Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 15.06.2011, Az.: L 11 AS 428/11 B
Einbeziehung eines weiteren Bescheides in ein wegen Verfristung des Widerspruchs entscheidungsreifes Widerspruchsverfahren ist nicht verfahrensökonomisch; Zulässigkeit der Einbeziehung eines weiteren Bescheides gem. § 86 SGG bei einem wegen Verfristung unzulässigen Widerspruch im sozialrechtlichen Verwaltungsverfahren
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 15.06.2011
- Aktenzeichen
- L 11 AS 428/11 B
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2011, 23668
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2011:0615.L11AS428.11B.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Braunschweig - 29.03.2011 - AZ: 24 AS 3901/08
Rechtsgrundlage
- § 86 SGG
Redaktioneller Leitsatz
Die Einbeziehung einer materiell-rechtlichen Prüfung eines weiteren Bescheides in ein Widerspruchs- oder Klageverfahren, das wegen Verfristung des Widerspruchs entscheidungsreif ist, widerspricht jedoch jeglicher Verfahrens- oder Prozessökonomie. [Amtlich veröffentlichte Entscheidung]
Tenor:
Die Beschwerde gegen den Beschluss des Sozialgerichts Braunschweig vom 29. März 2011 wird zurückgewiesen.
Kosten sind für das Beschwerdeverfahren nicht zu erstatten.
Gründe
I. Die Klägerinnen und Beschwerdeführerinnen wenden sich gegen den Beschluss des Sozialgerichts (SG) Braunschweig vom 29. März 2011, mit dem die Gewährung von Prozesskostenhilfe (PKH) für ihr vor dem SG geführtes Klageverfahren S 24 AS 3901/08 abgelehnt worden ist.
Die Klägerinnen stehen bereits langjährig im Bezug von Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch (SGB II). Für die Zeit vom 1. Januar bis 30. Juni 2008 bewilligte der Beklagte SGB II-Leistungen in Höhe eines monatlichen Gesamtbetrages von zunächst 983,71 Euro (Bescheid vom 30. November 2007). Später wurden die Leistungsbeträge für Teilzeiträume nachträglich geändert (vgl. im Einzelnen: Bescheide vom 30. April und 12. Juni 2008).
Mit Schreiben vom 23. September 2008 (Eingang beim Beklagten am 1. Oktober 2008) legten die Klägerinnen Widerspruch gegen den Bescheid vom 30. November 2007 ein. Der Beklagte wies diesen Widerspruch als verfristet und somit unzulässig zurück. Außerdem wurde eine Kostenerstattung für das Vorverfahren abgelehnt und die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes für nicht notwendig erachtet (Widerspruchsbescheid vom 9. Dezember 2008). Der von den Klägerinnen in dem selben Schreiben vom 23. September 2008 gestellte Antrag auf Überprüfung des Bescheides vom 30. November 2007 nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) wurde vom Beklagten in einem gesonderten Verwaltungsverfahren beschieden (vgl. hierzu den vorliegend nicht streitgegenständlichen Bescheid vom 19. Mai 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. Januar 2011).
In dem gegen den Bescheid vom 30. November 2007 in der Gestalt der Änderungsbescheide vom 30. April und 12. Juni 2008 sowie des Widerspruchsbescheides vom 9. Dezember 2008 vor dem SG geführten Klageverfahren haben die Klägerinnen geltend gemacht, dass für den streitbefangenen Leistungszeitraum unter dem 3. November 2008 ein weiterer Bescheid ergangen sei (teilweise Aufhebung der Leistungsbewilligung für die Zeit vom 1. Februar bis 31. Mai 2008 - Erstattungsforderung von 623,20 Euro). Dieser sei Gegenstand des Verfahrens geworden, so dass der Widerspruch nicht verfristet sei. Zu der Frage, wann die Bescheide vom 30. November 2007, 30. April und 12. Juni 2008 den Klägerinnen zugegangen seien, sei die zuständige Mitarbeiterin des Beklagten zeugenschaftlich zu vernehmen.
