Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 30.06.2023, Az.: 3 A 144/22

Betäubungsmittelkonsum; Entlassung; Kokain; Soldat auf Zeit; Trunkenheitsfahrt; unbewusst; Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
30.06.2023
Aktenzeichen
3 A 144/22
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2023, 29135
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:0630.3A144.22.00

Amtlicher Leitsatz

Rechtswidrigkeit eines Entlassungsbescheids wegen eines im Einzelfall unbewussten Betäubungsmittelkonsums (Kokain)

Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen seine Entlassung aus dem Soldatenverhältnis auf Zeit.

Der 1999 geborene Kläger trat am 01.08.2018 mit dem Dienstgrad "Panzergrenadier" in die Bundeswehr ein und wurde am 05.08.2018 über seine Pflichten nebst zu beachtender Verbote belehrt. Mit Wirkung vom 29.08.2018 wurde er in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen. Die Dienstzeit wurde auf 12 Jahre festgelegt und hätte regulär am 31.07.2030 geendet. Zuletzt war er Hauptgefreiter (BesGr. A 4 Z) und besetzte einen Dienstposten als Informationstechnik-Soldat in der 1. Kompanie des Versorgungsbataillon 131 in E. /F..

In der Nacht vom 20. auf den 21.11.2020 (Freitag auf Samstag) war der Kläger nicht im Dienst. Er fuhr am 21.11.2020 gegen 01.30 Uhr mit seinem privaten Pkw durch Osterode, obwohl er nicht mehr fahrtüchtig war. Er war zusammen mit einem Beifahrer auf dem Rückweg von einer Tankstelle zu einem privaten Treffen und versuchte sich erfolglos einer polizeilichen Verkehrskontrolle zu entziehen.

Die Polizei fand im Fahrzeug des Klägers neben vollen Schnapsflaschen unter anderem eine Feinwaage, die vorübergehend sichergestellt wurde und an der sich keine Anhaftungen von Betäubungsmitteln fanden. In einer dem Kläger um 02.46 Uhr entnommenen Blutprobe wurden ein Blutalkoholgehalt von 1,2 Promille sowie 18,3 ng/mL Cocain (Kokain) und zwei Kokain-Abbauprodukte (100,5 ng/mL Benzoylecgonin und 16,6 ng/mL Methylecgonin) nachgewiesen. Das Amtsgericht Osterode stellte eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit fest und verurteilte den Kläger wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen (Urteil vom 07.04.2021 - 3c Cs 603 Js 43032/20 (18/20)) -, rechtskräftig seit dem 15.04.2021). In den Urteilsgründen heißt es, eine bewusste Aufnahme von Kokain sei dem Kläger nicht sicher nachzuweisen. Das im Blut festgestellte Benzoylecgonin könne auch daher stammen, dass dem Kläger ohne sein Wissen Aufputschmittel in seine alkoholischen Getränke gemischt worden seien. Ein Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (§ 29 BtMG) hatte die Staatsanwaltschaft Göttingen bereits am 04.03.2021 eingestellt.

An dem auf den Vorfall folgenden Montag, dem 23.11.2020, meldete der Kläger seinem nächsten Disziplinarvorgesetzten (Major G.) das "Wettrennen" mit der Polizei. In der Vernehmung gab er an, er habe noch nie in seinem Leben Kokain oder Drogen genommen. Auch der Freundeskreis habe noch nie damit zu tun gehabt. An jenem Abend habe er ein freiverkäufliches Energy-Pulver namens "Brett-Energy" eingenommen. Er sei der Meinung, dass es ein Koffein-Pulver sei. Er sei an dem Abend recht müde gewesen und habe sich erhofft, wieder in Fahrt zu kommen. Hinsichtlich der von der Polizei sichergestellten Gegenstände erwähnte er die Feinwaage nicht.

Mit Schreiben vom 22.02.2021 leitete das Bundesamt für Personalmanagement der Bundeswehr ein Verfahren zur Prüfung einer fristlosen Entlassung ein und gab dem Kläger Gelegenheit zur Stellungnahme. Er widersprach der Entlassung mit der Zustellung dieser Verfügung am 24.02.2021. Die Vertrauensperson des Soldaten sprach sich am 24.02.2021 ebenfalls gegen eine Entlassung aus. Sie führte aus, der Kläger habe freiwillig Urinproben abgegeben, die unauffällig gewesen seien. Der nächste Disziplinarvorgesetzte sowie der nächsthöhere Disziplinarvorgesetzte des Klägers befürworteten mit Stellungnahmen vom 24.02. bzw. 08.03.2021 die fristlose Entlassung. Der Kläger war mit beiden Stellungnahme einverstanden.

