pflichtfachprüfung und einer universitären Schwerpunktbereichsprüfung zusammen, wobei die Ergebnisse der staatlichen Pflichtfachprüfung zu 70 % und die Ergebnisse der universitären Prüfung zu 30 % in die Gesamtnote einfließen. Diese nunmehr offiziell als "Erste Prüfung" bezeichnete Abschlussprüfung (s. zu den einschlägigen Vorschriften §§ 5, 5d DRiG und in Niedersachsen: §§ 2 Abs. 1 ,11, 12 Abs. 3 NJAG) wird im allgemeinen Sprachgebrauch allerdings weiterhin als "Erstes Staatsexamen" bezeichnet. Der Begriff "Erstes Staatsexamen" wird heutzutage äquivalent für das Bestehen der "Ersten Prüfung" benutzt, was sich auch in verwaltungsgerichtlichen Urteilen widerspiegelt (vgl. z.B. VG Lüneburg, Beschluss vom 23.03.2006 - 1 B 8/06 Rn. 9).

Es gibt auch keinen Anlass zu der Annahme, dass der Begriff "Erstes Staatsexamen" in der Ausschreibung der Kanzlei D. pp. anders zu verstehen und hiermit die Pflichtfachprüfung gemeint ist. Mit Blick auf den allgemeinen Sprachgebrauch wäre zu erwarten gewesen, dass in der Ausschreibung explizit die "Staatliche Pflichtfachprüfung" genannt worden wäre, wenn für diese Prüfung ein Vollbefriedigend erwartet würde. Dies ist aber nicht der Fall. Auch die Formulierung, das Erste Staatsexamen sollte mit mindestens vollbefriedigendem Ergebnis "erfolgreich abgeschlossen worden sein" legt nahe, dass es um die Note nach endgültigem "Abschluss" des Studiums und damit um das Gesamtergebnis der ersten juristischen Prüfung geht. Hierfür spricht auch, dass jedenfalls eine Tätigkeit als Referendar/in in der Kanzlei den erfolgreichen Abschluss des Studiums voraussetzt. Abgeschlossen ist das Studium aber erst mit erfolgreicher staatlicher Pflichtfachprüfung und erfolgreicher universitärer Schwerpunktbereichsprüfung. Nichts anderes folgt daraus, dass der Antragsteller sich in der Vergangenheit mit Schreiben vom 16.02.2023 erfolglos mit einer nur befriedigenden Pflichtfachnote (damals noch 8,84 Punkte) bei der Kanzlei D. pp. beworben hat. Das vorgelegte Ablehnungsschreiben der Kanzlei vom 22.02.2023 enthält keine Begründung für die Ablehnung. Naheliegender Grund dürfte jedoch sein, dass der Antragsteller im Zeitpunkt seiner Bewerbung noch keinen Nachweis über den Abschluss seines Studiums vorlegen konnte. Das in der Prüfungsakte enthaltene Zeugnis über die Schwerpunktbereichsprüfung mit einer Gesamtnote von gut (12,66 Punkte) datiert auf den 17.03.2023 (S. 238 Prüfungsakte, Beiakte 001), das Zeugnis über die "Erste Prüfung" auf den 04.04.2023 (S. 240 Prüfungsakte, Beiakte 001). Demnach dürfte der Antragsteller mit seiner Bewerbung vom 16.02.2023 lediglich das unter dem 08.03.2022 ausgestellte Zeugnis über die Pflichtfachprüfung (S. 234 Prüfungsakte, Beiakte 001) vorlegt haben können. Da nach dem Verständnis der Kammer die Ausschreibung der Kanzlei D. pp. voraussetzt, dass Bewerber/innen ihr rechtswissenschaftliches Studium abgeschlossen haben, liegt es nahe, dass Bewerber/Innen, die ihr Studium noch nicht abgeschlossen haben bzw. - wie der Antragsteller im Zeitpunkt seiner Bewerbung - hierüber noch keinen Nachweis vorlegen können, allein deshalb von vornherein als ernsthafte Bewerber/innen ausscheiden.

Im Übrigen ist nach der Ausschreibung der Kanzlei D. pp. ein vollbefriedigendes Erstes Staatsexamen nicht das einzige Qualifikationsmerkmal für eine erfolgreiche Bewerbung. Daneben werden weitere Qualifikationsmerkmale wie Interesse an wirtschaftlichen Zusammenhängen, gute bis sehr gute Englischkenntnisse, Engagement, Eigeninitiative, Kommunikationsstärke und Teamgeist verlangt. Ein vollbefriedigendes Erstes Staatsexamen garantiert somit nicht, bei der Kanzlei D. pp. eine Stelle als Referendar/in oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter/wissenschaftliche Mitarbeiterin zu erhalten.

