Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 16.05.2023, Az.: 1 E 153/23

Abschiebung; Durchsuchung; Antrag auf richterliche Anordnung der Durchsuchung einer Wohnung zur Sicherung der Abschiebung hier: fehlende Antragsberechtigung der Ausländerbehörde

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
16.05.2023
Aktenzeichen
1 E 153/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 21084
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:0516.1E153.23.00

[Gründe]

Der Antrag vom 12.05.2023 des Antragstellers,

auf Erlass einer richterlichen Anordnung nach § 58 Abs. 6 Satz 1 und Abs. 7 und 8 AufenthG, hilfsweise nach § 24 Abs. 5 NPOG i. V. m. § 95 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG,

bleibt ohne Erfolg.

Der Antrag scheitert bereits an der fehlenden Antragsberechtigung des Antragstellers.

Nach § 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG kann die die Abschiebung durchführende Behörde eine Durchsuchung der Wohnung des abzuschiebenden Ausländers zu dem Zweck seiner Ergreifung vornehmen, soweit der Zweck der Durchführung der Abschiebung es erfordert. Gemäß § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG dürfen Durchsuchungen nach Absatz 6 nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzug auch durch die die Abschiebung durchführende Behörde angeordnet werden.

Zur Antragsberechtigung vor dem 01.02.2022 hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in seinem Beschluss vom 23.11.2022 (13 ME 276/22 -, juris Rn. 13 bis 15) Folgendes ausgeführt:

"Zur Durchsuchung nach § 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG und daran anknüpfend zur Beantragung einer richterlichen Anordnung nach § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG berechtigt ist "die die Abschiebung durchführende Behörde".

Nach § 2 Nr. 1 Buchst. a) der Allgemeinen Zuständigkeitsverordnung für die Gemeinden und Landkreise zur Ausführung von Bundesrecht - AllgZustVO-Kom - vom 14.12.2004 (Nds. GVBl. S. 589) in der hier maßgeblichen, zuletzt am 28.06.2022 (Nds. GVBl. S. 422) geänderten Fassung sind die Landkreise zuständig für aufenthalts- und passrechtliche Maßnahmen und Entscheidungen der Ausländerbehörde im Sinne des § 71 Abs. 1 AufenthG, jedoch nicht für die Durchführung von Abschiebungen und Zurückschiebungen. Die Zuständigkeit für die Durchführung von Abschiebungen liegt nach Nr. 2.7.3 des Runderlasses des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 13.08.2019 (Nds. MBl. S. 1207) über die Organisation der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen (LAB NI) vielmehr bei dieser (vgl. zur Zulässigkeit der Regelung der Zuständigkeit durch schlichten Runderlass in Niedersachsen: BVerwG, Urt. v. 22.01.2004 - BVerwG 4 A 32.02 -, juris Rn. 27 f.). Die Zuständigkeit der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen umfasst nach Nr. 4.2 des Runderlasses des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 07.07.2021 (Nds. MBl. S. 1158) auch "die Abholung der Ausreisepflichtigen aus der Wohnung, einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer Haftanstalt (Abschiebungshafteinrichtung oder Strafhaft), wobei es der LAB NI auch obliegt, die Ausreisepflichtigen aufzufordern, sich der Abschiebung zu stellen". In Niedersachsen ist "die die Abschiebung durchführende Behörde" im Sinne des § 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG folglich die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen. Nur sie ist auch berechtigt, den Antrag auf richterliche Anordnung der Durchsuchung der Wohnung nach § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG zu stellen (so schon Senatsbeschl. v. 30.08.2022 - 13 PA 205/22 -, V.n.b. Umdruck S. 3; VG Göttingen, Beschl. v. 19.10.2022 - 1 E 230/22 -, juris Rn. 2).

An dieser Zuständigkeit ändert sich entgegen der Auffassung des Antragstellers nichts dadurch, dass er als "Herr des Verfahrens ... die Ausländerbehörde" im Sinne des § 2 Nr. 1 Buchst. a) - AllgZustVO-Kom - (Beschwerdebegründungsschriftsatz v. 21.11.2022, S. 2) ansieht. Diese trifft zwar die Entscheidung, ob eine Abschiebung durchgeführt wird, und aktiviert bejahendenfalls die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen. Für die Durchführung der Abschiebung selbst ist nach den genannten landesrechtlichen Organisationsregelungen aber die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen zuständig. An letztgenannte Zuständigkeit knüpft § 58 Abs. 6 Satz 1 und Abs. 8 Satz 1 AufenthG an."