Durch anwaltliche Stellungnahme vom 11.03.2021 trug der Kläger vor, er habe das Kokain nicht bewusst konsumiert. Er habe glaubhaft versichert, dass er sich nicht erklären könne, wie die später bei ihm nachgewiesenen Substanzen in seinen Kreislauf gelangt seien. Ein gelegentlicher oder regelmäßiger Konsum liege erst recht nicht vor. Mit anwaltlicher Stellungnahme vom 14.04.2021 trug der Kläger vor, er habe in der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht glaubwürdig erklärt, dass er am Tatabend in Gesellschaft von Freunden und deren Bekannten gewesen sei. Die Gruppe habe verschiedene offene Getränke konsumiert, zu denen auch Mixgetränke gehörten. Er habe sich nicht zu jeder Zeit im gleichen Raum wie das jeweils von ihm konsumierte Getränk befunden. Er gehe davon aus, dass ihm als Folge eines unverantwortlichen "Spaßes" von einem der dort Anwesenden eine betäubungsmittelhaltige Substanz in sein Getränk gegeben worden sei, die er dann unbewusst konsumiert habe.

Mit dem Bescheid vom 30.06.2021, dem Kläger persönlich zugestellt am 05.07.2021, entließ das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr den Kläger fristlos mit Ablauf des Tags der Aushändigung der Verfügung nach § 55 Abs. 5 Soldatengesetz (SG) aus dem Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Kläger habe widerrechtlich Betäubungsmittel konsumiert, anschließend unter Einfluss von Betäubungsmitteln und Alkohol ein Kraftfahrzeug im öffentlichen Straßenraum geführt und dabei versucht, sich durch Flucht mit dem Fahrzeug vor der Polizei einer Fahrzeugkontrolle zu entziehen. Dadurch habe er insbesondere gegen die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG), die Pflicht zum Gehorsam (§ 11 Abs. 1 SG), die Wohlverhaltenspflicht (§ 17 Abs. 2 SG) und die Pflicht zur Gesunderhaltung (§ 17a Abs. 1 SG) schwerwiegend verstoßen und das in ihn gesetzte Vertrauen grob missbraucht. Es bestehe Nachahmungs- und Wiederholungsgefahr. Entlastende Aspekte, die es ermöglicht hätten, ausnahmsweise von der fristlosen Entlassung abzusehen, seien nicht festzustellen. Die anwaltliche Einlassung, die Drogen seien ihm in ein Getränk gemischt worden, sei unglaubhaft. Es sei unwahrscheinlich, dass Dritte dem Kläger teures Kokain einfach in Getränke mische. Das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr werte den widerrechtlichen Besitz und/oder Konsum von Betäubungsmitteln als Überschreiten einer "roten Linie" und zeige hier "Null Toleranz".

Dagegen legte der Kläger am 21.07.2021 Beschwerde ein. Zur Begründung führte er aus, die Beklagte stütze die Entlassung auf nicht erwiesene Tatsachen. Zum Kokainkonsum gab er ergänzend an, "dass er als an dem Abend designierter Fahrer und auch sonst korrekter und bodenständiger Mensch aus einer Laune eines anderen heraus veranlasst werden sollte,"lockerer"zu werden." Aus dem Kreis anderer Gäste habe man dies offenkundig amüsant gefunden und hierbei nicht die möglichen Konsequenzen bedacht. Der nachfolgende Alkoholkonsum und sein weiteres Verhalten seien Folge dieses unbewussten Konsums. Das Bundesamt für das Personalwesen der Bundeswehr wies die Beschwerde mit Beschwerdebescheid vom 19.04.2022, zugestellt am 23.04.2022, als unbegründet zurück. Die Angaben zum unbewussten Konsum seien Schutzbehauptungen.

Von der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme war zunächst mit Verfügung vom 22.02.2021 abgesehen worden. Diese Absehensverfügung wurde durch Beschwerdebescheid vom 09.04.2021 aufgehoben, da sie den Sachverhalt des Dienstvergehens nicht hinreichend konkret beschrieb. Mit Verfügung vom 05.07.2021 sah der stellvertretende Kompaniechef erneut von der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme angesichts des Entlassungsbescheids ab. Dieser Bescheid ist bestandskräftig geworden. Wörtlich heißt es darin:

"Sie haben am 21.11.2020 in Osterode infolge des Genusses alkoholischer Getränke und berauschender Mittel (Opiate) vorsätzlich im Straßenverkehr ein Fahrzeug geführt und waren nicht in der Lage das Fahrzeug sicher zu führen.

Ich habe zum derzeitigen Zeitpunkt trotz der Schwere der von Ihnen begangenen Dienstpflichtverletzungen nach (Trunkenheit im Verkehr, Genuss von BTM) von der Verhängung einer Disziplinarmaßnahme abgesehen."

Gegen seine Entlassung hat der Kläger am 20.05.2022 Klage erhoben. Zur Begründung bezieht er sich auf seine bisherigen Ausführungen. Wer von den sechs namentlich benannten Personen, mit denen er an dem Abend zusammen gewesen sei, ihm den Wirkstoff ins Getränk gemischt habe, könne er nicht sagen, da dies passiert sein müsse als er nicht im Raum gewesen sei und er zu den Personen keinen Kontakt mehr pflege.

