Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 15.03.2004, Az.: 3 A 653/01
Abbruch; Behandlung; Behandlungsabbruch; Dauer; Einrichtung; Einrichtungsaufnahme; Entlassung; Entschluss; Fernbleiben; formale Entlassung; Fortsetzung; gewöhnlicher Aufenthalt; Hilfeempfänger; Kostenerstattung; Kostenerstattungsanspruch; Rückkehr; Unterbrechung; Verlassen; Wiederaufnahme; willentlicher Entschluss; Willentlichkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 15.03.2004
- Aktenzeichen
- 3 A 653/01
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 51056
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 103 Abs 3 BSHG
- § 97 Abs 2 S 1 BSHG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein Verlassen der Einrichtung durch den Hilfeempfänger im Sinne von § 103 Abs. 3 BSHG setzt auf der Seite des Hilfeempfängers voraus, dass sich dieser willentlich dazu entschließt, die Behandlung in der Einrichtung abzubrechen und nicht mehr dorthin zurückzukehren. Ein Verlassen der Einrichtung liegt nicht vor, wenn der Hilfeempfänger der Einrichtung - z. B. auf Grund eines krankheitsbedingten Rückfalls - für ein oder mehrere Tage fernbleibt, nach den Gesamtumständen des Einzelfalls aber anzunehmen ist, dass seine Behandlung in der Einrichtung grundsätzlich fortgesetzt werden soll. Sind diese Voraussetzungen gegeben, ist weder maßgeblich, wie lange der Hilfeempfänger der Einrichtung ferngeblieben ist, noch, ob er - z. B. aus Haftungsgründen - von der Einrichtung formal entlassen und nach seiner Rückkehr wieder aufgenommen worden ist.
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über die Erstattung von für Klaus D. aufgewandte Sozialhilfekosten.
Der Hilfeempfänger sprach erstmals am 27.05.1992 bei der Landeshauptstadt Hannover vor, er bezog zum damaligen Zeitpunkt Arbeitslosenhilfe, später Arbeitslosengeld. Er befand sich vom 17.11. bis zum 30.12.1994 in einer Langzeittherapie in Gütersloh. Bis zum 15.02.1995 hielt er sich wieder in Hannover und Umgebung auf und übernachtete teilweise in Jugendherbergen, bei Bekannten oder draußen. In dieser Zeit war er mehrfach pro Woche im Gespräch mit dem Sozialamt der damals zuständigen Landeshauptstadt Hannover. Am 15.02.1995 wurde er in die Fachabteilung Bad Rehburg des LKH Wunstorf aufgenommen. Eine erste Unterbrechung erfolgte am 11.04.1995, am Folgetag wurde er wieder aufgenommen und - formell - am 18.05.1999 erneut entlassen. Der Hilfeempfänger hatte an diesem Tag einen Zahnarzttermin wahrgenommen. Danach trank er wieder Alkohol, weil er lange auf den Bus zurück in die Klinik warten musste. Er brach den Rückweg daraufhin ab, hielt sich zwei Tage in Steinhude auf und fuhr dann nach Hannover. Die Nacht vom 21. auf den 22.05. verbrachte er im Freien und meldete am 22.05.1995 wieder bei der Landeshauptstadt Hannover. Er akzeptierte den Vorschlag, mit dem Taxi direkt in die Fachabteilung Bad Rehburg zurück zu fahren, wo er am selben Tag wieder aufgenommen wurde. Eine weitere Unterbrechung erfolgte am 07.06.1995, die wieder am Folgetag mit seiner Wiederaufnahme endete. Vom 08.01.1996 bis zum 15.09.1999 befand sich der Hilfeempfänger stationär in der Diakonie Freistatt im Landkreis Diepholz. Ab dem 15.09.1999 wurde er von dem Verein für Persönliche Hilfen GmbH Ambulantes Betreutes Wohnen im Landkreis Diepholz aufgenommen. Hierfür leistete der Kläger Herrn D. Eingliederungshilfe für Behinderte vom 15.09.1999 bis zum 03.04.2000 in Höhe von insgesamt 6.098,43 DM (= 3.118,07 €).
