Verwaltungsgericht Oldenburg
Beschl. v. 22.03.2022, Az.: 5 B 294/22

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
22.03.2022
Aktenzeichen
5 B 294/22
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2022, 59866
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Fundstelle

  • NuR 2022, 809-812

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Frage, ob § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG die Entnahme von nicht individualisierten Wölfen aus mehr als einem Wolfsrudel gestattet.
Nach dem Wortlaut, der Systematik und dem Normzweck sowie den europarechtlichen Zusammenhängen spricht Überwiegendes dafür, dass § 45a Abs. 2 BNatSchG nicht auf mehr als ein Wolfsrudel anwendbar ist.
Jedenfalls müssen sämtliche Voraussetzungen aus den §§ 45 Abs. 7, 45a Abs. 2 BNatSchG für alle von einer Abschussgenehmigung erfassten Wolfsrudel erfüllt sein. Dies gilt insbesondere für die im Rahmen der vorzunehmenden Schadenprognose zu prüfende Frage, ob bei dem jeweiligen Wolfsrudel ein problematisches Jagdverhalten vorliegt und deshalb bei ungehindertem Geschehensfortgang in naher Zukunft zu erwarten ist, dass dieses Rudel eine größere Zahl von Nutztieren reißen und dadurch erhebliche Eigentumsschäden verursachen wird.

Gründe

I.

Der Antragsteller begehrt mit seinem vorläufigen Rechtsschutzantrag die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruches gegen eine unter Anordnung der sofortigen Vollziehung ergangene Verfügung des Antragsgegners, mit der dieser eine Ausnahmegenehmigung zum Abschuss von Individuen der streng geschützten Tierart Wolf aus den Rudeln „Schiffdorf“ und „Garlstedt“ erteilte.

Nach einer Reihe von Schaf-, Rinder- und Pferderissen durch Wölfe in den Territorien der Rudel „Schiffdorf“ und „Garlstedt“ erteilte der Antragsgegner mit Bescheid vom 14. Januar 2022 eine Ausnahmegenehmigung für die zielgerichtete letale Entnahme eines Individuums der streng geschützten Tierart Wolf (Canis lupus) aus den Rudeln „Schiffdorf“ und „Garlstedt“. In den Inhalts- und Nebenbestimmungen wurde die Ausnahmegenehmigung bis zum 31. März 2022 befristet (Ziffer 2) und räumlich auf bestimmte, zum Territorium der Rudel „Schiffdorf“ und „Garlstedt“ gehörende Stadt- und Gemeindegebiete in den Landkreisen Cuxhaven und Osterholz beschränkt (Ziffer 3). Ferner erlaubte der Bescheid eine Identifizierung der Rudelzugehörigkeit zum „Schiffdorfer“ oder „Garlsteder“ Rudel über den engen räumlich-zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die zugeordneten Rissereignisse (Ziffer 4). Unter Ziffer 5 der Nebenbestimmungen wurde angeordnet, dass nach jeder Entnahme eines Einzeltieres abgewartet werden müsse, ob im jeweiligen Revier die Nutztierrisse aufhörten. Sei dies nicht der Fall und träten weitere Übergriffe auf, könne in einem engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen sukzessive jeweils ein weiteres Mitglied der beiden Rudel bis zum Ausbleiben der Schäden entnommen werden, wobei sicherzustellen sei, dass keine Welpen und keine erkennbar laktierende Fähe entnommen werden.

Der Antragsteller hat gegen diesen Bescheid mit Schreiben vom 24. Januar 2022 Widerspruch eingelegt.

Zur Begründung des vorläufigen Rechtsschutzantrages trägt der Antragsteller im Wesentlichen Folgendes vor:

Die hier streitgegenständliche Abschussgenehmigung sei schon deshalb rechtswidrig, weil sie nicht bestimme, welche Rudeltiere vorrangig vor den Rudeltieren des jeweils anderen Rudels geschossen werden sollten. Der Antragsgegner habe auch nur eine Gefahrenprognose für beide Rudelsachverhalte getroffen; es fehle somit an einer zweiten Gefahrenprognose für das zweite der beiden Rudel.