Der Kläger beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 30.06.2021 in der Gestalt des Beschwerdebescheids vom 19.04.2022 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie wiederholt und vertieft die Begründungen ihrer Bescheide. Sie hält den Vortrag des Klägers, unwissentlich Kokain konsumiert zu haben, für eine Schutzbehauptung, weil die Schilderung des Abends insgesamt nicht nachvollziehbar und glaubhaft sei. Außerdem meint sie, die Absehensverfügung vom 05.07.2021 habe eine Bindungswirkung für das Vorliegen eines Dienstvergehens. Schließlich liege aufgrund der Umstände der Tatbegehung eine Straftat von erheblichem Gewicht vor, die eine Entlassung rechtfertige.

Ein von der Beklagten während des Gerichtsverfahrens eingeholtes rechtsmedizinisches Gutachten vom 20.03.2023 kann die Behauptung des Klägers, er müsse das Kokain über ein Getränk aufgenommen haben, nicht ausschließen. Die festgestellten Konzentrationen lägen im unteren bis mittleren Bereich einer Größenordnung, wie sie typischerweise nach sogenanntem Freizeitkonsum aufgefunden werde. Es sei wohl von einer eher gering dosierten Aufnahme auszugehen. Ein einmaliger Konsum sei denkbar.

Das Gericht hat den Kläger in der mündlichen Verhandlung ergänzend zu dem betreffenden Abend befragt. Wegen des Ergebnisses dieser Anhörung wird auf das Sitzungsprotokoll Bezug genommen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, des beigezogenen Verwaltungsvorgangs der Beklagten und der Strafakten Bezug genommen. Diese sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid und der Beschwerdebescheid sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).

Gemäß § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde.

Die Tatbestandsvoraussetzungen liegen nicht vor.

1. Der Kläger war bei seiner Entlassung Soldat auf Zeit im dritten Dienstjahr.

2. Er hat seine Dienstpflichten nicht schuldhaft verletzt und damit kein Dienstvergehen begangen.

a) Für die rechtlichen Maßstäbe gilt:

aa) Für den bewussten Konsum von Betäubungsmitteln ist in der Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass ein Soldat, der - sei es wiederholt oder auch nur einmalig und sei es innerhalb oder außerhalb des Dienstes - Betäubungsmittel konsumiert, seine Dienstpflichten verletzt (vgl. BVerwG, Beschluss vom 15.03.2000 - 2 B 98.99 - juris Rn. 4; Bayerischer VGH, Beschluss vom 16.01.2023 - 6 CS 22.2380 -, Rn. 12; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 25.10.2022 - 1 L 4/22 -; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.01.2005 - 1 B 2009/04 -, Rn. 16; jeweils juris). Im Rauschmittelkonsum liegt sowohl ein Verstoß gegen die Pflicht zu einem achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten nach § 17 Abs. 2 Satz 1 SG als auch - bei wie hier erfolgter Belehrung - gegen die Pflicht zum treuen Dienen (§ 7 SG; vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 10.08.1994 - 2 WD 24.94 - juris Rn. 6) sowie gegen die Gehorsamspflicht (§ 11 SG) und die Gesunderhaltungspflicht (§ 17a SG).

bb) Für die außerdienstliche Begehung einer Straftat nach § 316 Abs. 1 StGB ist anerkannt - wie der Beschwerdebescheid im Disziplinarverfahren vom 09.04.2021 ausführt - dass sie dann kein Dienstvergehen darstellt, sofern es sich um das erste außerdienstliche Fehlverhalten ohne Hinzutreten erschwerender Umstände handelt.

Ausgangspunkt dieser Einschätzung ist § 17 Abs. 2 Satz 3 SG. Danach hat sich der Soldat außer Dienst außerhalb der dienstlichen Unterkünfte und Anlagen so zu verhalten, dass er das Ansehen der Bundeswehr oder die Achtung und das Vertrauen, die seine dienstliche Stellung erfordert, nicht ernsthaft beeinträchtigt. § 17 Abs. 2 Satz 2 SG bildet eine abschließende Regelung für Verfehlungen strafrechtlichen Gehalts außerhalb des Dienstes und außerhalb dienstlicher Unterkünfte und Anlagen und schließt insoweit einen Rückgriff auf § 7 SG in Gestalt eines Verstoßes gegen die Loyalität zur Rechtsordnung aus (BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 2 WD 5.13 -, juris Rn. 53). Der Soldat soll nicht wegen jedes Fehlverhaltens im privaten Bereich disziplinarisch zur Verantwortung gezogen werden. Die aus einem Verstoß gegen die Strafrechtsordnung resultierenden Zweifel an der Rechtstreue eines Soldaten und damit seiner Achtungs- und Vertrauenswürdigkeit sind umso größer, je höher die Sanktionsdrohung ist, über die sich das vorgeworfene Verhalten hinwegsetzt. Erlaubt die Sanktionsdrohung der Strafrechtsnorm noch keine Freiheitsstrafe im mittleren Bereich (mittlerer Bereich: bis zu zwei Jahren) bedarf es zur Begründung einer allein aus Zweifeln an der Rechtstreue des Soldaten resultierenden Disziplinarwürdigkeit außerdienstlichen Fehlverhaltens zusätzlicher Umstände. Negative Rückschlüsse auf die Integrität, die dienstliche Zuverlässigkeit und die Verwendbarkeit eines Soldaten können sich auch aus den Umständen der Begehung des Dienstvergehens ergeben. Insbesondere kann der Wiederholung eines mit einer geringeren Sanktionsdrohung bewehrten strafbaren Verhaltens oder einer einschlägigen Vorbelastung Rechnung zu tragen sein (BVerwG, Urteil vom 20.03.2014 - 2 WD 5.13 -, juris Rn. 53, 58-61).