Der Antragsteller ist daher nicht in seinem Grundrecht auf Berufsfreiheit nach Art. 12 GG verletzt. Er kann sich jederzeit für die Anwaltsstation oder als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Kanzlei D. pp. bewerben. Seine Bewerbung ist nicht von vornherein aussichtslos, da nach dem Ergebnis der Kammer für eine erfolgreiche Bewerbung eine vollbefriedigende Pflichtfachnote nicht erforderlich ist und der Antragsteller mit seinen 10,05 Punkten als Gesamtnote für die Erste Prüfung die Voraussetzung eines mindestens vollbefriedigenden Ersten Staatsexamens erfüllt.

Nach alledem entstehen dem Antragsteller hinsichtlich einer Bewerbung bei der Kanzlei D. pp. durch das Abwarten einer Entscheidung im Klageverfahren auch keine schweren und unzumutbaren, anders als durch eine einstweilige Anordnung nicht abwendbaren Nachteile, die hier ausnahmsweise eine Entscheidung über die Hauptsache im einstweiligen Rechtsschutzverfahren rechtfertigen würden. Hinzu kommt, dass die Anwaltsstation erst im zwölften Monat des Referendariats beginnt und der Antragsteller sein Referendariat bisher weder begonnen noch sich für eine Referendarstelle beworben hat. Auch mit Blick hierauf ist eine besondere Eilbedürftigkeit einer gerichtlichen Entscheidung nicht recht erkennbar.

Soweit der Antragsteller vorträgt, im Falle eines Abwartens einer Entscheidung im Klageverfahren gezwungen zu sein, den Beginn seines Referendariats auf unbestimmte Zeit bis zum Abschluss des Klageverfahrens hinauszuschieben, um sich dann im Referendariat mit dem notwendigen zeitlichen Vorlauf mit einer vollbefriedigenden Pflichtfachnote bei der Kanzlei D. pp. bewerben zu können, ergibt sich hieraus nichts anderes. Der Antragsteller muss sein Referendariat nicht hinausschieben, weil er nach Auffassung der Kammer keine vollbefriedigende Pflichtfachnote für eine erfolgreiche Bewerbung bei der Kanzlei D. pp. benötigt. Ein Eingriff in seine nach Artikel 12 GG geschützte Berufsfreiheit liegt deshalb nicht vor.

Sollte ungeachtet dessen der Antragsteller an seinem Rechtschutzziel einer Notenverbesserung festhalten und deshalb auch die Zivilrechtsklausur I nachschreiben wollen, müsste er auch in diesem Fall weder den Beginn seines Referendariats bis zum Abschluss des Klageverfahrens 4 A 44/23 hinausschieben oder, falls er das Referendariat bereits begonnen hätte, dieses abbrechen, um sich ausreichend auf die Wiederholungsklausur vorbereiten zu können. Entgegen seiner Auffassung wäre es für ihn nicht unzumutbar, während des Referendariats die Zivilrechtsklausur I nachzuschreiben. Die Kammer geht davon aus, dass es zeitlich möglich ist, sich neben dem Referendariat ausreichend auf eine Wiederholungsklausur vorzubereiten, ggfs. könnte der Antragsteller zeitnah vor dem Klausurtermin auch Urlaub nehmen. Die Kammer, deren Mitglieder als Richterinnen selbst das Referendariat durchlaufen haben, hält es durchaus für machbar, Referendarstätigkeit und Vorbereitung auf eine Wiederholungsklausur miteinander in Einklang zu bringen, auch wenn dies unzweifelhaft eine zusätzliche Belastung darstellen würde. Diese Belastung ist aber tragbar und zumutbar. Ein Verstoß gegen Artikel 3 GG im Vergleich zu anderen Referendaren/Referendarinnen, die diese zusätzliche Belastung nicht haben, und gegenüber anderen Prüflingen des Ersten Staatsexamens, die nicht zusätzlich mit dem Referendariat belastet sind, ergibt sich hieraus nicht. Nicht anderes folgt aus der vom Antragsteller angeführten Entscheidung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (OVG Lüneburg, Urteil vom 13.09.2021 - 2 LB 63/21 - BeckRS 2021, 2698). In jenem Verfahren sprach das OVG Lüneburg der Klägerin wegen eines formellen Fehlers im Prüfungsverfahren einen Anspruch auf Fortsetzung des Prüfungsverfahrens in Gestalt der Neuerbringung beider Prüfungsunterrichte im Rahmen einer erneuten Wiederholung der Staatsprüfung für das Lehramt am Berufsbildenden Schulen zu. In dem Zusammenhang führte es aus, dass der Klägerin die Möglichkeit einzuräumen sei, ihren Ergänzungsvorbereitungsdienst erneut zu erbringen. Denn einem Prüfling sei wegen der Wahrung der Chancengleichheit vor dem Beginn der Wiederholungsprüfung eine angemessene Zeit zur Wiedereinarbeitung zu gewähren (s. Rn. 33). Dieser Fall ist mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Denn dort ging es darum, der Klägerin durch eine weitere Lehrtätigkeit die notwendige praktische Vorbereitung auf die Prüfungsunterrichte zu ermöglichen. Eine vergleichbare Vorbereitung benötigt der Antragsteller aber nicht, da er sich keiner praktischen Prüfung unterziehen würde. Die Vorbereitung auf die schriftliche Prüfung kann er allein und völlig selbstständig gestalten. Dass ihm hierfür neben dem Referendariat die notwendige Zeit zur Verfügung stehen würde, wurde bereits gesagt.