Ein weiteres Defizit der Gefahrenprognose liege darin, dass mindestens beim NTR 1757 der Wolf GW 2419m als Verursacherwolf identifiziert worden sei mit dem Zusatz „Rudelzugehörigkeit unbekannt“. Die Wölfe GW2419m und GW2403m tauchten recht häufig in der Tabelle der Nutztierrisse auf. Bei beiden Tieren dürfte es sich um Jungwölfe auf Wanderschaft handeln, die nunmehr außer Reichweite seien. Wanderwölfe gehörten nicht einem Rudel an und seien deshalb nicht in die Gefahrenprognose einzubeziehen.

Der Antragsgegner sei auch zu Unrecht davon ausgegangen, dass ein Schaden an landwirtschaftlichen Nutztieren drohe. Die vom Antragsgegner aufgelisteten Rissereignisse stellten keine Fälle des Überwindens von Schutzmaßnahmen dar. Beim NTR 1759 sei die Erdung des Zaunes nicht gemessen worden. Beim NTR 1757 fehle die Zaunbezeichnung und die Angabe, ob die Erdung gemessen worden sei. Außerdem sei hier der Wanderwolf GW2419m identifiziert worden. In beiden Fällen seien keine Herdenschutzhunde eingesetzt worden. Beim NTR 1722 habe ein Elektrozaun mit Untergrabschutz gefehlt. Zudem seien nur drei Minipferde betroffen gewesen, die nicht herdenschutzfähig seien. Bei den NTR 1710 und 1647 hätten jeweils der Elektrozaun sowie Bullen zur Sicherstellung der Herdenschutzfähigkeit gefehlt. Ähnliches gelte für den NTR 1511, da hier die Bullen zu jung gewesen seien. Beim NTR 1487 habe es wiederum an einem Elektrozaun sowie an Herdenschutzhunden gefehlt.

Zudem sei die vom Antragsgegner vorgenommene Schadensprognose auch deshalb fehlerhaft, weil der Antragsgegner zu Unrecht von der Selbstschutzfähigkeit von Rindern und Pferden ausgegangen sei. Hinzu kämen weitere Prognosefehler. So seien auch Rissereignisse einbezogen worden, die zeitlich viel zu lang zurücklägen. Dem Rudel „Garlstedt“ habe überhaupt kein relevantes Rissereignis zugeordnet werden können.

Ferner habe der Antragsgegner verkannt, dass es jedem Schafzüchter zumutbar sei, Herdenschutzhunde zu halten.

Schließlich sei die Nebenbestimmung unter Ziffer 4 zu unbestimmt gefasst worden. Eine plausible Erklärung für die Definition des engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhangs mit Rissereignissen fehle. Entsprechendes gelte für die Nebenbestimmung in Ziffer 5. Hier fehle eine Angabe dazu, wie lange gewartet werden müsse, um ein weiteres Tier abzuschießen.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 24. Januar 2022 gegen die Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 14. Januar 2022 wiederherzustellen.

Der Antragsgegner beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Er tritt dem vorläufigen Rechtsschutzbegehren des Antragstellers unter Wiederholung und Vertiefung der Gründe des angefochtenen Bescheides entgegen und trägt im Hinblick auf die Antragsbegründung vor:

Der Abschussgenehmigung liege ein einheitlicher Sachverhalt zugrunde. Dieser beziehe sich auf das Rissgeschehen seit Februar 2020 in den Territorien „Garlstedt“ und „Schiffdorf“.

Die Rudelzugehörigkeit der Wölfe GW2419m und GW2403m sei noch nicht geklärt; sie seien aber in den von der Ausnahmegenehmigung umfassten Gebieten genetisch nachgewiesen worden. Der Wolf GW2419m sei als schadensverursachender Wolf des NTR 1757 für die Erteilung der Genehmigung zu Recht berücksichtigt worden.