b) Was die Feststellung des Sachverhalts anbelangt, steht durch Entscheidungen, die in anderen Verfahren getroffen wurden, bindend fest, dass der Kläger am 21.11.2020 - infolge bewusster oder unbewusster Einnahme - Betäubungsmittel im Körper hatte und im Zustand alkoholbedingter Fahruntüchtigkeit vorsätzlich ein Fahrzeug im öffentlichen Straßenverkehr geführt hat. Im Übrigen hatte die Einzelrichterin eigenständige Sachverhaltsfeststellungen zu treffen. Dies ergibt sich aus Folgendem:

aa) Im Hinblick auf Betäubungsmittel ist zwischen den Beteiligten unstreitig und steht aufgrund der (zweiten) Absehensverfügung vom 05.07.2021 fest, dass der Kläger durch das Vorhandensein von Betäubungsmitteln im Körper den objektiv-rechtlichen Tatbestand einer Dienstpflichtverletzung verwirklicht hat. Es steht hingegen nicht aufgrund der Absehensverfügung vom 05.07.2021 bindend fest, dass der Kläger am 20./21.11.2020 diese Betäubungsmittel (Kokain) bewusst und schuldhaft konsumierte.

Nach § 145 Abs. 2 der Wehrdisziplinarordnung (WDO) sind die aufgrund dieses Gesetzes ergehenden Entscheidungen der Disziplinarvorgesetzten und der Wehrdienstgerichte für die Beurteilung der vor einem Gericht geltend gemachten Rechte aus dem Dienstverhältnis bindend. Die Bindungswirkung bezieht sich nach der Rechtsprechung (auf den Tenor und) auf die disziplinarrechtliche Würdigung des Sachverhalts (VG München, Urteil vom 24.04.2017 - M 21 K 16.292 -, Rn. 38; VG Potsdam, Urteil vom 01.06.2011 - 2 K 2621/09 -, Rn. 32-35; jeweils juris und m.w.N.). Die Absehensverfügung vom 05.07.2021 enthält jedoch (anders als in vergleichbaren Fällen üblich) keine umfassende disziplinarrechtliche Würdigung. Sie stellt lediglich "Dienstpflichtverletzungen", jedoch kein Dienstvergehen fest. Es fehlt an Ausführungen zur Schuldhaftigkeit, die im vorliegenden Fall zwischen den Beteiligten streitig ist. Dieses am Wortlaut der Absehensverfügung vom 05.07.2021 orientierte Verständnis ist aufgrund der Vorgeschichte des Falls geboten, nachdem bereits eine erste Absehensverfügung auf die erfolgreiche Beschwerde des Klägers aufgehoben wurde.

bb) Ein bewusster und schuldhafter Betäubungsmittelkonsum steht auch nicht durch den Beschwerdebescheid vom 09.04.2021 fest. Die dortigen Ausführungen im dritten Absatz auf Seite 3 (Bl. 136 Beiakte 001) enthalten lediglich allgemeine rechtliche Ausführungen ("Es wird darauf hingewiesen, dass [...]. Der Konsum von Betäubungsmittel stellt [...] ein Dienstvergehen [...] dar"), aber keine bindende disziplinarrechtliche Würdigung des Sachverhalts im vorliegenden Fall.

cc) Aufgrund des Strafurteils vom 07.04.2021 steht die Begehung einer alkoholbedingten Trunkenheitsfahrt fest. Dass der Kokainkonsum unbewusst und/oder nicht schuldhaft gewesen wäre, folgt aus dem Strafurteil nicht.