Zwar ergänzt des Niedersächsische Ministerium für Inneres und Sport in seiner E-Mail vom 18.01.2023 Nr. 4.1.1 seines Runderlasses vom 07.07.2021 (Rückführungserlass) zum 01.02.2023 dahingehend, dass nunmehr die Ausländerbehörden für die Beantragung von Durchsuchungsbeschlüssen gemäß § 58 Abs. 6 bis 8 AufenthG zuständig sind. Jedoch verstößt die Zuweisung allein der Antragsberechtigung an die Ausländerbehörden gegen die gesetzliche Regelung aus § 58 Abs. 6 Satz 1 und Abs. 8 Satz 1 AufenthG und setzt sich auch mit der geltenden Erlasslage in Widerspruch. Das Verwaltungsgericht Oldenburg führt hierzu in seinem Beschluss vom 06.03.2023 (11 B 438/23, V. n. b.) Folgendes aus:

"Die nunmehr seit dem 01.02.2023 geltende Regelung, dass die Ausländerbehörden für die Beantragung von Durchsuchungsbeschlüssen gem. § 58 Abs. 6 bis 8 AufenthG zuständig sind, ist rechtswidrig, weil sie nicht hinreichend beachtet, dass nach der gesetzlichen Regelung in § 58 Abs. 6 und Abs. 8 AufenthG und den landesrechtlichen Organisationsregelungen die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen für die Durchführung der Abschiebung zuständig ist. Diesbezüglich verweist die Kammer auf die soeben zitierten Ausführungen des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts.

Hiernach liegen die Durchsuchungsberechtigung nach § 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG und die Antragsberechtigung nach § 58 Abs. 8 Satz 1 AufenthG in einer Hand und zwar bei der die Abschiebung durchführenden Behörde. Das ist in Niedersachsen nach den getroffenen landesrechtlichen Organisationsregelungen die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen.

Die nunmehr seit dem 01.02.2023 geltende Zuständigkeitsregelung für die Beantragung des Durchsuchungsbeschlusses führt aber zur nachfolgend beschriebenen unzulässigen Verfahrenssituation:

Die neue Regelung führt zu einem Auseinanderfallen von Antrags- und Durchführungsberechtigung. Antragsberechtigt sind nunmehr die Ausländerbehörden, während durchführungsberechtigt weiterhin die Landesaufnahmebehörde ist. Denn die Organisationsregelungen, die die Zuständigkeit für die Durchführung von Abschiebungen bei der Landesaufnahmebehörde Niedersachsen verortet (Nr. 2.7.3 des Runderlasses des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 13. 08.2019 (Nds. MBl. S. 1207) und diese Zuständigkeit nach Nr. 4.2 des Runderlasses des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 07.07.2021 (Nds. MBl. S. 1158) auch "die Abholung der Ausreisepflichtigen aus der Wohnung, einer Gemeinschaftsunterkunft oder einer Haftanstalt (Abschiebungshafteinrichtung oder Strafhaft), wobei es der LAB NI auch obliegt, die Ausreisepflichtigen aufzufordern, sich der Abschiebung zu stellen", umfasst, sind nicht geändert worden. Der Erlass einer Durchsuchungsanordnung durch das Gericht zugunsten der Antragstellerin verbietet sich daher, da sie die getroffenen und weiterhin geltenden Organisationsregelungen missachten würde.

Ein Obsiegen der Antragstellerin im vorliegenden Verfahren würde zudem dazu führen, dass die Antragstellerin zwar im Besitz einer Durchsuchungsanordnung wäre, diese Durchsuchungsanordnung ihr aber keinen rechtlichen Vorteils brächte, da sie die Durchsuchung mangels Durchsuchungsberechtigung - diese liegt weiterhin bei der Landesaufnahmebehörde - nicht durchführen dürfte. Hieraus resultiert zugleich die Erfolglosigkeit des vorliegenden Antrags der Antragstellerin, da die Inanspruchnahme des Gerichts nicht erforderlich ist."

Diesen überzeugenden Ausführungen folgt die Kammer und macht sie sich zu Eigen. Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass eine vollständige organisatorische Delegation der Zuständigkeit für die Durchführung von Abschiebungen (und damit auch der Antragsberechtigung für Durchsuchungsbeschlüsse) auf die einzelnen örtlichen Ausländerbehörden nach § 71 Abs. 1 Satz 4 AufenthG auch nicht gesetzeskonform umsetzbar wäre. Denn danach ist das Land Niedersachsen gerade bundesrechtlich verpflichtet, eine für die Vollziehung von Abschiebungen zentral zuständige Stelle zu bestimmen. Dass diese zentral zuständige Stelle (hier: die LAB NI) dann auch Durchsuchungsbeschlüsse einzuholen hat, ist wiederum unmittelbare Folge der gesetzlichen Regelung in § 58 Abs. 6 Satz 1 und Abs. 8 Satz 1 AufenthG (s.o.). Demnach ist vorliegend nicht der Antragsteller, sondern die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen antragsberechtigt.

Darüber hinaus weist die Kammer rein vorsorglich darauf hin, dass der Antrag des Antragstellers auch keinen Erfolg haben dürfte, soweit die Durchsuchung am XX.XX.XXXX zur Nachtzeit um XX:XX Uhr erfolgen soll.