Die Kritik an der Schadensprognose sei unberechtigt. Die Wölfe in den beiden Territorien „Garlstedt“ und „Schiffdorf“ hätten in mehreren Fällen den wolfsabweisenden Herdenschutz überwunden. Bei den berücksichtigten Nutztierrissen seien entgegen der Ansicht des Antragstellers ausreichende und funktionsfähige Schutzmaßnahmen für Schafherden bzw. bei den Rinder- und Pferderissen ein selbstschutzfähiger Herdenverband vorhanden gewesen. Letztere Annahme beruhe auf einer fachlichen Einschätzung des Nds. Umwelt- und Landwirtschaftsministerium und sei in verschiedenen Entscheidungen des Nds. Oberverwaltungsgerichts mehrfach bestätigt worden. Ferner ergebe sich aus der Risstabelle, dass die Wölfe aus beiden Rudeln bei weit mehr als den der Genehmigung zugrunde gelegten Rissvorfällen ein Mindestmaß an wolfsabweisenden Schutz überwunden hätten.

Die Maßgaben in den Nebenbestimmungen Nr. 3 und 4 für die Identifizierung eines zu entnehmenden Wolfes aus beiden Rudeln durch den definierten engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit den eingetretenen Rissereignissen entsprächen den Vorgaben des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG.

Zumutbare Alternativen zur Wolfsentnahme bestünden nicht; insbesondere stelle der vom Antragsteller von allen Schafhaltern geforderten Einsatz von Herdenschutzhunden aufgrund des hohen Zeit- und Arbeitsaufwandes, der mit der Haltung und Betreuung von Herdenschutzhunden einhergehe, keine zumutbare Alternative zur Abschussgenehmigung dar.

Hinsichtlich des vom Antragsteller gerügten Verzichts auf Individualisierung sei darauf hinzuweisen, dass die Territorien der beiden Wolfsrudel eng aneinander lägen und sich teilweise überlappten. Die schadensverursachenden Wölfe ließen sich nur zum Teil individualisieren bzw. einem der beiden Rudel zuordnen. Vor diesem Hintergrund werde die Rudelzugehörigkeit in den verfügten Nebenbestimmungen Nr. 3 und 4 durch einen engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang an die bereits eingetretenen Nutztierschäden der dortigen Nutztierhaltungen bestmöglich gewährleistet. Daneben sei der unmittelbare Bezug zum schadensverursachenden Tier durch einen Radius von 500 m um die Nutztierhaltung im Entnahmegebiet weiter präzisiert worden. Diese Maßgaben für die Identifizierung eines zu entnehmenden Wolfs aus beiden Rudeln entsprächen den gesetzlichen Vorgaben des § 45a Abs. 2 BNatSchG.

Es könne entgegen der Ansicht des Antragstellers nicht davon ausgegangen werden, dass es durch die Genehmigung zu einem Abschuss von Wölfen in nicht absehbarer Größenordnung komme. Zugelassen sei vielmehr eine nur sukzessive Entnahme von Tieren aus den betroffenen Rudeln. Nach einem erfolgten Abschuss werde der Vollzug der Genehmigung ausgesetzt. Nur wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Entnahme weiterhin vorlägen, werde die Genehmigung wieder in Kraft gesetzt. Dem ginge in jedem Fall aber eine Neubewertung der Schadensprognose und eine erneute Beurteilung des Erhaltungszustandes der Population voraus. Allerdings sei darauf hinzuweisen, dass die Regelung des § 45a Abs. 2 BNatSchG letztendlich im Einzelfall auch die Entnahme eines gesamten Rudels gestatte.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der vom Antragsgegner vorgelegte Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

Der vorläufige Rechtsschutzantrag des Antragstellers ist zulässig und begründet.

Der Antrag ist auf die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches des Antragstellers gegen die mit Bescheid vom 14. Januar 2022 vom Antragsgegner verfügte Ausnahmegenehmigung gerichtet. Dieser Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 S. 1 2. Alt. VwGO statthaft, weil der Antragsgegner die sofortige Vollziehung der Verfügung nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO angeordnet hat. Der Antrag ist auch im Übrigen zulässig, insbesondere ist der Antragsteller als eine nach § 3 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) anerkannte Umwelt- und Naturschutzvereinigung (vgl. Anerkennungsbescheid des Umweltbundesamtes vom 25. Januar 2018) gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 UmwRG antragsbefugt (vgl. ausführlich OVG Lüneburg , Beschluss vom 26. Juni 2020 – 4 ME 116/20 –, juris).