In den Fällen des § 55 Abs. 5 SG besteht auf der Grundlage einer Rechtsanalogie zu den §§ 34 und 84 Abs. 1 WDO eine grundsätzliche Bindung an die tatsächlichen Feststellungen rechtskräftiger Strafurteile mit entsprechender Möglichkeit der Lösung von diesen Feststellungen durch die Verwaltungsgerichte (Nds. OVG, Beschluss vom 02.03.2007 - 5 ME 252/06 -, juris Rn. 21-23), wobei ein Anlass zur Lösung vorliegend nicht besteht. Da die Bindungswirkung eines rechtskräftigen Strafurteils nach § 84 Abs. 1 Satz 1 WDO nur seine tatsächlichen Feststellungen betrifft, besteht keine Bindungswirkung, soweit das Strafurteil tatsächliche Feststellungen nicht enthält (BVerwG, Beschluss vom 27.03.2012 - 2 WD 16/11 -, juris Rn. 19). Das Amtsgericht Osterode hat in seinem Urteil vom 07.04.2021 keinen unbewussten Kokain-Konsum des Klägers festgestellt, sondern diesen lediglich als eine (nicht widerlegte) Möglichkeit angesehen. Festgestellt wurde nur die bewusste Alkoholaufnahme und die vorsätzliche (alkoholbedingte) Trunkenheitsfahrt.

c) Für die Einzelrichterin steht nach Würdigung des Sachverhalts und insbesondere des vom Kläger in der mündlichen Verhandlung gewonnenen Eindrucks fest, dass er unbewusst Kokain konsumiert hat und ihm für den Konsum weder Vorsatz noch Fahrlässigkeit vorzuwerfen ist.

Nach allgemeinen Regeln trägt die Beklagte die Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG (s.a. VG Minden, Urteil vom 07.09.2021 - 12 K 2863/18 -, juris Rn. 91), weil sie daraus eine für den Kläger belastende Rechtsfolge herleiten will. Allerdings geht nach allgemeiner Lebenserfahrung einem positiven Drogennachweis typischerweise ein von einem entsprechenden Willensakt begleiteter Drogenkonsum voraus. Der von einem Betroffenen behauptete Fall einer versehentlichen bzw. missbräuchlich durch Dritte herbeigeführten Einnahme von Betäubungsmitteln stellt sich dagegen als ein Ausnahmetatbestand dar, zu dem nur der Betroffene als der unmittelbar Beteiligte Klärendes beisteuern kann. Im Fahrerlaubnisrecht wird deshalb in ständiger Rechtsprechung gefordert, dass derjenige, der sich auf die unbewusste Einnahme von Betäubungsmitteln beruft, einen detaillierten, in sich schlüssigen und auch im Übrigen glaubhaften Sachverhalt vortragen muss, der einen solchen Geschehensablauf als ernsthaft möglich erscheinen lässt und der damit auch zumindest teilweise der Nachprüfung zugänglich ist. Erst nach einer solchen Schilderung kann sich die Frage ergeben, zu wessen Nachteil eine gleichwohl verbleibende Ungewissheit über den genauen Hergang der Ereignisse ausschlägt (vgl. nur Bayerischer VGH, Beschluss vom 07.03.2023 - 11 CS 22.2608 -, Rn. 14; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 06.03.2013 - 16 B 1378/12 -, Rn. 4 f. m.w.N.; Nds OVG, Beschluss vom 01.12.2011 - 12 ME 198/11 -, Rn. 6; jeweils juris). Da Kokain illegal ist, erscheint es wenig wahrscheinlich, dass dieses Betäubungsmittel Dritten in der Weise zugeführt wird, dass es ihm ohne sein Wissen und gegebenenfalls gegen seinen Willen beigebracht wird, sofern nicht ausnahmsweise ein nachvollziehbares Motiv für eine solche Handlung aufgezeigt wird (Nds. OVG, a.a.O.). Im Fahrerlaubnisrecht wird zudem gefordert, dass der Betroffene überzeugend aufzeigen muss, dass er selbst die Aufnahme des Betäubungsmittels und deren Wirkung tatsächlich nicht bemerkt hat (Bayerischer VGH; Nds. OVG; jeweils a.a.O.). Diese Darlegungsregeln sind verallgemeinerungsfähig und gelten nach Auffassung der Kammer auch im Rahmen der soldatenrechtlichen Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG (s.a. VG Potsdam, Urteil vom 01.06.2011 - 2 K 2621/09 -, Rn. 42).

Im vorliegenden Fall ist dem Kläger eine solche Darlegung ausnahmsweise gelungen.

Der Kläger hatte in seiner ersten Vernehmung durch seinen Disziplinarvorgesetzten am 23.11.2020 und gegenüber der Vertrauensperson bekundet, dass er sich nicht erklären könne, wie das Betäubungsmittel in seinen Körper gelangt sei. Erst im Zuge der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht kam die Vermutung zur Sprache, dass ihm dies in sein Mixgetränk getan worden sein müsse. Da der Kläger lediglich eine seine früheren Freunde belastende Vermutung mit möglicherweise strafrechtlicher Relevanz äußert, ist ihm nicht vorzuwerfen, dass er dies nicht vorher getan hat.

