Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 28.02.2005, Az.: 13 A 123/05

Alleinerziehende; angemessene Zeit; Ausbildungsförderung; Förderungshöchstdauer; Kindererziehung; Nachholzeit; Regelstudienzeit; Studienabschlussbeihilfe; Studienverzögerung; Studium; Verlängerungsgrund; Zuschuss; Überschreitung der Förderungshöchstdauer

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
28.02.2005
Aktenzeichen
13 A 123/05
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 50701
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

"Angemessene Zeit" i.S.v. § 15 Abs. 3 Nr. 5 BAföG

Tatbestand:

1

Die am 20. September 1962 geborene Klägerin ist die alleinerziehende Mutter von S. (geb. 11. September 1990) und T. (geb. am 8. Juni 1995). Die Klägerin schloss ihr im Wintersemester 2001/2002 begonnenes Studium des Diplom-Studiengangs Sozialwesen an der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Emden (Standort Emden) Anfang März 2005 erfolgreich ab.

2

Die Klägerin beantragte unter dem 19. Juni 2004 ihr Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus für das kommende Wintersemester 2004/2005 zu leisten, da sie infolge der Betreuung und Erziehung ihrer Kinder ihr Studium nicht in der Regelstudienzeit von sechs Semestern zu Ende führen könne. Dem Antrag der Klägerin war eine „Prognose über den zukünftigen Studienverlauf“ des „BAföG-Beauftragten“ des Fachbereichs Sozialwesen der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Wilhelmshaven in Emden vom 15. Juni 21005 beigefügt. In ihr heißt es u. a.:

3

„Im folgenden Wintersemester strebt sie (die Klägerin) die letzte Prüfungsleistung an und wird sich daraufhin für ihre Diplom-Arbeit anmelden. Aller Voraussicht nach wird Frau F. ihr Studium zum Ende des Wintersemesters 2004/05 erfolgreich absolviert haben.“

4

Das für die Beklagte handelende Studentenwerk Oldenburg anerkannte durch Bescheid vom 12. Juni 2004, dass die Klägerin die Förderungshöchstdauer in Folge der Pflege und Erziehung eines Kindes bis zum zehn Jahren (§ 15 Abs. 3 Nr. 6 BAföG) überschritten habe, und bewilligte der Klägerin deshalb Leistungen der Ausbildungsförderung für die Monate September und Oktober 2004.

5

Die Klägerin begründete ihren Widerspruch vom 12. August 2004 damit, dass ihr ein Semester weitere Ausbildungsförderung für die Pflege und Erziehung eines Kindes bis zum zehn Jahren zustehe. Sie müsse noch zwei weitere Prüfungsleistungen absolvieren und hoffe, dass sie ihr Studium bis zum Ende des Wintersemesters 2004/2005 abschließen könne.

6

Die Klägerin beantragte unter dem 27. September 2004 beim Studentenwerk Oldenburg, ihr gemäß § 15 Abs. 3 a BAföG eine Studienabschlussbeihilfe in Form eines verzinslichen Bankdarlehens unter dem Vorbehalt, dass ihr Widerspruch vom 9. August 2004 erfolglos bleibe, zu bewilligen.

7

Die Beklagte wies den Widerspruch der Klägerin durch Widerspruchsbescheid vom 12. November 2004 als unbegründet zurück. Der Auszubildende habe Anspruch auf Ausbildungsförderung für eine angemessene Zeit, wenn er u. a. wegen der Betreuung eines Kindes bis zum zehn Jahren die Ausbildung nicht innerhalb der Förderungshöchstdauer abschließen könne. Die Klägerin habe entsprechend dem positiven Leistungsnachweis vom 18. August 2003 die bis zum Ende des vierten Fachsemesters üblichen Leistungen bis zum 31. Januar 2003 erbracht. Sie könne sich daher nur darauf berufen, dass sie ihren Sohn T. im Bewilligungszeitraum von Oktober 2003 bis August 2004 in neun Monaten des 9. Lebensjahres und in zwei Monaten des 10. Lebensjahres betreut habe. Allein die Kinderbetreuung im 8. bis 10. Lebensjahres rechtfertige insgesamt eine Weiterförderung um sechs Monate über die Förderungshöchstdauer hinaus, also zwei Monate pro Lebensjahr. Da bei der Klägerin keine dreijährige Zeit der Betreuung, sondern lediglich eine Betreuungszeit im Umfang von elf Monaten vorliege, sei eine Förderung für weitere zwei Monate angemessen. Angemessen sei zwar immer die Zeit der Überschreitung, die von einer zuständigen Stelle vorgeschrieben werde. Die „Prognose...“ des BAföG-Beauftragten vom 15. Juni 2004 sei in diesem Sinne aber nicht zwingend.