Der Antrag hat auch in der Sache Erfolg.

Die Anordnung der sofortigen Vollziehung in dem Bescheid des Antragsgegners ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden, weil die entsprechenden Ausführungen des Antragsgegners den Anforderungen, die sich aus § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO für die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung ergeben, genügen.

In materiell-rechtlicher Hinsicht erfordert die gerichtliche Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO eine Abwägung des Interesses des Antragstellers, von der Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsaktes bis zur endgültigen Entscheidung über seine Rechtmäßigkeit verschont zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Diese Abwägung fällt in der Regel zu Lasten des Antragstellers aus, wenn bereits im Aussetzungsverfahren bei summarischer Prüfung zu erkennen ist, dass sein Rechtsbehelf offensichtlich keinen Erfolg haben wird. Dagegen überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers in aller Regel, wenn sich der Rechtsbehelf als offensichtlich begründet erweist (vgl. Nds. OVG, Beschluss vom 2. Februar 2022 – 4 ME 231/21 –, juris).

Lässt sich nach der im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotenen summarischen Prüfung weder die Rechtmäßigkeit noch die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes mit der erforderlichen Sicherheit feststellen, so ergeht die Entscheidung aufgrund einer weiteren Interessenabwägung, in der zum einen die Auswirkungen in Bezug auf das öffentliche Interesse in dem Fall, dass dem Antrag stattgegeben wird, der Rechtsbehelf im Hauptsacheverfahren aber erfolglos bleibt, und zum anderen die Auswirkungen auf den Betroffenen für den Fall, dass es zunächst bei der vorläufigen Vollziehung des Verwaltungsaktes bleibt, sein Rechtsschutzbegehren im Hauptsacheverfahren dann jedoch Erfolg hat, gegenüber zu stellen sind (siehe zu den Einzelheiten W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 80 Rn.152 f.).

Ausgehend von diesen Maßstäben geht die Interessenabwägung zugunsten des Antragstellers aus, weil sich die angefochtene Ausnahmegenehmigung des Antragsgegners vom 14. Januar 2022 bei summarischer Prüfung voraussichtlich als rechtswidrig erweist.

Rechtsgrundlage der streitgegenständlichen Ausnahmegenehmigung sind die §§ 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1, 45a Abs. 2 BNatSchG.

Gemäß § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG kann die nach Landesrecht für Naturschutz und Landschaftspflege zuständige Behörde u.a. von dem artenschutzrechtlichen Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG, unter das als streng geschützte Art auch der Wolf fällt, zur Abwendung ernster landwirtschaftlicher Schäden im Einzelfall Ausnahmen zulassen. Diese Regelung bezieht sich auf einzelne, als schadensverursachend identifizierte Wolfsindividuen.

Der Antragsgegner hat die streitgegenständliche Ausnahmegenehmigung indessen nicht auf einzelne Wolfsindividuen bezogen, sondern allgemein die Entnahme von Wolfsindividuen aus den Rudeln „Schiffdorf“ und „Garlstedt“ gestattet. Unter den Ziffern 3, 4 und 6 der Inhalts-/Nebenbestimmungen des Bescheides vom 14. Januar 2022 hat der Antragsgegner hierzu weiter geregelt, dass eine Identifizierung der Rudelzugehörigkeit zum „Schiffdorfer“ und „Garlstedter“ Rudel über den engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die zugeordneten Rissereignisse erfolgt.

Gestützt hat der Antragsgegner diese Inhalts-/Nebenbestimmungen auf die Regelung des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG, wonach im Umgang mit dem Wolf § 45 Abs. 7 Satz 1 BNatSchG mit der Maßgabe gilt, dass, wenn Schäden bei Nutztierrissen keinem bestimmten Wolf eines Rudels zugeordnet worden sind, der Abschuss von einzelnen Mitgliedern des Wolfsrudels in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit bereits eingetretenen Rissereignissen auch ohne Zuordnung der Schäden zu einem bestimmten Einzeltier bis zum Ausbleiben von Schäden fortgeführt werden darf.