Die Angaben des Klägers zum Konsum des nach seinen Angaben koffeinhaltigen Pulvers "Brett-Energy" in seiner polizeilichen Vernehmung und der mündlichen Verhandlung waren nicht frei von Widersprüchen. Was die im Polizeibericht vom 03.12.2020 wiedergegebenen Aussagen des Klägers vom 21.11.2020 (Bl. 67 Beiakte 001) betrifft, ist zu berücksichtigen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt deutlich alkoholisiert war.

Unter Berücksichtigung des in der mündlichen Verhandlung gewonnenen persönlichen Eindrucks waren die letzten Angaben des Klägers zum betroffenen Abend hinreichend substantiiert, plausibel und damit glaubhaft. Er hat die an dem Abend anwesenden Personen namentlich benannt und in der mündlichen Verhandlung als gute Freunde eingestuft. Er hat in der mündlichen Verhandlung angeben, nicht zu wissen, dass jemand von ihnen Umgang mit Betäubungsmitteln gehabt habe und bei keinem eine solche Wirkung bemerkt zu haben. Nach eigenen Angaben hat sich der Kläger bei Feiern oft als Fahrer zur Verfügung gestellt und bei Alkohol zurückgehalten, insbesondere, weil er viel Sport getrieben habe. Mehrfach habe er Alkohol bei Feiern abgelehnt, wenn dieser ihm angeboten worden sei. Am Abend des 20.11.2020 sei das jedoch anders gewesen und er habe sich entgegen seiner Vorsätze "belabern lassen" und Alkohol getrunken sowie Zigaretten geraucht. Er hat eingeräumt, dass er lediglich vermute, dass einer der Freunde ihn wohl "lockerer" machen wollte, weil er sich kein anderes Motiv vorstellen könne. Dass die offenbar selbst alkoholisierten Freunde dem Kläger Alkohol angeboten und Kokain untergemischt haben, mag nicht sinnvoll sein, ist aber zugleich nicht völlig abwegig. Teuer ist Kokain heutzutage nicht. Der Durchschnittpreis für 1 g lag im Jahr 2019 bei 69,50 Euro, für die bei oraler Aufnahme typische Konsumeinheit von mindestens 100 mg (= 0,1 g) also bei unter 10 Euro (dazu: Patzak, in: ders./Volkmer/Fabricius, BtMG, 10. Aufl. 2022, Teil 3, Kokain-Produkte, Rn. 114, 120). Glaubhaft geschildert hat der Kläger, dass er sein Getränk nicht die ganze Zeit im Blick hatte, weil er zwischendurch nach draußen zum Rauchen gegangen sei. In einem intakten Freundeskreis ist ihm das nicht vorzuwerfen, weil er nach den von ihm geschilderten Umständen nicht mit einer Beibringung von Betäubungsmitteln rechnen musste. Glaubhaft geschildert hat der Kläger den Bruch mit dem damaligen Freundeskreis nach dem Abend, seine Enttäuschung über die Freunde und seine Neuorientierung. Der bittere Beigeschmack, den Kokain hat, muss dem Kläger nicht aufgefallen sein, wenn er es, wie er vermutet, zusammen mit dem alkoholischen Mischgetränk "Havanna-Cola" aufgenommen hat. Dass der Kläger eine konkrete Wirkung gerade des Kokains nicht bemerkt haben will, ist vor dem Hintergrund plausibel, dass er zusätzlich entgegen seiner sonstigen Gewohnheiten an dem Abend Alkohol und Nikotin konsumiert hat. Zu der im Handschuhfach aufgefundenen Feinwaage gab der Kläger an, er habe diese von seinem Vater mit zu seiner damaligen Freundin genommen, weil die geerbten Goldschmuck zwecks Verkauf habe wiegen wollen. Er habe sie ungefähr vier Wochen vor dem Vorfall ins Auto gelegt. Dass der Kläger die sichergestellte Feinwaage in seiner Meldung beim Dienstvorgesetzten am 23.11.2020 nicht erwähnt hat, führt nicht zu einer anderen Bewertung seines Aussageverhaltens, weil sie nach seinem Vorbringen keine Verbindung zu dem vorgeworfenen Konsum von Betäubungsmitteln hatte. Wiederholt hat sich der Kokain-Konsum trotz des hohen psychischen Abhängigkeitspotenzials (dazu: Patzak, a.a.O., Rn. 124) offenbar nicht, da der Kläger ausweislich der Stellungnahme der Vertrauensperson in der Folgezeit freiwillig negative Urinproben abgegeben hat.