Am 16.11.1999 beantragte der Kläger hierfür Kostenerstattung bei der Landeshauptstadt Hannover. Mit Schreiben vom 01.08.2000 lehnte diese den Antrag ab. Der Hilfeempfänger habe vor seinem letzten Eintritt in die Einrichtung seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in der Landeshauptstadt Hannover gehabt. Erst seit dem 22.05.1995 halte der Hilfeempfänger sich ununterbrochen in Einrichtungen auf. Vom 18.05. bis zum 22.05.1995 habe eine Unterbrechung des Einrichtungsaufenthaltes stattgefunden. Auf diesen Zeitraum müsse bei der Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthaltes abgestellt werden. In dieser Zeit habe der Hilfeempfänger keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Landeshauptstadt Hannover begründet, da er sich lediglich zwei Tage im Bereich der Landeshauptstadt Hannover aufgehalten habe. Auf die früheren Aufenthaltsverhältnisse komme es nicht an.
Am 14.02.2001 hat der Kläger Klage erhoben. Er macht geltend, nach einer Gesamtbeurteilung der Aufenthaltsverhältnisse des Hilfeempfängers in den letzten Jahren vor der Aufnahme in der Diakonie Freistatt ergebe sich eindeutig ein gewöhnlicher Aufenthalt in der Landeshauptstadt Hannover. Die Beklagte habe Herrn D. selbst nicht dem Personenkreis des § 1 DVO zu § 72 BSHG zugeordnet. Es könnten nicht die letzten Monate vor der Heimaufnahme allein für sich betrachtet werden.
Der Kläger beantragt,
die Anerkennung der Erstattungspflicht nach § 103 Abs. 3 S. 1 BSHG für die im Rahmen des betreuten Wohnens des Herren D. in der Zeit vom 15.09.1999 bis 03.04.2000 entstandenen Kosten in Höhe von 6.098,42 DM.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es komme gem. § 103 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 97 Abs. 2 S. 1 und 2 BSHG darauf an, wo der Hilfeempfänger bei oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme in die Einrichtung seinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt habe. Der Hilfeempfänger habe sich erst ab dem 22.05.1995 ununterbrochen in Einrichtungen aufgehalten. Insofern sei auf diesen Zeitraum abzustellen. In dem Zeitraum vom 18. bis 22.05.1995 habe der Hilfeempfänger keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet, da er sich in den vier Tagen an verschiedenen Orten aufgehalten und an keinem Ort Fuß gefasst habe. Da auch der Aufenthalt in einer Einrichtung gem. § 109 BSHG keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründe, habe der Hilfeempfänger in den zwei Monaten vor der Aufnahme in die Einrichtung am 22.05.1995 ebenfalls keinen gewöhnlichen Aufenthalt gehabt.
Entscheidungsgründe
Die Klage , über die im Einverständnis der Beteiligten gem. § 101 VwGO ohne mündliche Verhandlung entschieden werden konnte, ist nach Auslegung des Klageantrages als allgemeine Leistungsklage zulässig und begründet.
Der Klageantrag richtet sich gem. § 88 VwGO nach dem Begehren des Klägers. Dieses ist hier erkennbar auf die Erstattung der bereits bezifferten Kosten gerichtet. Soweit der Kläger wörtlich lediglich die Anerkennung der Erstattungspflicht beantragt, würde einer solchen Klage das Rechtsschutzbedürfnis fehlen, da das eigentliche Ziel der Kostenerstattung durch Erheben einer allgemeinen Leistungsklage einfacher zu erreichen ist.
Die Klage ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Kostenerstattung gem. § 103 Abs. 3 BSHG.
Diese Norm setzt voraus, dass ein Hilfeempfänger eine Einrichtung verlässt und innerhalb eines Monats danach im Bereich des örtlichen Trägers, in dem die Einrichtung liegt, der Sozialhilfe bedarf. Der Hilfeempfänger hat am 15.09.1999 die Einrichtung Diakonie Freistatt, in der er stationär behandelt wurde, verlassen und bedurfte im Zuständigkeitsbereich des Klägers, in dem diese Einrichtung liegt, der Eingliederungshilfe gem. §§ 39 ff. BSHG.
Gem. § 97 Abs. 2 S. 1 BSHG richtet sich der Anspruch gegen den Träger der Sozialhilfe, in dessen Bereich der Hilfeempfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt der Aufnahme oder in den zwei Monaten vor der Aufnahme zuletzt hatte. Gem. § 97 Abs. 2 S. 2 BSHG ist bei einem Wechsel von einer Einrichtung in eine andere der gewöhnliche Aufenthalt entscheidend, den der Hilfeempfänger bei der ersten Aufnahme in die Einrichtung hatte. Da der Hilfeempfänger unmittelbar von der Außenstelle des Landeskrankenhauses in die Diakonie Freistatt gewechselt ist, kommt es hier auf die Verhältnisse zum Zeitpunkt seiner Aufnahme in die Klinik in Rehburg-Loccum an.