Der Anwendungsbereich dieser Regelung ist in der Rechtsprechung bislang nicht abschließend geklärt.

Das VG Lüneburg geht unter Hinweis auf den Wortlaut der Vorschrift davon aus, dass § 45a Abs. 2 BNatSchG nur den Fall regelt, dass bereits eingetretene Rissereignisse einem bestimmten einzelnen Wolf nicht zugeordnet werden können (VG Lüneburg, Beschluss vom 11. Juni 2020 – 2 B 56/20 – V.n.b.). Das OVG Lüneburg hat in der Entscheidung über die Beschwerde gegen den Beschluss des VG Lüneburg (OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juni 2020 – 4 ME 116/20 –, juris) letztlich offengelassen, ob dieser Auffassung zu folgen ist. Es hat allerdings unter Hinweis auf die amtliche Begründung des zugrunde liegenden Gesetzentwurfs, wonach die Regelung auch den Fall erfassen soll, dass einem oder mehreren Wölfen Nutztierrisse eindeutig genetisch zugeordnet werden können, sich eine gezielte Tötung aber schwierig gestaltet, weil der jeweilige Wolf wegen des Fehlens besonderer, leicht erkennbarer äußerer Merkmale (zum Beispiel eine besondere Fellzeichnung) nicht in der Landschaft erkannt und von anderen Wolfsindividuen unterschieden werden könne, sowie unter Hinweis auf eine im Wege der Auslegung grundsätzlich mögliche Überwindung des Wortlautes der Vorschrift zu erkennen gegeben, dass es eine erweiternde Auslegung der Regelung für möglich hält.

Mit der hier streitgegenständlichen Ausnahmegenehmigung hat der Antragsgegner nicht nur von einer Individualisierung des zu entnehmenden Wolfes abgesehen, und zwar ungeachtet dessen, dass die der Schadensprogose zugrunde gelegten Rissvorfälle zumindest in einem Fall einem Wolfsindividuum aus dem „Schiffdorfer“ Rudel zugeordnet werden konnte. Er hat auch keine bloße Vollzugsregelung im Sinne der in der amtlichen Begründung des Gesetzentwurfes beschriebenen Fallkonstellation getroffen. Vielmehr hat der Antragsgegner ungeachtet des Umstandes, dass sich die Regelung des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG ausdrücklich nur auf die Mitglieder eines Wolfsrudels bezieht, die Entnahme von nicht individualisierten Wölfen aus zwei Wolfsrudeln gestattet.

Ob eine solche Erweiterung des Anwendungsbereiches des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG über ihren Wortlaut hinaus im Wege der Auslegung zulässig ist, ist nach Auffassung der Kammer mindestens sehr zweifelhaft. Eine solche Auslegung findet anders als die vorstehend dargestellte Fallkonstellation keinen hinreichenden Anhalt in den gesetzgeberischen Motiven. Auch der systematische Zusammenhang der Regelung mit der Vorschrift des § 45 Abs. 7 BNatSchG, aus dem sich der Charakter auch des § 45a Abs. 2 BNatSchG als Ausnahmevorschrift vom allgemeinen artenschutzrechtlichen Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG ergibt, sowie europarechtliche Vorgaben aus Art. 16 Abs. 1 FFH-Richtlinie gebieten eine restriktive Auslegung der Norm (vgl. auch Lau in Frenz/Müggenborg, BNatSchG, 3. Auflage 2021, § 45a Rn. 5; BeckOK UmweltR/Gläß 60. Ed.1.10.2021, BNatSchG § 45a Rn. 14).

Damit spricht bei summarischer Prüfung bereits Überwiegendes dafür, dass § 45a Abs. 2 BNatSchG auf die hier vorliegende Fallkonstellation von vorn herein nicht anwendbar ist.