Da der Kläger an dem Abend keine Anhaltspunkte für den Konsum von Kokain bei sich oder den anderen hatte und bei Zugrundelegung seines Vortrags auch nicht haben musste, ist ihm kein Vorsatz und keine Fahrlässigkeit hinsichtlich des Konsums von Betäubungsmitteln vorzuwerfen. Da es an einem Schuldvorwurf fehlt, stellt sich der Konsums des Kokains im vorliegenden Fall ausnahmsweise nicht als Dienstvergehen dar (zur Frage des Dienstvergehens bei unbewusstem, aber fahrlässigem Konsum: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.07.2017 - 1 A 1392/17 -, juris Rn. 17). Anzumerken ist noch, dass keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Betäubungsmittelkonsums schuldunfähig war.

d) Im Hinblick auf die Trunkenheitsfahrt und die Flucht vor der Polizei fehlt es an erschwerenden Umständen, die eine Disziplinarwürdigkeit dieses außerdienstlichen Fehlverhaltens begründen. Daher kann es nicht als Dienstvergehen eingestuft werden.

Die vorliegend einzig einschlägige Strafnorm des § 316 Abs. 1 StGB droht eine Freiheitsstraße im unteren Bereich an (bis zu einem Jahr). Die Umstände der Tatbegehung hat bereits das Amtsgericht gewürdigt und ist lediglich zu einer Geldstrafe im unteren Bereich des Strafrahmens gelangt. Vorbelastet ist der Kläger nicht. Dass der Kläger nach dem Kontakt mit der Polizei nicht umgehend gestoppt, sondern weitergefahren ist und später zu versucht hat, zu Fuß zu fliehen, ist nicht allein als bewusste Entscheidung zu werten, sondern auch unter Einfluss von Alkohol und Betäubungsmitteln erfolgt. Dafür sprechen die Laborergebnisse und die auf der Polizeidienststelle dokumentierten physischen Auffälligkeiten. Anhaltspunkte für eine Schuldunfähigkeit des Klägers zum Zeitpunkt der Autofahrt bestehen allerdings nicht. Da den Kläger der Konsum von Betäubungsmitteln im vorliegenden Fall ausnahmsweise nicht vorzuwerfen ist, ist ihm auch der Einfluss dieser Betäubungsmittel bzw. der Mischintoxikation auf sein späteres Verhalten gegenüber der Polizei nicht als erschwerender Umstand vorzuwerfen.

3. Im Fall des hier ausnahmsweise gegebenen nicht schuldhaften Konsums von Betäubungsmitteln fehlt es auch an der letzten Voraussetzung des § 55 Abs. 5 SG. Das Verbleiben des Klägers in seinem Dienstverhältnis würde die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr nicht ernstlich gefährden. Dies gilt auch dann, wenn man dem Kläger - entgegen der obigen Ausführungen - einen unbewussten, aber fahrlässigen Konsum von Betäubungsmitteln vorwerfen würde.

a) Zu den Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht (Beschluss vom 09.07.2021 - 5 ME 81/21 -, juris Rn. 22 ff. m.w.N., ausgeführt:

"Die fristlose Entlassung nach § 55 Abs. 5 SG ist keine disziplinarische Maßnahme, sondern dient dem Schutz vor künftigem Schaden; die Vorschrift soll eine drohende ernstliche Gefahr für die Bundeswehr (in Gestalt einer ernstlichen Gefahr für die militärische Ordnung oder das Ansehen) verhindern (...). Hinsichtlich der tatbestandlichen Voraussetzungen, ob ohne die Entlassung eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung oder des Ansehens gegeben wäre, steht der Entlassungsdienststelle kein Beurteilungsspielraum zu (...); die Verwaltungsgerichte haben diese Voraussetzungen im Rahmen einer "objektiv nachträglichen Prognose" vielmehr vollumfänglich zu überprüfen (...), wobei maßgeblicher Zeitpunkt einer solchen Prognose der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung (...) ist.

Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung (der militärischen Ordnung oder des Ansehens) "ernstlich" sein muss, hat das Gesetz eine Entscheidung bezüglich der Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck (= Schutz der militärischen Ordnung bzw. des Ansehens der Bundeswehr) getroffen und damit den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit konkretisiert, dem das Gesetz darüber hinaus durch die Begrenzung der Entlassung auf die ersten vier Dienstjahre Rechnung trägt; für zusätzliche Erwägungen zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist kein Raum (...). Jedoch kann im Rahmen der Prüfung, ob eine ernstliche Gefahr (für die militärische Ordnung oder das Ansehen) besteht, in bestimmten Fällen zu berücksichtigen sein, ob der Gefahr auch durch eine Disziplinarmaßnahme als ein notwendiges, aber auch milderes Mittel begegnet werden kann mit der Folge, dass ein Schaden für das Schutzgut nicht zu befürchten sei (...). Dies hat die Rechtsprechung im Fall von Affekthandlungen bei geringer Vorbildfunktion des Soldaten angenommen, also in Fällen, in denen eine Wiederholungsgefahr typischerweise nicht besteht und auch eine Nachahmungsgefahr nicht vorliegt (...).

Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung (der militärischen Ordnung oder des Ansehens) im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist. Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigten (...). Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt oder bei leichterem Fehlverhalten eine Wiederholungs- oder Nachahmungsgefahr hinzukommt (...). Eine Nachahmungsgefahr besteht, wenn es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht, so dass ohne die fristlose Entlassung ein Anreiz zu ähnlichem Verhalten für andere Soldaten gegeben wäre (...). Jedenfalls die beiden Fallgruppen der Wiederholungs- und Nachahmungsgefahr erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen (für die militärische Ordnung oder das Ansehen) beurteilen zu können (...).

