Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 04.12.2023, Az.: 3 B 5052/23

Länderübergreifende Umverteilung; Prozessfähigkeit; Prozesspfleger; Prozesspflegschaft; unbegleitet eingereiste Minderjährige; unbegleitet eingereiste Minderjährige - UMA -; Unbegleiteter minderjähriger Ausländer; Unbegleiteter minderjähriger Flüchtling; Verfahrenspfleger; Verfahrenspflegschaft; Bestellung eines Verfahrenspflegers für UMA bei Rechtsschutzgesuch gegen Umverteilungsentscheidung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
04.12.2023
Aktenzeichen
3 B 5052/23
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2023, 48196
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:VGHANNO:2023:1204.3B5052.23.00

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Wendet sich ein unbegleitet eingereister minderjähriger Ausländer (UMA) gegen seine länderübergreifende Verteilung gemäß § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII, ist ihm gemäß § 173 VwGO i.V.m. § 57 ZPO in entsprechender Anwendung ein Verfahrenspfleger zu bestellen, wenn er zur eigenständigen Führung des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht in der Lage ist. Das ist jedenfalls dann der Fall, wenn ihm aus Altersgründen und/oder mangels zumindest faktischer Unterstützung hinreichend sachkundiger Erwachsener eine eigenständige Verfahrensführung nicht zuzumuten ist.

  2. 2.

    Zur Führung der Verfahrenspflegschaft in einem solchen Fall ist regelmäßig eine Rechtsanwältin oder ein Rechtsanwalt unter Feststellung der berufsmäßigen Ausübung als berufsspezifische Tätigkeit zu bestellen, um dem Gebot prozessualer "Waffengleichheit" zu genügen.

Tenor:

Für den Kläger und Antragsteller wird in beiden Verfahren jeweils Rechtsanwalt B., A-Straße, A-Stadt, als Verfahrenspfleger bestellt.

Es wird die Berufsmäßigkeit der Führung der Verfahrenspflegschaften als berufsspezifische Tätigkeit des bestellten Verfahrenspflegers als Rechtsanwalt festgestellt.

Die Bestellungen enden, sobald für den Kläger und Antragsteller ein Vormund bestellt ist.

Gründe

1.

Die Bestellung eines Verfahrenspflegers für den als ausländischer Minderjähriger unbegleitet eingereisten (im Folgenden: UMA) Kläger und Antragsteller, für den ein Vormund noch nicht bestellt ist, beruht auf § 173 VwGO in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung des § 57 Abs. 1 ZPO.

a)

Zwar regelt § 57 ZPO unmittelbar nur die Bestellung eines Verfahrenspflegers für eine prozessunfähige Passivpartei. Es ist in der Rechtsprechung jedoch anerkannt, dass in einem verwaltungsgerichtlichen Verfahren auch für eine prozessunfähige Aktivpartei jedenfalls dann ein Verfahrenspfleger zu bestellen ist, wenn in dem Verfahren Rechtsschutz gegen einen belastenden Verwaltungsakt begehrt wird, weil der Kläger als Adressat des belastenden Verwaltungsaktes typischerweise in der Lage desjenigen ist, der nicht aus eigenem freien Entschluss eine Erweiterung seines Rechtskreises anstrebt, sondern sich gegen eine ihm aufgezwungene Beschränkung seiner Rechtsposition wehren will bzw. muss (vgl. BVerwG, Urt. v. 03.12.1965, - VII C 90.61 -, BVerwGE 23, 15, 17; VGH BW, Urt. v. 20.09.1989, - 6 S 1545/89 -, VBl.BW 1990, 135).

Eine solche Konstellation ist vorliegend im Grundsatz gegeben. Der minderjährige Kläger und Antragsteller wendet sich gegen seine länderübergreifende Verteilung gemäß §§ 42a SGB VIII aus dem Bereich der Beigeladenen zu 1. in den Bereich des Beigeladenen zu 2. In der Rechtsprechung des Gerichts ist geklärt, dass diesbezüglich die Zuweisungsentscheidung des Beklagten und Antragsgegners gemäß § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII die im Außenverhältnis zum Kläger und Antragsteller Rechtswirksamkeit erlangende Entscheidung ist, gegen die verwaltungsgerichtlicher Rechtsschutz in Form einer Anfechtungsklage und ggf. eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO gesucht werden kann (vgl. VG Hannover, Beschl. v. 14.10.2019, - 3 B 4442/19 -, juris und Beschl. v. 08.07.2023, - 3 B 3714/23 -, juris, bestätigt vom Nds. OVG, Beschl. v. 26.09.2023, - 14 ME 84/23 -, bisher n. v.).

b)