8

Das Studentenwerk Oldenburg gewährte der Klägerin durch Bescheid vom 17. November 2004 Ausbildungsförderung für die Zeit vom 1. November 2004 bis zum 28. Februar 2005 darlehensweise als Studienabschlusshilfe.

9

Die Klägerin hat am 13. Dezember 2004 unter Ergänzung und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens Klage erhoben und beantragt sinngemäß,

10

die Beklagte zu verpflichten, ihr für die Zeit vom 1. November 2004 bis zum 28. Februar 2005 für ihr Studium im Diplom-Studiengang Sozialwesen (FH) an der Fachhochschule Oldenburg/Ostfriesland/Emden (Standort Emden) Ausbildungsförderung als Zuschuss zu leisten, und den Bescheid des Studentenwerks Oldenburg vom 12. Juli 2004 und den Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 12. November 2004 aufzuheben, soweit sie dem entgegen stehen.

11

Die Beklagte beantragt unter Verteidigung der angefochtenen Bescheide und Vertiefung ihres bisherigen Vorbringens,

12

die Klage abzuweisen.

13

Wegen der weiteren Einzelzeiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten und des Studentenwerks Oldenburg Bezug genommen; sie waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

14

Die zulässige Klage ist begründet. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Leistungen der Ausbildungsförderung für das gesamte Wintersemester 2004/2005 als Zuschuss zu. Insoweit sind der Bescheid des Studentenwerks Oldenburg vom 12. Juli 2004 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 12. November 2004 rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).

15

Zwischen den Beteiligten ist zu Recht unstreitig, dass die Klägerin die Voraussetzungen von § 15 Abs. 3 Nr. 5 BAföG (Pflege und Erziehung eines Kindes bis zu zehn Jahren führen zur Überschreitung der Förderungshöchstdauer) erfüllt, was zur Folge hat, dass der Klägerin für eine angemessene Zeit über die Förderungshöchstdauer hinaus Ausbildungsförderung zu leisten ist. Zwischen den Beteiligten ist lediglich strittig, welche Zeit im Einzelfalle der Klägerin als angemessen anzusehen ist.

16

„Angemessene Zeit“ i.S.v. § 15 Abs. 3 BAföG ist ein unbestimmter Rechtsbegriff, der vollständig der gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Die „angemessene Zeit“ ist in erster Linie danach zu bestimmen, welche Verzögerung durch den Verlängerungsgrund adäquat verursacht ist. Indes ist dieser Zeitverlust nicht das absolute Maß für die „Nachholzeit“, die dem Auszubildenden einzuräumen ist. Dies folgt daraus, dass ein Kausalzusammenhang zwischen dem gesetzlich normierten Verlängerungsgrund und der Studienverzögerung sowie der dadurch entstandenen Überschreitung der Förderungshöchstdauer besteht. Angemessen ist demzufolge immer auch die Zeit, die dem Auszubildenden von anderer Seite zwingend vorgegeben wird, beispielsweise, wenn vom Prüfungsamt eine bestimmte Zahl von Wiederholungssemestern bindend auferlegt wird. Das Amt für Ausbildungsförderung dürfte nicht nachprüfen können, ob diese Zeit wirklich erforderlich war. Ein ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal von § 15 Abs. 3 BAföG ist nach herrschender Meinung weiter die Annahme, dass der Ausbildende in der angemessenen Nachholzeit den berufsqualifizierenden Abschluss eines Studiums erreicht. Rechtfertigt der Auszubildende nach seinem Leistungsstand diese Erwartung nicht oder steht zur Zeit der gerichtlichen Entscheidung bereits fest, dass er innerhalb der durch den Verlängerungsgrund gerechtfertigten angemessenen Nachholzeit das Studium nicht erfolgreich abgeschlossen hat, so steht ihm auch diese zusätzliche Förderungsdauer nicht zu. Das Amt für Ausbildungsförderung muss indes bei seiner Prognose gemäß § 15 Abs. 3 BAföG auch immer erwägen, ob der Zeitraum, für den die Gründe gemäß § 15 Abs. 3 BAföG eine weitere Förderung rechtfertigen, bis zum Beginn einer Studienabschlussförderung gemäß § 15 Abs. 3 a BAfög reicht. Dabei ist weiter zu berücksichtigen, dass nach der Rechtsprechung (BVerwG FamRZ 2000, 125) Ansprüche auf Ausbildungsförderung gemäß § 15 Abs. 3 BAföG und gemäß § 15 Abs. 3 a BAföG kumulieren können. Eine weitere Förderung nach § 15 Abs. 3 BAföG ist daher nicht im Hinblick auf die Möglichkeit der Studienabschlussförderung gemäß § 15 Abs. 3 a BAföG einzuschränken.