Zur Auslegung des Begriffs der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG ist vom Zweck auszugehen, der Verteidigung zu dienen (...). Dementsprechend ist unter dem Begriff der militärischen Ordnung der Inbegriff der Elemente zu verstehen, welche im Rahmen der geltenden Rechtsordnung für die Gewährleistung der Verteidigungs- und Einsatzbereitschaft erforderlich sind (...). Die militärische Ordnung entspricht damit der Funktionsfähigkeit der Streitkräfte, was die personelle und materielle Funktionsfähigkeit beinhaltet. Die materielle Funktionsfähigkeit bezieht sich auf Bewaffnung, Ausrüstung, Gerät, Material und Versorgungsgüter (...); die personelle Funktionsfähigkeit hängt von der individuellen Einsatzbereitschaft des einzelnen Soldaten und einem intakten inneren Ordnungsgefüge ab (...).

Bei einer Gefährdung des Ansehens geht es um den guten Ruf der Streitkräfte oder auch einzelner Truppenteile bei Außenstehenden, vor allem in der Öffentlichkeit, aus der Sicht eines den jeweiligen Lebensverhältnissen gegenüber aufgeschlossenen, objektiv wertenden Betrachters (...). Eine ernstliche Gefährdung des Ansehens ist anzunehmen, wenn das Verhalten des Soldaten mit den berechtigten Erwartungen an die Integrität unvereinbar wäre, wenn also bei Bekanntwerden des Verhaltens das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Rechtsstaatlichkeit der Streitkräfte erschüttert wäre (...)."

Diesen Ausführungen folgt die Kammer.

b) Würde man dem Kläger hinsichtlich des Konsums von Betäubungsmitteln Fahrlässigkeit, und damit zusammen mit der vorsätzlichen alkoholbedingten Trunkenheitsfahrt mit anschließender Flucht vor der Polizei insgesamt ein Fehlverhalten vorwerfen, so läge dies im leichteren Bereich möglicher Verfehlungen (keine Straftat von erheblichem Gewicht und außerhalb des militärischen Kernbereichs (s.o.)). Es bestünde weder Nachahmungs- noch Wiederholungsgefahr, so dass eine Disziplinarmaßnahme ausreichend wäre, um eine ernstliche Gefahr (für die militärische Ordnung oder das Ansehen) der Bundeswehr abzuwenden.

Bei unbewusstem Konsum von Betäubungsmitteln ist keine Nachahmung oder Wiederholung zu befürchten. Denn ein anderweitiger oder ein erneuter Konsum würde bewusst erfolgen. Die vom Kläger nach dem betreffenden Abend abgegebenen Urinproben waren negativ. Seine Einsatzfähigkeit war bei Dienstantritt am 23.11.2020 nicht mehr beeinträchtigt, da die Wirkung von Kokain eher Stunden als Tage anhält (vgl. Weber, in: ders./Kornprobst/Maier, BtMG, 6. Aufl. 2021, § 1 Rn. 548). Auch ein Ansehensverlust würde bei Bekanntwerden des vorliegenden Falls eines unbewussten Konsums nicht eintreten. Insoweit sind die Fälle des einmaligen unbewussten Konsums von Betäubungsmitteln (dazu auch: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.07.2017 - 1 A 1392/17 -, juris) anders zu bewerten als diejenigen des einmaligen oder wiederholten bewussten Konsums (dazu: BVerwG, Beschluss vom 15.03.2000 - 2 B 98.99 -, Rn. 4 ff.; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 19.10.2022 - 2 LB 764/18 -, Rn. 20 ff.; Nds. OVG, Beschluss vom 20.07.2007 - 5 PA 290/05 -, Rn. 12 ff.; s.a. Bayerischer VGH, Beschluss vom 16.01.2023 - 6 CS 22.2380 -, Rn. 21 f. m.w.N.; jeweils juris).

Auch hinsichtlich der schuldhaften alkoholbedingten Trunkenheitsfahrt mit Flucht vor der Polizei bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger sie wiederholen könnte noch dafür, dass andere Soldaten sich trotz des Gefahrenpotenzials ähnlich verhalten würden, wenn sie vom Verbleiben des Klägers im Dienst wüssten (s.a. VG Köln, Beschluss vom 26.10.2018 - 23 L 2018/18 -, juris Rn. 28). Auch wäre das Ansehen der Bundeswehr bei Bekanntwerden der Trunkenheitsfahrt nicht ernstlich gefährdet, insbesondere da der Kläger in seiner Freizeit unterwegs war, kein Zusammenhang zum Dienstverhältnis ersichtlich war und der Kläger keine Vorgesetztenfunktion hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.