Eine Vorwegnahme der Hauptsacheentscheidung hinsichtlich der Zivilrechtsklausur I ist auch nicht deshalb ausnahmsweise gerechtfertigt, weil es dem Antragsteller nicht zuzumuten wäre, das notwendige Wissen für die Klausur bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache aufrechtzuerhalten. Ungeachtet dessen, dass entgegen der Auffassung des Antragstellers im Referendariat zumindest das in der Zivilrechtsstation vermittelte Wissen durchaus einen Bezug zu dem im Studium vermittelten Wissen haben dürfte, kommt in einem Fall wie dem vorliegenden die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes allein durch die "vorläufige" Teilnahme an einer Wiederholungsklausur in Betracht (vgl. z.B. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.11.2021 - 14 B 1341/17 -, Rn. 10 ff. juris; VG A-Stadt, Beschluss vom 24.11.2021 - 4 B 177/21 - n.v.). Dies hat der Antragsteller aber nicht beantragt (s.o.). Ihm geht es vielmehr darum, dass das Ergebnis der nachgeholten Klausur unmittelbar mit in die Abschlussnote einbezogen wird. Hinzu kommt, dass ihm durch ein Abwarten der Entscheidung in der Hauptsache auch nicht - wie dies in den vorgenannten Gerichtsentscheidungen der Fall war - eine Verzögerung seiner Berufsausbildung droht, denn er erfüllt bereits jetzt die Voraussetzungen, um das Referendariat beginnen zu können.

Darüber hinaus dürfte es hinsichtlich der begehrten Wiederholung der Zivilrechtsklausur I auch an einem Anordnungsanspruch fehlen. Der Antragsteller begründet seinen Anspruch auf Wiederholung dieser Klausur mit der niedrigen Temperatur und den Windböen im Prüfungsraum. Nach dem unwidersprochenen Vortrag des Antragsgegners im Schriftsatz vom 23.05.2023 hat der Antragsteller diese Umstände während der Klausur nicht gerügt. Der Antragsgegner hat angegeben, in dem von ihm eingesehenen "Standortprotokoll" seien keinerlei Störungen oder Rügen vermerkt gewesen. Der Antragsteller wäre aber verpflichtet gewesen, die seiner Ansicht nach unzuträglichen Verhältnisse im Prüfungsraum unverzüglich geltend zu machen. Insofern traf ihn eine Rügeobliegenheit (vgl. OVG Lüneburg, Urteil vom 13.09.2021 - 2 LB 63/21 -, insbes. Rn. 34 juris). Diese soll verhindern, dass dem Prüfling gleichheitswidrig ein weiterer, gegenüber anderen Prüflingen nicht gerechtfertigter Prüfungsversuch eröffnet wird. Zugleich wird der Prüfungsbehörde damit die Möglichkeit einer zeitnahen Überprüfung des gerügten Mangels mit dem Ziel einer noch rechtzeitigen Korrektur oder Kompensation eröffnet (OVG Lüneburg, Beschluss vom 23.02.2021 - 2 ME 444/20 -, Orientierungssatz 2, juris). Letzteres war der Prüfungsbehörde mangels einer Rüge des Antragstellers aber nicht möglich.

Aus den dargelegten Gründen war auch der Prozesskostenhilfeantrag des Antragstellers wegen fehlender Erfolgsaussicht des Antrags auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abzulehnen (§ 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 1, 39 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 36.1 des Streitwertkataloges für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der vom 18.07.2013 beschlossenen Änderungsfassung. Nach Nr. 36.1 des Streitwertkatalogs ist bei einem Streit um eine - wie hier die Pflichtfachprüfung - noch nicht den Berufszugang eröffnende (Staats-)Prüfung ein Wert von 7.500 Euro anzusetzen. Dieser Wert war wegen der begehrten vorweggenommenen Entscheidung über die Hauptsache nicht herabzusetzen (Streitwertkatalog Nr. 1.5 Satz 2).

Schneider
Wiethaus
Habermann