Sofern man gleichwohl eine derartige erweiternde Auslegung des Anwendungsbereiches des § 45a Abs. 2 BNatSchG für den hier vorliegenden Fall einer Ausnahmegenehmigung für die Tötung nicht individualisierter Wolfsindividuen aus zwei Rudeln für zulässig erachten wollte, so wäre nach Überzeugung der Kammer jedenfalls zu fordern, dass die weiteren tatbestandlichen Voraussetzungen der §§ 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1, 45a Abs. 2 BNatSchG in Bezug auf beide von der Genehmigung erfassten Rudel vorliegen müssen.

Dies ist jedoch nicht der Fall.

Voraussetzung für die Anwendung des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG ist zunächst, dass die Voraussetzungen des § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG erfüllt sind.

Nach dieser Vorschrift können die zuständigen Naturschutzbehörden u.a. von dem artenschutzrechtlichen Tötungsverbot des § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG, dem auch der Wolf unterfällt, Ausnahmen zulassen, wenn dies zur Abwendung ernster landwirtschaftlicher Schäden erforderlich ist. Ausreichend ist dabei, dass ein erheblicher Schaden droht (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. November 2020 – 4 ME 199/20 –, juris).

Es ist somit eine Gefahrenprognose erforderlich, die ausgehend von bereits erfolgten Rissvorfällen die Einschätzung rechtfertigt, dass ein Wolf, bei dem das Überwinden von Schutzvorkehrungen zum erlernten und gefestigten Jagdverhalten gehört, bei ungehindertem Geschehensfortgang in naher Zukunft eine größere Zahl von Nutztieren reißen und dadurch erhebliche Eigentumsschäden verursachen wird. Die Vorschrift des § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG modifiziert die Anforderungen nach § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG dabei nur insofern, als bei der Schadensprognose nicht auf ein einzelnes als schadensverursachend identifiziertes Wolfsindividuum, sondern auf alle Wolfsindividuen aus einem als schadensverursachend identifizierten Wolfsrudel abzustellen ist. Sie entbindet die Naturschutzbehörde hingegen nicht von der Prüfung der weiteren Voraussetzungen aus den §§ 45 Abs. 7, 45a Abs. 2 BNatSchG, insbesondere nicht von der aus § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG folgenden Voraussetzung, dass die Entnahme eines Wolfes aus einem bestimmten Rudel zur Abwendung ernster landwirtschaftlicher Schäden erforderlich ist, und mithin nicht von der in einer Schadensprognose vorzunehmenden Prüfung, ob bei dem jeweiligen von der Abschussgenehmigung betroffenen Wolfsrudel ein im vorstehend dargelegten Sinne problematisches Jagdverhalten vorliegt und deshalb bei ungehindertem Geschehensfortgang in naher Zukunft zu erwarten ist, dass dieses Rudel eine größere Zahl von Nutztieren reißen und dadurch erhebliche Eigentumsschäden verursachen wird.

Nicht einzubeziehen in die Schadensprognose sind dabei Rissereignisse, bei denen die Weidetiere dem Wolf geradezu schutzlos ausgeliefert waren. In diesem Fall wäre nämlich nicht auszuschließen, dass es sich bei dem Riss um ein Zufallsereignis handelt, bei der ein oder mehrere Wölfe, die ansonsten ein unauffälliges Jagdverhalten zeigen, lediglich eine leichte Gelegenheit zum Beutemachen ausgenutzt haben. Das spricht dafür, dass ein Rissereignis nur dann in die Gefahrenprognose einbezogen werden kann, wenn für die betroffenen Nutztiere ein Mindestmaß an wolfsabweisendem Schutz gegeben war (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 24. November 2020 – 4 ME 199/20 –, juris).

Damit ein ernster Schaden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit prognostiziert werden kann, ist gemäß § 5 Abs. 1 NWolfVO eine mehrfache, mindestens aber zweimalige Überwindung der ordnungsgemäß errichteten und funktionstüchtig betriebenen wolfsabweisenden Schutzmaßnahmen für Weidetiere erforderlich.