Zwar ist das erkennende Gericht in seiner Entscheidung vom 08.07.2023 (3 B 3714/23, a.a.O.) davon ausgegangen, dass sich in einer Konstellation wie der vorliegenden für einen UMA eine Prozessfähigkeit aus § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO ergibt. Unabhängig von der Frage, ob an dieser Auffassung im Grundsatz festzuhalten ist, ist sie jedoch zumindest weiter danach zu differenzieren, ob bei dem betroffenen UMA bereits eine hinreichende Einsichtsfähigkeit besteht, um ihm die grundsätzlich eigenständige Führung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens zuzutrauen bzw. zuzumuten. Insoweit kann und muss ggf. auch in die Betrachtung einbezogen werden, ob der UMA jenseits einer formalisierten rechtlichen Vertretung in der Streitsache Unterstützung von Erwachsenen erhält, die ggf. für ihn sogar eine rechtsanwaltliche Vertretung organisieren, wie es in dem vom erkennenden Gericht am 08.07.2023 entschiedenen Verfahren der Fall war. Jedenfalls wenn einem UMA angesichts seines - behaupteten oder von den beteiligten Jugendhilfebehörden zu Grunde gelegten - Alters und mangels hinreichend sachkundiger Unterstützung von erwachsenen Personen die eigenständige Führung eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nicht zuzutrauen bzw. zuzumuten ist, kommt eine Anwendung des § 62 Abs. 1 Nr. 2 VwGO nicht in Betracht, sondern ist von einer Prozessunfähigkeit des UMA auszugehen. Zur Wahrung des Justizgewährungsanspruchs aus Art. 19 Abs. 4 GG bedarf es für einen solchen UMA der Bestellung eines Verfahrenspflegers. In dem gegen die Zuweisungsentscheidung nach § 42b Abs. 3 Satz 1 SGB VIII von dem UMA selbst an das zur Entscheidung berufene Gericht gerichteten Rechtsschutzgesuch ist dabei in einem derartigen Fall zugleich ein Antrag auf Bestellung eines Verfahrenspflegers zu sehen.

c)

Ausgehend davon ist im vorliegenden Fall in Abgrenzung zu der Entscheidung des erkennenden Gerichts vom 08.07.2023 (s.o.) für den Kläger und Antragsteller ein Verfahrenspfleger zu bestellen, da er nicht als eigenständig prozessfähig anzusehen ist. Denn er ist nach dem Kenntnisstand des Gerichts erst 14 Jahre alt und kann auch nicht auf eine ausreichende Unterstützung seitens erwachsener Personen zurückgreifen, um die anhängigen Verfahren eigenständig zu führen. Es besteht für ihn zudem derzeit keine rechtliche Vertretung, die die Führung der Gerichtsverfahren für ihn mit umfasst. Die Bestellung eines Vormunds für ihn ist bisher weder im Rahmen der vorläufigen Inobhutnahme seitens der Beigeladenen zu 1. noch nach dessen Zuführung zum Beigeladenen zu 2. von dessen Jugendamt beantragt worden. Das Jugendamt des Beigeladenen zu 2. kann den Kläger und Antragsteller in den anhängigen Gerichtsverfahren auch nicht gemäß § 42 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII (not-)vertreten. Denn der Beigeladene zu 2. ist als notwendig Beigeladener selbst eigenständiger Beteiligter der Gerichtsverfahren, weshalb zumindest die Möglichkeit einer Interessenkollision besteht.

2.

In Fällen der vorliegenden Art bedarf es der Berufung einer Rechtsanwältin oder eines Rechtsanwaltes als Verfahrenspflegerin bzw. -pflegers für den betroffenen UMA. Das gebietet der Grundsatz der prozessualen Waffengleichheit. Denn die Verfahren sind rechtlich und tatsächlich nicht einfach gelagert. Den beteiligten öffentlichen Rechtsträgern steht insoweit grundsätzlich spezifischer Sachverstand zur Verfügung, dem der betroffene UMA Gleichwertiges entgegensetzen können muss. Daraus folgt zugleich, dass die Berufsmäßigkeit der Führung der Verfahrenspflegschaft als berufsspezifische Tätigkeit als Rechtsanwältin oder als Rechtsanwalt festzustellen ist mit der Folge, dass die bestellte Verfahrenspflegerin bzw. der bestellte Verfahrenspfleger die Tätigkeit nach den für die Berufsausübung einschlägigen Regelungen von der Staatskasse vergütet bekommt. Es ist nicht davon auszugehen, dass eine Rechtsanwältin oder ein Rechtsanwalt bereit wäre, diese Tätigkeit ohne Vergütung zu übernehmen. Das wäre ihr oder ihm auch nicht zuzumuten.

3.

Die Auswahl der zur Führung der Verfahrenspflegschaften zu bestellenden Person obliegt nach § 173 VwGO i. V. m. § 57 ZPO in entsprechender Anwendung dem Vorsitzenden des Prozessgerichts.

Der bestellte Rechtsanwalt B. hat sich auf Anfrage des Vorsitzenden zur Übernahme der Verfahrenspflegschaften bereit erklärt. Er hat seinen Bürositz zumindest in relativer Nähe zum derzeitigen Aufenthaltsort des Klägers und Antragstellers im Bereich des Beigeladenen zu 2. und kann deshalb mit diesem mit angemessenem Zeitaufwand unmittelbar in persönlichen Kontakt treten. Sowohl das Aufenthalts- und Asylrecht als auch das Sozialrecht gehören zu seinen Interessenschwerpunkten. Außerdem spricht er arabisch, weshalb er sich mit dem Kläger und Antragsteller ohne Beiziehung eines Sprachmittlers verständigen kann.

Sobald für den Kläger und Antragsteller vom Familiengericht ein Vormund bestellt sein wird, wird das Bedürfnis für die Verfahrenspflegschaften entfallen, weshalb die Bestellungen dahingehend zeitlich zu begrenzen sind.