Verwaltungsgericht Göttingen
Beschl. v. 19.06.2023, Az.: 1 E 184/23

Abschiebung; Durchsuchung; Durchsuchungsbeschluss; Nachtzeit; Antrag auf richterliche Anordnung der Durchsuchung einer Wohnung zur Sicherung der Abschiebung hier: keine Glaubhaftmachung, dass die Durchsuchung zur Nachtzeit nicht auf der Organisation der Abschiebung i.S.d. § 58 Abs. 5 Satz 2 AufenthG beruht

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
19.06.2023
Aktenzeichen
1 E 184/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 21891
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGGOETT:2023:0619.1E184.23.00

Fundstellen

  • AUAS 2023, 158-159
  • NPA 2024

[Gründe]

Der Antrag vom 14.06.2023

auf Erteilung einer richterlichen Anordnung zur Durchsuchung der Wohnung von Herrn C. D., Frau E. F. und ihrer Kinder G. und H. D. in I. J. zur Durchführung ihrer Abschiebung am 21.06.2023,

hat keinen Erfolg. Er ist zulässig (hierzu unter 1.), aber unbegründet (hierzu unter 2.).

1.

Der Verwaltungsrechtsweg ist eröffnet (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.10.2022 - 1 B 65.22 -, juris Rn. 3 ff.; Nds. OVG, Beschl. v. 23.11.2022 - 13 ME 276/22 -, juris Rn. 2). Weiter ist die Antragstellerin auch die für die Durchführung der beabsichtigten Abschiebung der betroffenen Ausländerin zuständige Behörde (vgl. Beschlüsse d. Kammer v. 25.08.2022 - 1 E 189/22 -, juris Rn. 2; v. 19.10.2022 - 1 E 230/22 -, juris Rn. 2; Nds. OVG, Beschl. v. 23.11.2022 - 13 ME 276/22 -, juris Rn. 14) und somit antragsberechtigt, § 58 Abs. 6 Satz 1 AufenthG.

Darüber hinaus ist der Antrag statthaft, da für die von der Antragstellerin beabsichtigte Maßnahme der Wohnungsdurchsuchung zur Nachtzeit eine richterliche Anordnung notwendig ist, § 58 Abs. 6, 5 Satz 2, 7, 8 Satz 1 AufenthG.

Der Antrag der Antragstellerin ist auch formgerecht. Insbesondere ist der Antrag schriftlich gestellt worden und enthält unbeschadet der gerichtlichen Aufklärungsverfügung vom 15.06.2023 die zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit der beabsichtigten Maßnahme notwendigen Angaben, insbesondere zur vollziehbaren Ausreisepflicht der von der Maßnahme betroffenen Ausländer, zur Erforderlichkeit der Durchsuchung der Wohnung und zur Benennung von Tatsachen, die eine Durchsuchung zur Nachtzeit erforderlich machen (zu diesen Anforderungen vgl. VG Düsseldorf, Beschl. v. 16.11.2020 - 7 I 32/20 -, juris, Rn. 20 ff.; Beschl. d. Kammer vom 27.04.2023 - 1 E 142/23 -, juris Rn. 15).

2.

Der Antrag ist unbegründet, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für die Durchsuchung zur Nachtzeit nicht vorliegen.

Nach § 58 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darf die Wohnung zur Nachtzeit (d. h. zwischen 21 und 6 Uhr, vgl. § 104 Abs. 3 StPO, § 173 VwGO i.V.m. § 758a Abs. 4 Satz 2 ZPO) nur betreten oder durchsucht werden, wenn Tatsachen vorliegen, aus denen zu schließen ist, dass die Ergreifung des Ausländers zum Zweck seiner Abschiebung andernfalls vereitelt wird. Die Organisation der Abschiebung ist keine Tatsache im Sinne von Satz 1 (§ 58 Abs. 7 Satz 2 AufenthG). Dieser Regelung liegt der Gedanke zugrunde, dass organisatorische Defizite oder bloße Organisationserwägungen einer Behörde nicht zu Lasten des Grundrechtsträgers gehen sollen. Sofern die für die Abschiebung zuständige Behörde eigene Charterflüge für die Abschiebung einsetzen kann, hat sie die Abflugzeiten so zu legen, dass eine Ergreifung des abzuschiebenden Ausländers zur Nachtzeit möglichst vermieden werden kann. Organisatorische Rahmenbedingungen, die weder durch die zuständige Behörde noch durch bei der Abschiebung beteiligte sonstige deutsche Behörden beeinflusst werden können und damit deren Organisationsspielraum begrenzen, sind jedoch keine organisatorischen Gründe i. S. d. einschränkenden Regelung der Vorschrift (vgl. OVG NW, Beschl. v. 18.03.2021 - 18 E 221/21 -, juris Rn. 18; noch offenlassend Beschl. d. Kammer v. 16.05.2023 - 1 E 153/23 -, juris Rn. 21).