Das SG hat den erst am Tag der mündlichen Verhandlung vor dem SG gestellten PKH-Antrag mangels hinreichender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung abgelehnt (Beschluss vom 29. März 2011; zugestellt an die Klägerinnen am 7. April 2011). Es hat zur Begründung auf das in der Hauptsache am 8. Februar 2011 ergangene klagabweisende Urteil verwiesen, wonach die Bescheide vom 30. November 2007, 30. April und 12. Juni 2008 gem. der Zugangsfiktion nach § 37 Abs 2 SGB X als am dritten Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben gelten. An einem Zugang der Bescheide spätestens am jeweils dritten Tag nach Aufgabe zur Post beständen keine Zweifel, da die Klägerinnen einen abweichenden Geschehensablauf nicht nachvollziehbar dargelegt hätten. Entgegen der Auffassung der Klägerinnen sei der nach Einlegung des Widerspruchs erlassene Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 3. November 2008 nicht gem. § 86 Sozialgerichtsgesetz (SGG) Verfahrensgegenstand geworden. Diese Vorschrift finde keine Anwendung, weil der ursprünglich eingelegte Widerspruch bereits wegen Verfristung unzulässig gewesen sei. Über den Antrag auf Verurteilung des Beklagten zur Erstattung von 100 % der Kosten des Vorverfahrens sei nicht gesondert zu entscheiden, sondern in der sich auch auf die Kosten des Vorverfahrens erstreckenden Kostenentscheidung des Urteils. Über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren sei im Kostenfestsetzungsverfahren durch den Urkundsbeamten zu entscheiden.
Gegen die Ablehnung von PKH richtet sich die am 2. Mai 2011 erhobene und inhaltlich nicht näher begründete Beschwerde der Klägerinnen. Mit dem selben Schriftsatz haben die Klägerinnen Berufung gegen das Urteil vom 29. März 2011 eingelegt (L 11 AS 427/11).
II. Die form- und fristgerecht eingelegte Beschwerde ist zulässig, jedoch unbegründet. Das SG hat die Gewährung von PKH zutreffend wegen fehlender Erfolgsaussicht der Rechtsverfolgung abgelehnt (vgl. zu dieser Tatbestandsvoraussetzung: § 73a Sozialgerichtsgesetz in Verbindung mit § 114 ZivilprozessordnungZPO).
Auf der Grundlage des gegenwärtigen Sach- und Streitstandes teilt der Senat die Rechtsauffassung des SG, wonach die Zugangsfiktion des § 37 Abs 2 SGB X auch für die Bescheide vom 30. November 2007, 30. April und 12. Juni 2008 Anwendung findet. Zur Begründung verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen gem. § 142 Abs 2 S 3 SGG vollinhaltlich auf den angefochtenen Beschluss sowie die dort in Bezug genommenen Seiten 4 und 5 des Urteils vom 8. Februar 2011 (S 24 AS 3901/08). Dementsprechend haben der Beklagte und das SG den erst am 1. Oktober 2008 eingelegten Widerspruch zutreffend als verfristet angesehen. Den Klägerinnen war eine neue Widerspruchsfrist auch nicht dadurch eröffnet, dass der Beklagte nach Einlegung des Widerspruchs den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 3. November 2008 erlassen hat. Denn der Senat teilt auch insoweit die Rechtsauffassung des SG, wonach im Falle eines bereits wegen Verfristung unzulässigen Widerspruchs zeitlich nachfolgende Bescheide nicht gem. § 86 SGG Gegenstand des Widerspruchsverfahrens werden (vgl. Hintz in: Beck'scher Online-Kommentar Sozialrecht, Stand 1.03.2011,§ 86 SGG, Rn 3; Zeihe, SGG, Stand: 2005, § 86 Rn 6b). Der Gegenauffassung (etwa: Leitherer in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 9. Auflage 2008, § 86 Rn 6b) vermag der Senat nicht zu folgen. Schließlich dient § 86 SGG der Verfahrensökonomie (vgl. hierzu etwa: BSG, Urteil vom 5. Juli 2005 - B 2 U 32/03 R, SozR 4-2700 § 157 Nr 2, Rn 20; Hintz, aaO., Rn 1). Die Einbeziehung einer materiell-rechtlichen Prüfung eines weiteren Bescheides in ein Widerspruchs- oder Klageverfahren, das wegen Verfristung des Widerspruchs entscheidungsreif ist, widerspricht jedoch jeglicher Verfahrens- oder Prozessökonomie. Dies gilt im vorliegenden Fall umso mehr, weil die Klägerinnen sich weder im Widerspruchsverfahren noch mit der Klageschrift vom 30. Dezember 2008 gegen den Bescheid vom 3. November 2008 gewandt haben. Dieser Bescheid ist vielmehr erstmals mit Schriftsatz vom 12. April 2010, somit erst mehr als 1,5 Jahre nach Erlass des Bescheides und nach Klageerhebung in das Verfahren eingeführt worden.
Über den geltend gemachten Kostenerstattungsanspruch hat das SG zutreffend im Kostentenor entschieden, der angesichts der Erfolglosigkeit der Klage inhaltlich keinerlei Bedenken begegnet. Eine Entscheidung über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren hat das SG rechtsfehlerfrei dem Kostenfestsetzungsverfahren nach § 197 SGG vorbehalten (vgl hierzu: Leitherer, aaO., § 193 Rn 5).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 127 Abs 4 ZPO.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).