Nach § 58 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darf die Wohnung zur Nachtzeit (d. h. zwischen 21 und 6 Uhr, vgl. § 104 Abs. 3 StPO, § 173 VwGO i.V.m. § 758a Abs. 4 Satz 2 ZPO) nur betreten oder durchsucht werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung andernfalls vereitelt wird. Die Organisation der Abschiebung ist keine Tatsache im Sinne von Satz 1 (§ 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG).

Der Antragsteller trägt zur Begründung des beabsichtigten Zeitpunkts der Durchsuchung lediglich vor, dass der Flug zur Abschiebung des betroffenen Ausländers um XX:XX Uhr vom Flughafen G. starte. Der betroffene Ausländer müsse aufgrund der Dauer der vor dem Flug stattfindenden Kontrolle mindestens drei Stunden vor der geplanten Abflugzeit am Flughafen übergeben werden. Eine Abholung außerhalb der Nachtzeit sei aufgrund der Entfernung und der Fahrzeit vom Wohnort des betroffenen Ausländers bis zum Flughafen G. nicht realisierbar.

Aus dieser Begründung ist nicht ersichtlich, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung bei einer Durchsuchung zur Tagzeit (ab 06:01 Uhr) vereitelt werden würde. Es sind insbesondere keine Gründe dafür vorgetragen worden, dass gerade der von dem Antragsteller anvisierte Flug am XX.XX.XXXX um XX:XX Uhr erreicht werden muss und es keine Transportalternative gibt, durch welche eine nächtliche Durchsuchung der Wohnung des betroffenen Ausländers vermieden werden könnte. Diesbezüglich hat die Kammer durch eine lediglich oberflächliche Internetrecherche herausgefunden, dass die Fluglinie FlyOne jeden Freitag um 15:40 Uhr einen Direktflug nach H. vom Flughafen I. anbietet, ab Juli auch einen wöchentlichen Direktflug nach H. von J. um 16 Uhr. Von dem Antragsteller kann eine solche Recherche - das räumt die Kammer ein - allerdings auch nicht erwartet werden, da nicht er, sondern die Landesaufnahmebehörde Niedersachsen für die Organisation und die Durchführung der Abschiebung zuständig ist (s.o.). Dies unterstreicht gerade das von der Kammer gefundene Ergebnis, wonach die Landesaufnahmebehörde Niedersachen die antragsberechtigte Behörde ist, weil nur so ein Auseinanderfallen von Antrags- und Durchführungsberechtigung vermieden wird.

Aufgrund der vorstehenden Erwägungen kann hier offenbleiben, ob organisatorische Rahmenbedingungen, die weder durch die zuständige Behörde noch durch bei der Abschiebung beteiligte sonstige deutsche Behörden beeinflusst werden können und damit deren Organisationsspielraum begrenzen, organisatorische Gründe im Sinne von § 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG sind (verneinend OVG NW, Beschl. v. 18.03.2021 - 18 E 221/21 -, juris Rn. 18; zu von Georgien organisierten Rückholcharterflügen Sächs. OVG, Beschl. v. 13.08.2021 - 3 B 277/21 -, juris Rn. 25).

Für eine Anwendung der vom Antragsteller für seinen Antrag hilfsweise herangezogenen §§ 24, 25 NPOG bleibt vorliegend kein Raum, da die neu geschaffenen § 58 Abs. 6 bis 10 AufenthG für die Durchsuchung zum Zweck der Sicherung der Abschiebung (und nicht mit dem Ziel der Gefahrenabwehr) spezielle Regelungen vorsehen (vgl. BGH, Beschl. v. 12.07.2022 - 3 ZB 6/21 -, juris Rn. 14 ff.). Im Übrigen wäre die geplante Durchsuchung zur Nachtzeit hier nach § 24 Abs. 4 NPOG ebenfalls unzulässig, weil die in § 24 Abs. 2 Nrn. 3, 4 und Abs. 3 NPOG genannten Voraussetzungen nicht vorliegen. Darüber hinaus kann eine Durchsuchungsanordnung auch nicht auf den von dem Antragsteller angesprochenen § 24 Abs. 5 NPOG gestützt werden, weil diese Vorschrift von ihrem Wortlaut her lediglich das Betreten einer Wohnung und nicht ihr Durchsuchen umfasst (vgl. Neuhäuser in: BeckOK PolR Nds, 26. Ed. 01.02.2023, NPOG § 24 Rn. 55).

Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da das Verfahren gerichtskostenfrei ist und die Auslagen des Antragstellers nicht erstattungsfähig sind. Angesichts der fehlenden Beteiligung des Betroffenen handelt es sich nicht um ein kontradiktatorisches Verfahren (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 30.09.2019 - 2 S 262/19 -, juris Rn. 24).