Der Hilfeempfänger hatte zum Zeitpunkt der ersten Aufnahme in die Einrichtung am 15.02.1995 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Landeshauptstadt Hannover. Dies ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Auf diesen Zeitpunkt ist zur Beurteilung der Kostenerstattungspflicht abzustellen. Seit diesem Zeitpunkt befand er sich bis zum 15.09.1999 ohne sozialhilferechtlich relevante Unterbrechungen in Einrichtungen. Zwar wurde er am 11.04., 18.05. und 07.06.1995 jeweils förmlich aus der Fachabteilung Bad Rehburg entlassen. Darin ist aber sozialhilferechtlich keine Unterbrechung des Einrichtungsaufenthaltes zu sehen. Der Hilfeempfänger wurde jeweils entweder am nächsten Tag oder nach wenigen Tagen wieder von der Einrichtung aufgenommen und weiter betreut. Dieser Betrachtung entspricht auch das tatsächliche Verwaltungshandeln der Beklagten, die nicht jeweils erneut über die Hilfegewährung entschied, sondern - was allein den konkreten Lebensumständen entspricht - offenkundig von einem Fortsetzen der bewilligten Hilfe ausging.
Eine Unterbrechung des Aufenthaltes ist auch durch die Abwesenheit des Hilfeempfängers vom 18. bis 22.05.1995 nicht eingetreten. Zu bejahen wäre dies dann, wenn der Hilfeempfänger entweder bereits beim Verlassen der Einrichtung oder zumindest später während der Zeit außerhalb der Einrichtung den Entschluss gefasst hätte, die Behandlung abzubrechen und nicht nach Rehburg zurückzukehren. Nur in einem solchen Fall läge ein willensgesteuertes Verlassen der Einrichtung vor. Der Sachverhalt stellt sich hier aber so dar, dass der Hilfeempfänger nach seinem Zahnarztbesuch in die Klinik zurückkehren wollte. Der Umstand, lange auf den Bus warten zu müssen, sorgte für einen Rückfall, der seinerseits die Folge hatte, dass er aufgrund seiner Alkoholkrankheit nicht mehr in der Lage war, in die Einrichtung zurückzukehren. Dass er grundsätzlich zur Fortsetzung seines Aufenthalts bereit war, zeigt sich daran, dass er bei der Beklagten Hilfe suchte und sich von dieser sofort zurück nach Bad Rehburg zurückbringen ließ.
Eine andere Auslegung der Normen würde dem Gesetzeszweck hier nicht entsprechen. Der Gesetzgeber wollte durch die Regelung des § 103 Abs. 3 BSHG die Gemeinden, in denen sich Einrichtungen befinden, schützen. Dass Bewohner einer Einrichtung diese vorübergehend verlassen und nicht pünktlich zurückkommen, ist gerade bei der Behandlung von Suchtkranken kein Ausnahmefall, sondern gehört zum Krankheitsbild. Die formelle Entlassung bei absprachewidrigem Fernbleiben hat im Wesentlichen Haftungsgründe gegenüber dem Patienten und Abrechnungsgründe gegenüber dem Kostenträger. Die Kostenerstattungsregelung setzt aber erkennbar an der Behandlung des Hilfeempfängers an, die hier als Einheit fortgesetzt wurde. Die Beklagte knüpft selbst nicht an der formellen Unterbrechung durch Entlassung und Wiederaufnahme an. Ansonsten hätte sie eine Unterbrechung bereits am 11.04.1995 angenommen. Für die dem Hilfeempfänger gewährte Hilfe, macht es jedoch keinen relevanten Unterschied, ob die Abwesenheit einen oder wie hier vier Tage beträgt. Führte jeder kurzzeitige Rückfall eines süchtigen Patienten zu einer Unterbrechung der vorgesehenen Kostenerstattungskette, wäre der gesetzgeberisch gewollte Schutz für Orte mit Suchtbehandlungseinrichtungen entgegen seinem Zweck wesentlich beschränkt. Es ist nicht ersichtlich, dass der Gesetzgeber für solche Fälle die Kostenlast regelmäßig im Ergebnis den überörtlichen Trägern der Sozialhilfe aufbürden wollte.
Da die Beklagte unterlegen ist, hat sie gem. § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 709 S. 2 ZPO.