17

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist hier der Klägerin eine Förderung über die Förderungshöchstdauer für das gesamte Wintersemester 2004/2005 zu leisten. Nur so ist die „Nachholzeit“ für sie im Einzelfall so bemessen, dass sie das Versäumte nachholen kann. Dabei sind die Zeit von Lehrveranstaltungen und die Termine von Prüfungen zu berücksichtigen. Unter Zugrundelegung der „Prognose...“ des BAföG-Beauftragten dürfte es zu Beginn des Prognosezeitraums überwiegend wahrscheinlich sein, dass die Klägerin Rückstände, die durch die Pflege und Erziehung ihres Sohnes T. bis zur Vollendung seines 10. Lebensjahres im Hauptstudium entstanden waren, mit der weiteren Ausbildungsförderung für das Wintersemester 2004/2005 ausgeglichen sein würden. Diese Prognose hat sich durch den tatsächlichen Verlauf des Studiums der Klägerin bestätigt. Nach dem oben Ausgeführten ist auch dieser Umstand bei der Entscheidung des Gerichts zu berücksichtigen. Dabei ist für das Gericht weiter maßgeblich, dass es der Klägerin nach ihrem unwidersprochenen Vortrag gar nicht möglich gewesen ist, die für die Zulassung zur Diplom-Prüfung erforderlichen Prüfungsleistungen in der Zeit bis zum 31. Oktober 2004 abzulegen. Hinzu kommt, dass auch die Anfertigung der Diplom-Arbeit und das Ablegen der mündlichen Prüfung von vornherein nicht in der Zeit bis zum 31. Oktober 2004, sondern lediglich unter Inanspruchnahme des gesamten Wintersemesters für die Klägerin abzulegen waren. Insofern waren diese zeitlichen Abläufe der Klägerin von der Organisation des Studiums vorgegeben. Diese Umstände waren auch bei der Bemessung der „angemessenen Zeit“ der Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer hinaus zwingend zu berücksichtigen. Diese weitere Förderung war nur sinnvoll, wenn sie der Klägerin einen Ausgleich der Nachteile im Studium durch die Pflege und Erziehung eines Kindes bis zu zehn Jahren und den Abschluss des Studiums bei seiner unverzüglichen Durchführung ermöglichten. Letzteres war aber bei einer Förderung über die Förderungshöchstdauer hinaus lediglich für die ersten beiden Monate des Wintersemesters 2004/2005 nicht zu erreichen. Dies kann - nach dem oben Ausgeführten - auch nicht dadurch umgangen werden, dass der Klägerin Studienabschlussförderung gemäß § 15 Abs. 3 a BAföG geleistet worden ist (zu alledem s. Rothe/Blanke, BAföG, 5. Aufl., 21. Lieferung, Januar 2003, § 15 Rz 16 ff.).

18

Der Anspruch der Klägerin, dass ihr Ausbildungsförderung über die Förderungshöchstdauer gemäß § 15 Abs. 3 Nr. 5 BAföG zuschussweise gewährt wird, ergibt sich aus § 17 Abs. 2 Satz 2 Nr. 2 BAföG.

19

Das Gericht sieht sich an dieser Entscheidung auch nicht dadurch gehindert, dass der Bescheid des Studentenwerks Oldenburg vom 17. November 2004 über die Studienabschlussförderung der Klägerin (in Form eines privatrechtlichen, verzinslichen Bankdarlehens nach § 18 c BAföG) bestandskräftig geworden ist. Die Klägerin hat diese Förderung von vornherein unter den Vorbehalt beantragt, dass ihr Ausbildungsförderung als Zuschuss zu leisten ist, falls ihr Rechtsbehelf gegen den Bescheid des Studentenwerks Oldenburg vom 5. Juli 2004 Erfolg hat. Der Anspruch der Klägerin, ihr Ausbildungsförderung für das gesamte Wintersemester 2004/2005 trotz der Bestandskraft des Bescheides des Studentenwerks Oldenburg vom 17. November 2004 als Zuschuss zu leisten, ergibt sich ergänzend auch aus § 53 Satz 1 Nr. 1 BAföG. Danach ist der Bescheid zugunsten des Auszubildenden vom Beginn des Monats an zu ändern, in dem sich ein für die Leistung der Ausbildungsförderung maßgeblicher Umstand ändert, rückwirkend jedoch höchstens für die drei Monate vor dem Monat, in dem die Änderung dem Amt mitgeteilt wurde. Diese Voraussetzungen sind hier aufgrund dieses Urteils hinsichtlich des Bescheides des Studentenwerks Oldenburg vom 17. November 2004 erfüllt, soweit dadurch der Klägerin Ausbildungsförderung für die Zeit vom 1. November 2004 bis zum 28. Februar 2005 nicht als Zuschuss geleistet worden ist.