Die Antragstellerin trägt zur Begründung des beabsichtigten Zeitpunkts der Durchsuchung am 21.06.2023 um 4:30 Uhr vor, dass am 21.06.2023 ein Sammelcharter um 12 Uhr aus K. L. starte. Unter Berücksichtigung der Fahrzeit von der Wohnung der Betroffenen, der Vorlaufzeit für das Packen der Koffer und des Zeitfensters für die Übergabe am Flughafen bis 9 Uhr stünde ein späterer Zugriff (also insbesondere außerhalb der Nachtzeit ab 6:01 Uhr) der Maßnahme entgegen. Ergänzend trägt die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 16.06.2023 vor, dass der Charterflug auf Initiative des Landes Baden-Württemberg von der Bundespolizei organisiert worden sei. Diese habe den Termin und die Uhrzeit des Abflugs festgelegt, sie - die Antragstellerin - habe darauf keinen Einfluss gehabt. Ein Linienflug habe nicht gebucht werden können, weil Fluggesellschaften die Mitnahme von höchstens drei Personen akzeptierten. Die Familie hätte daher getrennt werden müssen, was ihr habe erspart werden sollen.

Zwar ist der zeitliche Ablauf für den 21.06.2023 nachvollziehbar. Ebenfalls geht die Kammer davon aus, dass Fluggesellschaften auf Linienflügen die Anzahl der Personen begrenzen. Allerdings ist die (bloße) Behauptung der Antragstellerin, sie habe auf die Abflugzeit des Sammelcharterfluges keinen Einfluss gehabt, nicht glaubhaft gemacht. Der Sammelflug am 21.06.2023 ist von einer deutschen Behörde, der Bundespolizei, organisiert worden. Es ist lebensfremd anzunehmen, dass es keinen fachlichen Austausch zwischen der Antragstellerin und der Bundespolizei zur Durchführung von Abschiebungen gibt und die Antragstellerin ihre Anliegen nicht anbringen kann, auch Flüge von Flughäfen außerhalb Niedersachsens so zu legen, dass ein Ergreifen der abzuschiebenden Ausländer zur Nachtzeit vermieden wird, zumal die Voraussetzungen von § 58 Abs. 7 Satz 1, 2 AufenthG bundesweit gelten (anders bei einem durch georgische Behörden organisierten Flug, vgl. VG Dresden, Beschl. v. 10.12.2021 - 3 O 12/21 -, juris Rn. 17). Der von der Kammer noch gesondert beigezogenen Ausländerakte des betroffenen Familienältesten ist nicht zu entnehmen, dass sich die Antragstellerin um eine Einflussnahme auf die Abflugzeiten ganz allgemein oder auf die Abflugzeit des konkreten Sammelcharters bemüht hätte. Es ist auch nicht glaubhaft gemacht, dass die Bundespolizei ihrerseits ausschließlich einen Abflugslot um 12 Uhr vom Flughafen K. L. sichern konnte und deshalb die Festlegung der Abflugzeit dem Einfluss von deutschen Behörden entzogen war. Dazu behauptet die Antragstellerin lediglich, dass "einzig der Flugplan" die Abflugzeit begrenze, also keine andere Abflugzeit erreichbar gewesen wäre. Das ist der Kammer auch in Kenntnis der engen Slots am Flughafen K. L. nicht ohne weitere Glaubhaftmachung einsichtig. Schließlich ist nicht erkennbar, dass die Antragstellerin geprüft hätte, ob nicht zu einer anderen Zeit ein Sammelcharterflug erreichbar gewesen wäre, mit dem die Durchsuchung zur Nachtzeit hätte vermieden werden können.

Für eine Anwendung der vom Antragsteller für seinen Antrag hilfsweise herangezogenen §§ 24, 25 NPOG bleibt vorliegend kein Raum, da die neu geschaffenen § 58 Abs. 6 bis 10 AufenthG für die Durchsuchung zum Zweck der Sicherung der Abschiebung (und nicht mit dem Ziel der Gefahrenabwehr) spezielle Regelungen vorsehen (vgl. Beschl. v. Kammer v. 16.05.2023, a.a.O., Rn. 22, mit Verweis auf BGH, Beschl. v. 12.07.2022 - 3 ZB 6/21 -, juris Rn. 14 ff.). Im Übrigen wäre die geplante Durchsuchung zur Nachtzeit hier nach § 24 Abs. 4 NPOG ebenfalls unzulässig, weil die in § 24 Abs. 2 Nrn. 3, 4 und Abs. 3 NPOG genannten Voraussetzungen nicht vorliegen. Darüber hinaus kann eine Durchsuchungsanordnung auch nicht auf den von dem Antragsteller angesprochenen § 24 Abs. 5 NPOG gestützt werden, weil diese Vorschrift von ihrem Wortlaut her lediglich das Betreten einer Wohnung und nicht ihr Durchsuchen umfasst (vgl. Neuhäuser in: BeckOK PolR Nds, 26. Ed. 01.02.2023, NPOG § 24 Rn. 55). Sie bedeutet lediglich, dass in Niedersachsen das Betreten von Wohnungen zur Nachtzeit unter den Voraussetzungen von § 25 Abs. 5 NPOG abweichend von § 58 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zulässig ist, weil es sich insoweit um eine weitergehende Regelung i.S.d. § 58 Abs. 10 AufenthG handelt, die unberührt bleibt.

Einer Kostenentscheidung bedarf es nicht, da das Verfahren gerichtskostenfrei ist und die Auslagen des Antragstellers nicht erstattungsfähig sind. Angesichts der fehlenden Beteiligung des Betroffenen handelt es sich nicht um ein kontradiktatorisches Verfahren (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 30.09.2019 - 2 S 262/19 -, juris Rn. 24).