Unter Zugrundlegung dieser rechtlichen Maßstäbe hat der Antragsgegner in seiner Schadensprognose im Ausgangspunkt zutreffend nur die in der Risstabelle (Seite 4-6 des Bescheides) unter den Ziffern 1759, 1757, 1722, 1710, 1647, 1511 und 1487 bezeichneten Nutztierrisse einbezogen, weil bei den anderen in der Risstabelle aufgeführten Rissvorfällen nach der naturschutzfachlichen Einschätzung des Antragsgegners ein hinreichender wolfsabweisender Herdenschutz bzw. ein selbstschutzfähiger Herdenverband nicht vorhanden war (vgl. die einleitenden Ausführungen des Antragsgegners zur Risstabelle, S. 4 des Bescheides).

Danach dürfte bei summarischer Prüfung die vom Antragsgegner angestellte Schadensprognose hinsichtlich des „Schiffdorfer“ Rudels nicht zu beanstanden sein. Gemäß der Risstabelle in dem angegriffenen Bescheid ist es nachgewiesen, dass Wölfe aus dem „Schiffdorfer“ Rudel im Zeitraum zwischen Februar 2021 und Oktober 2021insgesamt an drei Rissvorfällen beteiligt waren, die jeweils Rinder, also Großtiere betrafen. Insoweit liegt ein Entnahmegrund im Sinne des § 45 Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 BNatSchG vor; die fehlende Individualisierung des konkret schadensverursachenden Wolfes kann nach § 45a Abs. 2 Satz 1 BNatSchG durch den definierten engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang mit den erfolgten Rissereignissen ersetzt werden.

Anders verhält es sich aber hinsichtlich der Wölfe des „Garlstedter“ Rudels. Keines der vom Antragsgegner seiner Schadensprognose zugrunde gelegten Rissereignisse konnte hinreichend sicher einem Wolf aus dem „Garlstedter“ Rudel zugeordnet werden. Damit fehlt es aber an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für die Annahme, dass auch bei den Wolfsindividuen aus dem „Garlstedter“ Rudels das Überwinden von Schutzvorkehrungen zum erlernten und gefestigten Jagdverhalten gehört. Somit fehlt der Schadensprognose des Antragsgegners im Hinblick auf das „Garlstedter“ Rudel die Grundlage.

Etwas anders lässt sich auch nicht aus dem Vortrag des Antragsgegners in seiner Antragserwiderung, wonach sich aus der Risstabelle ergebe, dass die Wölfe aus beiden Rudeln bei weit mehr als den der Genehmigung zugrunde gelegten Rissvorfällen ein Mindestmaß an wolfsabweisenden Schutz überwunden hätten, herleiten. Der Antragsgegner hat insoweit nicht konkret dargelegt, bei welchem einzelnen Rissereignis dies der Fall gewesen sein soll. Zudem ist jedenfalls bei den Rissereignissen, die dem „Garlstedter“ Rudel zugeschrieben wurden, angesichts der Beschreibung in der Spalte „Herdenschutz“ schwerlich von einem Mindestmaß an wolfsabweisenden Herdenschutzmaßnahmen auszugehen. Schließlich muss sich der Antragsgegner entgegenhalten lassen, dass er diese Rissvorfälle ausweislich der Begründung des Bescheides selbst nicht für berücksichtigungsfähig gehalten hat.

Die Prognose, dass auch vom „Garlstedter“ Rudel eine Gefahr ernster landwirtschaftlicher Schäden droht, lässt sich entgegen der Ansicht des Antragsgegners entsprechend den vorstehenden Ausführungen zur Reichweite der Regelung aus § 45a Abs. 2 Satz1 BNatSchG auch nicht auf den in Ziffer 4 der Inhalts-/Nebenbestimmungen des Bescheides dargelegten engen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang in Anknüpfung an die zugeordneten Rissereignisse stützen.

Auf die weiteren zwischen den Beteiligten streitigen Rechtsfragen kommt es danach nicht entscheidungserheblich an.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Ziffer 1.2 und 1.5 Satz 2 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Fassung der am 31. Mai/1. Juni 2012 und am 18. Juli 2013 beschlossenen Änderungen. Eine Halbierung des Streitwertes ist nicht vorzunehmen, da die Entscheidung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren die Hauptsache vorwegnimmt (vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juni 2020 – 4 ME 116/20 –, juris).